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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aus
scheinet aber, daß ein Mensch, der in eine gewisse
Leidenschaft gesetzt ist, sie durch viel kleine, niemals
deutlich zu merkende Kennzeichen äußere, die, zu-
sammen genommen, den wahren Ausdruk der Na-
tur ausmachen. Alles geht mechanisch ohne un-
fer Bewußtseyn zu. Da uns nun alle die Kräfte,
wodurch jede Muskel des Leibes gezogen wird, wenn
wir gewisse Leidenschaften fühlen, unbekannt sind, so
kann der Vorsatz zu ihrer Würkung nichts beytra-
gen. Es giebt keine Theorie, nach welcher wir un-
serm Gesichte die Traurigkeit einprägen können.
Sind wir aber würklich traurig, so setzt sich alles
von selbst in die gehörige Gestalt.

Wir scheuen uns also nicht, gegen das Ansehen
eines Meisters in der Kunst den Schauspielern zu
empfehlen, daß sie sich unauf hörlich befleißen sollen,
sich in alle Arten der Empfindungen zu setzen. Fin-
den sie ihre Seele nicht weich genug, mit dem Wei-
nenden zu weinen, mit dem Zornigen aufgebracht
zu seyn, so thun sie wol, wenn sie solche Rolen, für
die sie das nöthige Gefühl nicht haben, niemals
auf sich nehmen. Ein Mensch, der vorzüglich zu
sanften, zärtlichen und gefälligen Neigungen aufge-
legt ist, muß sich nicht unterstehen, die Role eines
Wüterichs zu spielen.

Der Schauspieler, dem die Ratur eine Fähigkeit,
alles zu empfinden, verliehen hat, kann dieselbe
durch fleißige Uebung erweitern. Er muß die
Werke der besten Dichter ohne Unterlaß lesen, und
jeder merkwürdigen Scene so lange nachhängen, bis
seine Einbildungskraft dieselbe ihm auf das lebhaf-
teste vormahlt. Denn dadurch wird er selbst in
die Leidenschaft versetzt werden. Dabey bleibet ihm
immer noch so viel Nachdenken übrig, daß er auf
den guten Ausdruk denken kann.

Ungeachtet aber in der Natur gleiche Ursachen
auch gleiche Würkungen haben, so sind diese doch
in Absicht auf die Aeußerungen der Leidenschaften,
bey verschiedenen Menschen verschieden. Eine
große Seele äußert jede Empfindung größer und
edler, als eine kleine. Zwey Menschen von verschie-
denen Charakteren, in gleichem Grad traurig oder
freudig, legen ihr Gefühl ungleich an den Tag. Es
ist demnach nicht genug, daß der Schauspieler sich
in die Empfindung setze, die er ausdrüken soll: er
muß sie in dem besondern Licht, in der bestimmten
Zeichnung des Charakters ausdrüken, den er ange-
nommen hat. Der Held trauert und freuet sich
[Spaltenumbruch]

Aus
anders, wie der gemeine Mensch. So wol durch
einen übertriebenen als durch den falschen Ausdruk
wird das Gegentheil dessen, was der Dichter gesucht
hat, erhalten. Wenn der Dichter edeln Stolz schil-
dert, der Schauspieler aber einen hochtrabenden
Menschen vorstellt, so verändert sich die Hochach-
tung in Verachtung. Wenn der Dichter einen
stillen tiefsitzenden Schmerz haben will, der Schau-
spieler aber heult, so wird das Weinen in Lachen ver-
wandelt. Auch der falsche Nachdruk verderbt alles.

Es gehört so sehr viel dazu, im Ausdruk voll-
kommen zu seyn, daß man sich über die kleine An-
zahl vollkommener Schauspieler gar nicht wundern
därf. Natur und Fleiß müssen sich zu seiner Bil-
dung vereinigen. Von jener hat er einen feinen
durchdringenden Verstand, jeden Charakter sich auf
das bestimmteste vorzustellen, eine lebhafte Einbil-
dungskraft, die ihm alles mit lebendigen Farben vor
das Gesicht stellt, ein fühlendes Herz, das jede Em-
pfindung in sich hervor bringen kann. Aber ohne
Fleiß und Studium sind diese Gaben nicht hinrei-
chend, ihn vollkommen zu machen. Er muß den
Charakter seiner Role auf das vollkommenste er-
gründen, bis er die kleinsten Schattirungen desselben
erkennt; die Handlung, in welcher dieser Charakter
sich äußert, muß ihm in ihren kleinesten Umständen
ganz vor Augen liegen; die besondere Veranlassung
zu dem Spiel der Leidenschaften muß er auf das
genaueste erwägen, und alles so lange überlegen,
bis er sich selbst vergißt, und sich gleichsam in die
Person verwandelt, die er vorstellt.

Man hat die Frage aufgeworfen, ob es nöthig
sey, den Ausdruk desto vollkommener zu erreichen,
die Natur etwas zu übertreiben. Der ältere Ric-
coboni
pflegte zu sagen, wenn man rühren wolle,
so müsse man zwey Finger breit über das natürli-
che gehen.
(*) Allein die Gefahr, durch das über-(*) Ricco-
boni im an-
geführten
Orte. S.
509.

triebene frostig zu werden, muß den Schauspieler
sehr behutsam machen. Der jüngere Riccoboni hat
sehr wol angemerkt, daß die Natur ohne alle Ue-
bertreibung vollkommen stark genug ist. Leute, wel-
che sich allen Eindrüken der Leidenschaften ohne Ver-
stellung überlassen, dergleichen man unter dem ge-
meinen Volke genug antrifft, zeigen uns hinlängliche
Stärke des Ausdruks. Kann der Schauspieler
dieselbe erreichen, und mit dem edlen Wesen, das
Personen von erhabnerm Stande an sich zu haben

pflegen,

[Spaltenumbruch]

Aus
ſcheinet aber, daß ein Menſch, der in eine gewiſſe
Leidenſchaft geſetzt iſt, ſie durch viel kleine, niemals
deutlich zu merkende Kennzeichen aͤußere, die, zu-
ſammen genommen, den wahren Ausdruk der Na-
tur ausmachen. Alles geht mechaniſch ohne un-
fer Bewußtſeyn zu. Da uns nun alle die Kraͤfte,
wodurch jede Muskel des Leibes gezogen wird, wenn
wir gewiſſe Leidenſchaften fuͤhlen, unbekannt ſind, ſo
kann der Vorſatz zu ihrer Wuͤrkung nichts beytra-
gen. Es giebt keine Theorie, nach welcher wir un-
ſerm Geſichte die Traurigkeit einpraͤgen koͤnnen.
Sind wir aber wuͤrklich traurig, ſo ſetzt ſich alles
von ſelbſt in die gehoͤrige Geſtalt.

Wir ſcheuen uns alſo nicht, gegen das Anſehen
eines Meiſters in der Kunſt den Schauſpielern zu
empfehlen, daß ſie ſich unauf hoͤrlich befleißen ſollen,
ſich in alle Arten der Empfindungen zu ſetzen. Fin-
den ſie ihre Seele nicht weich genug, mit dem Wei-
nenden zu weinen, mit dem Zornigen aufgebracht
zu ſeyn, ſo thun ſie wol, wenn ſie ſolche Rolen, fuͤr
die ſie das noͤthige Gefuͤhl nicht haben, niemals
auf ſich nehmen. Ein Menſch, der vorzuͤglich zu
ſanften, zaͤrtlichen und gefaͤlligen Neigungen aufge-
legt iſt, muß ſich nicht unterſtehen, die Role eines
Wuͤterichs zu ſpielen.

Der Schauſpieler, dem die Ratur eine Faͤhigkeit,
alles zu empfinden, verliehen hat, kann dieſelbe
durch fleißige Uebung erweitern. Er muß die
Werke der beſten Dichter ohne Unterlaß leſen, und
jeder merkwuͤrdigen Scene ſo lange nachhaͤngen, bis
ſeine Einbildungskraft dieſelbe ihm auf das lebhaf-
teſte vormahlt. Denn dadurch wird er ſelbſt in
die Leidenſchaft verſetzt werden. Dabey bleibet ihm
immer noch ſo viel Nachdenken uͤbrig, daß er auf
den guten Ausdruk denken kann.

Ungeachtet aber in der Natur gleiche Urſachen
auch gleiche Wuͤrkungen haben, ſo ſind dieſe doch
in Abſicht auf die Aeußerungen der Leidenſchaften,
bey verſchiedenen Menſchen verſchieden. Eine
große Seele aͤußert jede Empfindung groͤßer und
edler, als eine kleine. Zwey Menſchen von verſchie-
denen Charakteren, in gleichem Grad traurig oder
freudig, legen ihr Gefuͤhl ungleich an den Tag. Es
iſt demnach nicht genug, daß der Schauſpieler ſich
in die Empfindung ſetze, die er ausdruͤken ſoll: er
muß ſie in dem beſondern Licht, in der beſtimmten
Zeichnung des Charakters ausdruͤken, den er ange-
nommen hat. Der Held trauert und freuet ſich
[Spaltenumbruch]

Aus
anders, wie der gemeine Menſch. So wol durch
einen uͤbertriebenen als durch den falſchen Ausdruk
wird das Gegentheil deſſen, was der Dichter geſucht
hat, erhalten. Wenn der Dichter edeln Stolz ſchil-
dert, der Schauſpieler aber einen hochtrabenden
Menſchen vorſtellt, ſo veraͤndert ſich die Hochach-
tung in Verachtung. Wenn der Dichter einen
ſtillen tiefſitzenden Schmerz haben will, der Schau-
ſpieler aber heult, ſo wird das Weinen in Lachen ver-
wandelt. Auch der falſche Nachdruk verderbt alles.

Es gehoͤrt ſo ſehr viel dazu, im Ausdruk voll-
kommen zu ſeyn, daß man ſich uͤber die kleine An-
zahl vollkommener Schauſpieler gar nicht wundern
daͤrf. Natur und Fleiß muͤſſen ſich zu ſeiner Bil-
dung vereinigen. Von jener hat er einen feinen
durchdringenden Verſtand, jeden Charakter ſich auf
das beſtimmteſte vorzuſtellen, eine lebhafte Einbil-
dungskraft, die ihm alles mit lebendigen Farben vor
das Geſicht ſtellt, ein fuͤhlendes Herz, das jede Em-
pfindung in ſich hervor bringen kann. Aber ohne
Fleiß und Studium ſind dieſe Gaben nicht hinrei-
chend, ihn vollkommen zu machen. Er muß den
Charakter ſeiner Role auf das vollkommenſte er-
gruͤnden, bis er die kleinſten Schattirungen deſſelben
erkennt; die Handlung, in welcher dieſer Charakter
ſich aͤußert, muß ihm in ihren kleineſten Umſtaͤnden
ganz vor Augen liegen; die beſondere Veranlaſſung
zu dem Spiel der Leidenſchaften muß er auf das
genaueſte erwaͤgen, und alles ſo lange uͤberlegen,
bis er ſich ſelbſt vergißt, und ſich gleichſam in die
Perſon verwandelt, die er vorſtellt.

Man hat die Frage aufgeworfen, ob es noͤthig
ſey, den Ausdruk deſto vollkommener zu erreichen,
die Natur etwas zu uͤbertreiben. Der aͤltere Ric-
coboni
pflegte zu ſagen, wenn man ruͤhren wolle,
ſo muͤſſe man zwey Finger breit uͤber das natuͤrli-
che gehen.
(*) Allein die Gefahr, durch das uͤber-(*) Ricco-
boni im an-
gefuͤhrten
Orte. S.
509.

triebene froſtig zu werden, muß den Schauſpieler
ſehr behutſam machen. Der juͤngere Riccoboni hat
ſehr wol angemerkt, daß die Natur ohne alle Ue-
bertreibung vollkommen ſtark genug iſt. Leute, wel-
che ſich allen Eindruͤken der Leidenſchaften ohne Ver-
ſtellung uͤberlaſſen, dergleichen man unter dem ge-
meinen Volke genug antrifft, zeigen uns hinlaͤngliche
Staͤrke des Ausdruks. Kann der Schauſpieler
dieſelbe erreichen, und mit dem edlen Weſen, das
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[108/0120] Aus Aus ſcheinet aber, daß ein Menſch, der in eine gewiſſe Leidenſchaft geſetzt iſt, ſie durch viel kleine, niemals deutlich zu merkende Kennzeichen aͤußere, die, zu- ſammen genommen, den wahren Ausdruk der Na- tur ausmachen. Alles geht mechaniſch ohne un- fer Bewußtſeyn zu. Da uns nun alle die Kraͤfte, wodurch jede Muskel des Leibes gezogen wird, wenn wir gewiſſe Leidenſchaften fuͤhlen, unbekannt ſind, ſo kann der Vorſatz zu ihrer Wuͤrkung nichts beytra- gen. Es giebt keine Theorie, nach welcher wir un- ſerm Geſichte die Traurigkeit einpraͤgen koͤnnen. Sind wir aber wuͤrklich traurig, ſo ſetzt ſich alles von ſelbſt in die gehoͤrige Geſtalt. Wir ſcheuen uns alſo nicht, gegen das Anſehen eines Meiſters in der Kunſt den Schauſpielern zu empfehlen, daß ſie ſich unauf hoͤrlich befleißen ſollen, ſich in alle Arten der Empfindungen zu ſetzen. Fin- den ſie ihre Seele nicht weich genug, mit dem Wei- nenden zu weinen, mit dem Zornigen aufgebracht zu ſeyn, ſo thun ſie wol, wenn ſie ſolche Rolen, fuͤr die ſie das noͤthige Gefuͤhl nicht haben, niemals auf ſich nehmen. Ein Menſch, der vorzuͤglich zu ſanften, zaͤrtlichen und gefaͤlligen Neigungen aufge- legt iſt, muß ſich nicht unterſtehen, die Role eines Wuͤterichs zu ſpielen. Der Schauſpieler, dem die Ratur eine Faͤhigkeit, alles zu empfinden, verliehen hat, kann dieſelbe durch fleißige Uebung erweitern. Er muß die Werke der beſten Dichter ohne Unterlaß leſen, und jeder merkwuͤrdigen Scene ſo lange nachhaͤngen, bis ſeine Einbildungskraft dieſelbe ihm auf das lebhaf- teſte vormahlt. Denn dadurch wird er ſelbſt in die Leidenſchaft verſetzt werden. Dabey bleibet ihm immer noch ſo viel Nachdenken uͤbrig, daß er auf den guten Ausdruk denken kann. Ungeachtet aber in der Natur gleiche Urſachen auch gleiche Wuͤrkungen haben, ſo ſind dieſe doch in Abſicht auf die Aeußerungen der Leidenſchaften, bey verſchiedenen Menſchen verſchieden. Eine große Seele aͤußert jede Empfindung groͤßer und edler, als eine kleine. Zwey Menſchen von verſchie- denen Charakteren, in gleichem Grad traurig oder freudig, legen ihr Gefuͤhl ungleich an den Tag. Es iſt demnach nicht genug, daß der Schauſpieler ſich in die Empfindung ſetze, die er ausdruͤken ſoll: er muß ſie in dem beſondern Licht, in der beſtimmten Zeichnung des Charakters ausdruͤken, den er ange- nommen hat. Der Held trauert und freuet ſich anders, wie der gemeine Menſch. So wol durch einen uͤbertriebenen als durch den falſchen Ausdruk wird das Gegentheil deſſen, was der Dichter geſucht hat, erhalten. Wenn der Dichter edeln Stolz ſchil- dert, der Schauſpieler aber einen hochtrabenden Menſchen vorſtellt, ſo veraͤndert ſich die Hochach- tung in Verachtung. Wenn der Dichter einen ſtillen tiefſitzenden Schmerz haben will, der Schau- ſpieler aber heult, ſo wird das Weinen in Lachen ver- wandelt. Auch der falſche Nachdruk verderbt alles. Es gehoͤrt ſo ſehr viel dazu, im Ausdruk voll- kommen zu ſeyn, daß man ſich uͤber die kleine An- zahl vollkommener Schauſpieler gar nicht wundern daͤrf. Natur und Fleiß muͤſſen ſich zu ſeiner Bil- dung vereinigen. Von jener hat er einen feinen durchdringenden Verſtand, jeden Charakter ſich auf das beſtimmteſte vorzuſtellen, eine lebhafte Einbil- dungskraft, die ihm alles mit lebendigen Farben vor das Geſicht ſtellt, ein fuͤhlendes Herz, das jede Em- pfindung in ſich hervor bringen kann. Aber ohne Fleiß und Studium ſind dieſe Gaben nicht hinrei- chend, ihn vollkommen zu machen. Er muß den Charakter ſeiner Role auf das vollkommenſte er- gruͤnden, bis er die kleinſten Schattirungen deſſelben erkennt; die Handlung, in welcher dieſer Charakter ſich aͤußert, muß ihm in ihren kleineſten Umſtaͤnden ganz vor Augen liegen; die beſondere Veranlaſſung zu dem Spiel der Leidenſchaften muß er auf das genaueſte erwaͤgen, und alles ſo lange uͤberlegen, bis er ſich ſelbſt vergißt, und ſich gleichſam in die Perſon verwandelt, die er vorſtellt. Man hat die Frage aufgeworfen, ob es noͤthig ſey, den Ausdruk deſto vollkommener zu erreichen, die Natur etwas zu uͤbertreiben. Der aͤltere Ric- coboni pflegte zu ſagen, wenn man ruͤhren wolle, ſo muͤſſe man zwey Finger breit uͤber das natuͤrli- che gehen. (*) Allein die Gefahr, durch das uͤber- triebene froſtig zu werden, muß den Schauſpieler ſehr behutſam machen. Der juͤngere Riccoboni hat ſehr wol angemerkt, daß die Natur ohne alle Ue- bertreibung vollkommen ſtark genug iſt. Leute, wel- che ſich allen Eindruͤken der Leidenſchaften ohne Ver- ſtellung uͤberlaſſen, dergleichen man unter dem ge- meinen Volke genug antrifft, zeigen uns hinlaͤngliche Staͤrke des Ausdruks. Kann der Schauſpieler dieſelbe erreichen, und mit dem edlen Weſen, das Perſonen von erhabnerm Stande an ſich zu haben pflegen, (*) Ricco- boni im an- gefuͤhrten Orte. S. 509.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/120>, abgerufen am 27.04.2024.