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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aus
pflegen, verbinden, so braucht er nichts zu über-
treiben.

Was wir vorher von der Nothwendigkeit, sich
selbst in die Empfindungen, die man auszudrüken
hat, zu versetzen, gesagt haben, gilt hauptsächlich
für denjenigen Theil des Ausdruks, der in der Stel-
lung des ganzen Körpers und in der Bewegung der
Gliedmaaßen liegt. Es ist unmöglich, darüber Re-
geln zu geben. Die Natur hat die Triebfedern,
die sie dabey braucht, uns verborgen. So wie ein
Mensch, der unversehens fällt, aus einer sich selbst
unbewußten Furcht, Schaden zu nehmen, durch
den Jnstinkt die Stellung annimmt, die ihn am si-
chersten bewahret; eine Stellung, welche er durch
keine Ueberlegung erfinden würde; eben so würkt sie
in allen Leidenschaften auf die verschiedene Nerven
des Körpers. Der Schauspieler, der sich in ein
richtiges Gefühl zu setzen weiß, wird sich auch bey
jedem Ausdruk richtig und natürlich gebehrden.

Von dem Ausdruk, in so fern er von der Stim-
me und der Sprache abhängt, haben wir anderswo
gesprochen. (S. Vortrag.)

Unter allen Künstlern hat der Tänzer das schweer-
ste Studium, zum vollkommenen Ausdruk zu ge-
langen. Er kann sich nicht an die Natur halten;
denn die Bewegungen, die er machen muß, findet
er darin nicht. Er muß sie nach den Anzeigungen,
die er in der Natur findet, nachahmen, und in ei-
ner ganz andern Art wieder darstellen. Alle seine
Schritte und Bewegungen sind künstlich, sie kom-
men in der Natur niemals vor, und dennoch müs-
sen sie den Charakter der Natur an sich haben. Man
muß aus jeder Bewegung des Tänzers erkennen,
was für eine Empfindung ihn treibt. Seine Schritte
sind die Worte, welche uns sagen, was in seinem
Herzen vorgeht.

Es ist den großen Schwierigkeiten, die diese Sa-
che hat, zuzuschreiben, daß man so wenig vollkom-
menes in dieser Kunst zu sehen bekömmt. Die
Tänzer sind mehr gewohnt, künstliche Bewegungen,
schweere Sprünge und kaum nachzumachende Ge-
behrdungen des Körpers auszudenken, als den wah-
ren Ausdruk der Natur nachzuahmen. Nicht nur
jede Hauptleidenschaft, sondern bey nahe jede Schat-
tirung derselben Leidenschaft, hat ihren eigenen Aus-
druk in der Stellung und Bewegung des Körpers.
Diese sind die wahren Elemente, das Alphabeth
des ächten Tanzens, oder diese Kunst beruhet auf
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Aus
gar keinen Grundsätzen. Diese Elemente aufzusu-
chen, sie in ordentlichen und zusammenhängenden
Bewegungen wieder darzustellen, aus verschiedenen
zusammenhängenden Bewegungen ein ganzes Bal-
let zusammen zu setzen, das eine bestimmte Hand-
lung ausdrükt, ist das eigentliche Werk des Tän-
zers.

Ausdruk in der Musik. Der richtige Aus-
druk der Empfindungen und Leidenschaften in allen
ihren besondern Schattirungen ist das vornehmste,
wo nicht gar das einzige Verdienst eines vollkomme-
nen Tonstükes. Ein solches Werk, das blos un-
sre Einbildungskraft mit einer Reihe harmonischer
Töne anfüllt, ohne unser Herz zu beschäfftigen,
gleichet einem von der untergehenden Sonne schön
bemahlten Himmel. Die liebliche Vermischung
mannigfaltiger Farben ergötzt uns; aber in den
Figuren der Wolken sehen wir nichts, das unser
Herz beschäfftigen könnte. Bemerken wir aber in
dem Gesang, außer der vollkommenen Fortströh-
mung der Töne, eine Sprache, die uns die Aeus-
serungen eines fühlenden Herzens verräth, so die-
net die angenehme Unterhaltung des Gehörs der
Seele gleichsam zu einem Ruhebette, auf welchem
sie sich allen Empfindungen überläßt, die der Aus-
druk des Gesanges in ihr hervor bringt. Die Har-
monie sammelt alle unsre Aufmerksamkeit, reizet
das Ohr, sich ganz dem höhern Gefühl, das die
Nerven der Seele angreift, zu überlassen.

Der Ausdruk ist die Seele der Musik: ohne ihn
ist sie blos ein angenehmes Spielwerk; durch ihn
wird sie zur nachdrüklichsten Rede, die unwidersteh-
lich auf unser Herz würket. Sie zwingt uns, itzt
zärtlich, denn beherzt und standhaft zu seyn. Bald
reizet sie uns zum Mitleiden, bald zur Bewundrung.
Einmal stärket und erhöhet sie unsre Seelenkräfte;
und ein andermal fesselt sie alle, daß sie in ein weich-
liches Gefühl zerfließen.

Aber wie erlangt der Tonsetzer diese Zauberkraft,
so gewaltig über unser Herz zu herrschen? Die Na-
tur muß den Grund zu dieser Herrschaft in seiner
Seele gelegt haben. Diese muß sich selbst zu allen
Arten der Empfindungen und Leidenschaften stim-
men können. Denn nur dasjenige, was er selbst
lebhaft fühlt, wird er glüklich ausdrüken. Das
Beyspiel der zwey Tonsetzer, welche in Deutschland
am meisten bewundert werden, Grauns und Has-
sens,
beweist die Würkung des Temperaments auf

die
O 3

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Aus
pflegen, verbinden, ſo braucht er nichts zu uͤber-
treiben.

Was wir vorher von der Nothwendigkeit, ſich
ſelbſt in die Empfindungen, die man auszudruͤken
hat, zu verſetzen, geſagt haben, gilt hauptſaͤchlich
fuͤr denjenigen Theil des Ausdruks, der in der Stel-
lung des ganzen Koͤrpers und in der Bewegung der
Gliedmaaßen liegt. Es iſt unmoͤglich, daruͤber Re-
geln zu geben. Die Natur hat die Triebfedern,
die ſie dabey braucht, uns verborgen. So wie ein
Menſch, der unverſehens faͤllt, aus einer ſich ſelbſt
unbewußten Furcht, Schaden zu nehmen, durch
den Jnſtinkt die Stellung annimmt, die ihn am ſi-
cherſten bewahret; eine Stellung, welche er durch
keine Ueberlegung erfinden wuͤrde; eben ſo wuͤrkt ſie
in allen Leidenſchaften auf die verſchiedene Nerven
des Koͤrpers. Der Schauſpieler, der ſich in ein
richtiges Gefuͤhl zu ſetzen weiß, wird ſich auch bey
jedem Ausdruk richtig und natuͤrlich gebehrden.

Von dem Ausdruk, in ſo fern er von der Stim-
me und der Sprache abhaͤngt, haben wir anderswo
geſprochen. (S. Vortrag.)

Unter allen Kuͤnſtlern hat der Taͤnzer das ſchweer-
ſte Studium, zum vollkommenen Ausdruk zu ge-
langen. Er kann ſich nicht an die Natur halten;
denn die Bewegungen, die er machen muß, findet
er darin nicht. Er muß ſie nach den Anzeigungen,
die er in der Natur findet, nachahmen, und in ei-
ner ganz andern Art wieder darſtellen. Alle ſeine
Schritte und Bewegungen ſind kuͤnſtlich, ſie kom-
men in der Natur niemals vor, und dennoch muͤſ-
ſen ſie den Charakter der Natur an ſich haben. Man
muß aus jeder Bewegung des Taͤnzers erkennen,
was fuͤr eine Empfindung ihn treibt. Seine Schritte
ſind die Worte, welche uns ſagen, was in ſeinem
Herzen vorgeht.

Es iſt den großen Schwierigkeiten, die dieſe Sa-
che hat, zuzuſchreiben, daß man ſo wenig vollkom-
menes in dieſer Kunſt zu ſehen bekoͤmmt. Die
Taͤnzer ſind mehr gewohnt, kuͤnſtliche Bewegungen,
ſchweere Spruͤnge und kaum nachzumachende Ge-
behrdungen des Koͤrpers auszudenken, als den wah-
ren Ausdruk der Natur nachzuahmen. Nicht nur
jede Hauptleidenſchaft, ſondern bey nahe jede Schat-
tirung derſelben Leidenſchaft, hat ihren eigenen Aus-
druk in der Stellung und Bewegung des Koͤrpers.
Dieſe ſind die wahren Elemente, das Alphabeth
des aͤchten Tanzens, oder dieſe Kunſt beruhet auf
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Aus
gar keinen Grundſaͤtzen. Dieſe Elemente aufzuſu-
chen, ſie in ordentlichen und zuſammenhaͤngenden
Bewegungen wieder darzuſtellen, aus verſchiedenen
zuſammenhaͤngenden Bewegungen ein ganzes Bal-
let zuſammen zu ſetzen, das eine beſtimmte Hand-
lung ausdruͤkt, iſt das eigentliche Werk des Taͤn-
zers.

Ausdruk in der Muſik. Der richtige Aus-
druk der Empfindungen und Leidenſchaften in allen
ihren beſondern Schattirungen iſt das vornehmſte,
wo nicht gar das einzige Verdienſt eines vollkomme-
nen Tonſtuͤkes. Ein ſolches Werk, das blos un-
ſre Einbildungskraft mit einer Reihe harmoniſcher
Toͤne anfuͤllt, ohne unſer Herz zu beſchaͤfftigen,
gleichet einem von der untergehenden Sonne ſchoͤn
bemahlten Himmel. Die liebliche Vermiſchung
mannigfaltiger Farben ergoͤtzt uns; aber in den
Figuren der Wolken ſehen wir nichts, das unſer
Herz beſchaͤfftigen koͤnnte. Bemerken wir aber in
dem Geſang, außer der vollkommenen Fortſtroͤh-
mung der Toͤne, eine Sprache, die uns die Aeuſ-
ſerungen eines fuͤhlenden Herzens verraͤth, ſo die-
net die angenehme Unterhaltung des Gehoͤrs der
Seele gleichſam zu einem Ruhebette, auf welchem
ſie ſich allen Empfindungen uͤberlaͤßt, die der Aus-
druk des Geſanges in ihr hervor bringt. Die Har-
monie ſammelt alle unſre Aufmerkſamkeit, reizet
das Ohr, ſich ganz dem hoͤhern Gefuͤhl, das die
Nerven der Seele angreift, zu uͤberlaſſen.

Der Ausdruk iſt die Seele der Muſik: ohne ihn
iſt ſie blos ein angenehmes Spielwerk; durch ihn
wird ſie zur nachdruͤklichſten Rede, die unwiderſteh-
lich auf unſer Herz wuͤrket. Sie zwingt uns, itzt
zaͤrtlich, denn beherzt und ſtandhaft zu ſeyn. Bald
reizet ſie uns zum Mitleiden, bald zur Bewundrung.
Einmal ſtaͤrket und erhoͤhet ſie unſre Seelenkraͤfte;
und ein andermal feſſelt ſie alle, daß ſie in ein weich-
liches Gefuͤhl zerfließen.

Aber wie erlangt der Tonſetzer dieſe Zauberkraft,
ſo gewaltig uͤber unſer Herz zu herrſchen? Die Na-
tur muß den Grund zu dieſer Herrſchaft in ſeiner
Seele gelegt haben. Dieſe muß ſich ſelbſt zu allen
Arten der Empfindungen und Leidenſchaften ſtim-
men koͤnnen. Denn nur dasjenige, was er ſelbſt
lebhaft fuͤhlt, wird er gluͤklich ausdruͤken. Das
Beyſpiel der zwey Tonſetzer, welche in Deutſchland
am meiſten bewundert werden, Grauns und Haſ-
ſens,
beweiſt die Wuͤrkung des Temperaments auf

die
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[109/0121] Aus Aus pflegen, verbinden, ſo braucht er nichts zu uͤber- treiben. Was wir vorher von der Nothwendigkeit, ſich ſelbſt in die Empfindungen, die man auszudruͤken hat, zu verſetzen, geſagt haben, gilt hauptſaͤchlich fuͤr denjenigen Theil des Ausdruks, der in der Stel- lung des ganzen Koͤrpers und in der Bewegung der Gliedmaaßen liegt. Es iſt unmoͤglich, daruͤber Re- geln zu geben. Die Natur hat die Triebfedern, die ſie dabey braucht, uns verborgen. So wie ein Menſch, der unverſehens faͤllt, aus einer ſich ſelbſt unbewußten Furcht, Schaden zu nehmen, durch den Jnſtinkt die Stellung annimmt, die ihn am ſi- cherſten bewahret; eine Stellung, welche er durch keine Ueberlegung erfinden wuͤrde; eben ſo wuͤrkt ſie in allen Leidenſchaften auf die verſchiedene Nerven des Koͤrpers. Der Schauſpieler, der ſich in ein richtiges Gefuͤhl zu ſetzen weiß, wird ſich auch bey jedem Ausdruk richtig und natuͤrlich gebehrden. Von dem Ausdruk, in ſo fern er von der Stim- me und der Sprache abhaͤngt, haben wir anderswo geſprochen. (S. Vortrag.) Unter allen Kuͤnſtlern hat der Taͤnzer das ſchweer- ſte Studium, zum vollkommenen Ausdruk zu ge- langen. Er kann ſich nicht an die Natur halten; denn die Bewegungen, die er machen muß, findet er darin nicht. Er muß ſie nach den Anzeigungen, die er in der Natur findet, nachahmen, und in ei- ner ganz andern Art wieder darſtellen. Alle ſeine Schritte und Bewegungen ſind kuͤnſtlich, ſie kom- men in der Natur niemals vor, und dennoch muͤſ- ſen ſie den Charakter der Natur an ſich haben. Man muß aus jeder Bewegung des Taͤnzers erkennen, was fuͤr eine Empfindung ihn treibt. Seine Schritte ſind die Worte, welche uns ſagen, was in ſeinem Herzen vorgeht. Es iſt den großen Schwierigkeiten, die dieſe Sa- che hat, zuzuſchreiben, daß man ſo wenig vollkom- menes in dieſer Kunſt zu ſehen bekoͤmmt. Die Taͤnzer ſind mehr gewohnt, kuͤnſtliche Bewegungen, ſchweere Spruͤnge und kaum nachzumachende Ge- behrdungen des Koͤrpers auszudenken, als den wah- ren Ausdruk der Natur nachzuahmen. Nicht nur jede Hauptleidenſchaft, ſondern bey nahe jede Schat- tirung derſelben Leidenſchaft, hat ihren eigenen Aus- druk in der Stellung und Bewegung des Koͤrpers. Dieſe ſind die wahren Elemente, das Alphabeth des aͤchten Tanzens, oder dieſe Kunſt beruhet auf gar keinen Grundſaͤtzen. Dieſe Elemente aufzuſu- chen, ſie in ordentlichen und zuſammenhaͤngenden Bewegungen wieder darzuſtellen, aus verſchiedenen zuſammenhaͤngenden Bewegungen ein ganzes Bal- let zuſammen zu ſetzen, das eine beſtimmte Hand- lung ausdruͤkt, iſt das eigentliche Werk des Taͤn- zers. Ausdruk in der Muſik. Der richtige Aus- druk der Empfindungen und Leidenſchaften in allen ihren beſondern Schattirungen iſt das vornehmſte, wo nicht gar das einzige Verdienſt eines vollkomme- nen Tonſtuͤkes. Ein ſolches Werk, das blos un- ſre Einbildungskraft mit einer Reihe harmoniſcher Toͤne anfuͤllt, ohne unſer Herz zu beſchaͤfftigen, gleichet einem von der untergehenden Sonne ſchoͤn bemahlten Himmel. Die liebliche Vermiſchung mannigfaltiger Farben ergoͤtzt uns; aber in den Figuren der Wolken ſehen wir nichts, das unſer Herz beſchaͤfftigen koͤnnte. Bemerken wir aber in dem Geſang, außer der vollkommenen Fortſtroͤh- mung der Toͤne, eine Sprache, die uns die Aeuſ- ſerungen eines fuͤhlenden Herzens verraͤth, ſo die- net die angenehme Unterhaltung des Gehoͤrs der Seele gleichſam zu einem Ruhebette, auf welchem ſie ſich allen Empfindungen uͤberlaͤßt, die der Aus- druk des Geſanges in ihr hervor bringt. Die Har- monie ſammelt alle unſre Aufmerkſamkeit, reizet das Ohr, ſich ganz dem hoͤhern Gefuͤhl, das die Nerven der Seele angreift, zu uͤberlaſſen. Der Ausdruk iſt die Seele der Muſik: ohne ihn iſt ſie blos ein angenehmes Spielwerk; durch ihn wird ſie zur nachdruͤklichſten Rede, die unwiderſteh- lich auf unſer Herz wuͤrket. Sie zwingt uns, itzt zaͤrtlich, denn beherzt und ſtandhaft zu ſeyn. Bald reizet ſie uns zum Mitleiden, bald zur Bewundrung. Einmal ſtaͤrket und erhoͤhet ſie unſre Seelenkraͤfte; und ein andermal feſſelt ſie alle, daß ſie in ein weich- liches Gefuͤhl zerfließen. Aber wie erlangt der Tonſetzer dieſe Zauberkraft, ſo gewaltig uͤber unſer Herz zu herrſchen? Die Na- tur muß den Grund zu dieſer Herrſchaft in ſeiner Seele gelegt haben. Dieſe muß ſich ſelbſt zu allen Arten der Empfindungen und Leidenſchaften ſtim- men koͤnnen. Denn nur dasjenige, was er ſelbſt lebhaft fuͤhlt, wird er gluͤklich ausdruͤken. Das Beyſpiel der zwey Tonſetzer, welche in Deutſchland am meiſten bewundert werden, Grauns und Haſ- ſens, beweiſt die Wuͤrkung des Temperaments auf die O 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/121>, abgerufen am 28.04.2024.