Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Cha in allem, was an ihm sichtbar ist, den Charakterseiner Gattung, oder auch, (wie in Portraiten) den einzeln Charakter, wodurch er sich von allen Din- gen seiner Art auszeichnet, zu geben wissen, und so muß jeder andre Künstler die Charaktere der Dinge bezeichnen können. Es gehöret demnach vorzüglich zu dem Genie des Unter den mannigfaltigen Gegenständen, welche Cha haft geschildert sind. (*) Jede lebhafte Vorstellung(*) S.Theilneh- mung. von dem Gemüthszustand andrer Menschen, läßt uns das, was in ihnen vorgeht, eben so fühlen, als wenn es in uns selbst vorgienge; dadurch werden die Gedanken und Empfindungen andrer Menschen einigermassen Modificationen unsrer Seele, wir wer- den heftig mit dem Achilles, vorsichtig mit dem Ulysses, und unerschroken mit dem Hektor. Also können die Dichter durch die Charaktere der Die vornehmste Sorge des epischen und drama- Es giebt Menschen, die in ihren Handlungen aus- B b 2
[Spaltenumbruch] Cha in allem, was an ihm ſichtbar iſt, den Charakterſeiner Gattung, oder auch, (wie in Portraiten) den einzeln Charakter, wodurch er ſich von allen Din- gen ſeiner Art auszeichnet, zu geben wiſſen, und ſo muß jeder andre Kuͤnſtler die Charaktere der Dinge bezeichnen koͤnnen. Es gehoͤret demnach vorzuͤglich zu dem Genie des Unter den mannigfaltigen Gegenſtaͤnden, welche Cha haft geſchildert ſind. (*) Jede lebhafte Vorſtellung(*) S.Theilneh- mung. von dem Gemuͤthszuſtand andrer Menſchen, laͤßt uns das, was in ihnen vorgeht, eben ſo fuͤhlen, als wenn es in uns ſelbſt vorgienge; dadurch werden die Gedanken und Empfindungen andrer Menſchen einigermaſſen Modificationen unſrer Seele, wir wer- den heftig mit dem Achilles, vorſichtig mit dem Ulyſſes, und unerſchroken mit dem Hektor. Alſo koͤnnen die Dichter durch die Charaktere der Die vornehmſte Sorge des epiſchen und drama- Es giebt Menſchen, die in ihren Handlungen aus- B b 2
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Wie<lb/> der Mahler, ſobald er einen Gegenſtand recht in das<lb/> Auge gefaßt hat, ſo gleich die weſentlichen Zuͤge<lb/> deſſelben durch die Zeichnung darſtellen kann, ſo muß<lb/> jeder Kuͤnſtler in ſeiner Art das unterſcheidende der<lb/> Sachen ſchnell faſſen und ausdruͤken koͤnnen. 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Wenn ſie richtig gezeich-<lb/> net und wol ausgedrukt ſind, ſo laſſen ſie uns in<lb/> das Jnnere der Menſchen hineinſchauen, und ver-<lb/> ſtatten uns, jede Wuͤrkung der aͤuſſern Gegenſtaͤnde<lb/> auf ſie, vorher zu ſehen, die daher entſtehenden Em-<lb/> pfindungen, die Entſchlieſſungen, jede Triebfeder,<lb/> woraus die Handlungen entſtehen, genau zu erken-<lb/> nen. Sie ſind eigentliche Abbildungen der Seelen,<lb/> die wahren Gegenſtaͤnde, davon die gemahlten Por-<lb/> traite nur die Schattenbilder ſind. Der Dichter,<lb/> der die Gabe hat, die ſittlichen Charaktere rich-<lb/> tig und lebhaft zu zeichnen, lehret uns die Menſchen<lb/> recht kennen, und fuͤhret uns dadurch auch zu der<lb/> Kenntnis unſer ſelbſt. Aber noch wichtiger iſt die<lb/> Wuͤrkung, welche wolgezeichnete Charaktere auf<lb/> unſre Seelenkraͤfte haben. Denn, wie wir uns mit<lb/> den Traurigen betruͤben, ſo geſchieht eine ſolche Zu-<lb/> eignung aller andern Empfindungen, wenn ſie leb-<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Cha</hi></fw><lb/> haft geſchildert ſind. (*) Jede lebhafte Vorſtellung<note place="right">(*) S.<lb/> Theilneh-<lb/> mung.</note><lb/> von dem Gemuͤthszuſtand andrer Menſchen, laͤßt uns<lb/> das, was in ihnen vorgeht, eben ſo fuͤhlen, als<lb/> wenn es in uns ſelbſt vorgienge; dadurch werden<lb/> die Gedanken und Empfindungen andrer Menſchen<lb/> einigermaſſen Modificationen unſrer Seele, wir wer-<lb/> den heftig mit dem Achilles, vorſichtig mit dem<lb/> Ulyſſes, und unerſchroken mit dem Hektor.</p><lb/> <p>Alſo koͤnnen die Dichter durch die Charaktere der<lb/> Perſonen, mit ungemeiner Kraft auf die Gemuͤther<lb/> wuͤrken. Diejenigen, die wir fuͤr gut halten, haben<lb/> den ſtaͤrkſten Reiz auf uns; wir nehmen alle Kraͤfte<lb/> zuſammen, um eben ſo zu empfinden, wie die Per-<lb/> ſonen, fuͤr deren Charakter wir eingenommen ſind.<lb/> Diejenigen, die uns mißfallen, erweken den lebhaf-<lb/> ten Abſcheu, weil eben dadurch, daß wir gleichſam<lb/> gezwungen werden, die Empfindungen derſelben auch<lb/> in uns zu fuͤhlen, der innere Streit in dem Gemuͤthe<lb/> entſteht.</p><lb/> <p>Die vornehmſte Sorge des epiſchen und drama-<lb/> tiſchen Dichters, muß alſo auf die Charactere der<lb/> Perſonen gerichtet ſeyn. Deswegen koͤnnen nur<lb/> groſſe Kenner der Menſchen ſich an dieſe Gattungen<lb/> wagen. Der epiſche Dichter hat wegen der Menge<lb/> und Verſchiedenheit der Begebenheiten, Vorfaͤlle und<lb/> Perſonen, die ſeine weitlaͤuftige Handlung ihm an<lb/> die Hand giebt, Gelegenheit, die perſoͤnlichen Cha-<lb/> raktere ſeiner Hauptperſonen ganz zu entwikeln;<lb/> der dramatiſche Dichter hingegen, deſſen Handlung<lb/> nur auf einen ſehr beſtimmten Gegenſtand einge-<lb/> ſchraͤnkt iſt, hat vornehmlich einzele Zuͤge in den Cha-<lb/> rakteren der Menſchen, Tugenden, Laſter, Leiden-<lb/> ſchaften zu ſchildern: denn es iſt ſelten moͤglich, in<lb/> einer ſo kurzen Zeit, als die iſt, auf welche die<lb/> Handlung des Drama eingeſchraͤnkt wird, und bey<lb/> einer einzigen Gelegenheit, den ganzen Charakter des<lb/> Menſchen kennen zu lernen.</p><lb/> <p>Es giebt Menſchen, die in ihren Handlungen<lb/> und in ihrer Art zu denken, gar keinen beſtimmten<lb/> Charakter zeigen, die einigermaſſen den Windfah-<lb/> nen gleichen, die fuͤr jede Wendung und Stellung<lb/> gleichguͤltig ſind, und ſich alſo nach allen Gegenden<lb/> gleich herumtreiben laſſen. 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Cha
Cha
in allem, was an ihm ſichtbar iſt, den Charakter
ſeiner Gattung, oder auch, (wie in Portraiten) den
einzeln Charakter, wodurch er ſich von allen Din-
gen ſeiner Art auszeichnet, zu geben wiſſen, und
ſo muß jeder andre Kuͤnſtler die Charaktere der Dinge
bezeichnen koͤnnen.
Es gehoͤret demnach vorzuͤglich zu dem Genie des
Kuͤnſtlers, daß er in Gegenſtaͤnden der Sinnen und
der Einbildungskraft, das Charakteriſtiſche bemerke.
Dazu aber wird ein uͤberaus ſcharfer Beobachtungs-
geiſt erfodert, den man fuͤr ſichtbare Dinge beſon-
ders, ein ſcharfes mahleriſches Aug nennt. Wie
der Mahler, ſobald er einen Gegenſtand recht in das
Auge gefaßt hat, ſo gleich die weſentlichen Zuͤge
deſſelben durch die Zeichnung darſtellen kann, ſo muß
jeder Kuͤnſtler in ſeiner Art das unterſcheidende der
Sachen ſchnell faſſen und ausdruͤken koͤnnen. Und
in dieſer Faͤhigkeit ſcheinet die Anlage des Genies
fuͤr die ſchoͤnen Kuͤnſte zu beſtehen; ſo daß vielleicht
aus der Faͤhigkeit, die Charaktere der Dinge zu be-
merken, der richtigſte Schluß auf des Kuͤnſtlers
Genie koͤnnte gemacht werden.
Unter den mannigfaltigen Gegenſtaͤnden, welche
die ſchoͤnen Kuͤnſte uns vor Augen legen, ſind die
Charaktere denkender Weſen ohne Zweifel die wich-
tigſten; Folglich iſt der Ausdruk, oder die Abbildung
ſittlicher Charaktere das wichtigſte Geſchaͤft der Kunſt,
und beſonders die vorzuͤglichſte Gabe der Dichter.
Jn den wichtigſten Dichtungsarten, der Epopee und
dem Drama, ſind die Charaktere der handelnden
Perſonen die Hauptſache. Wenn ſie richtig gezeich-
net und wol ausgedrukt ſind, ſo laſſen ſie uns in
das Jnnere der Menſchen hineinſchauen, und ver-
ſtatten uns, jede Wuͤrkung der aͤuſſern Gegenſtaͤnde
auf ſie, vorher zu ſehen, die daher entſtehenden Em-
pfindungen, die Entſchlieſſungen, jede Triebfeder,
woraus die Handlungen entſtehen, genau zu erken-
nen. Sie ſind eigentliche Abbildungen der Seelen,
die wahren Gegenſtaͤnde, davon die gemahlten Por-
traite nur die Schattenbilder ſind. Der Dichter,
der die Gabe hat, die ſittlichen Charaktere rich-
tig und lebhaft zu zeichnen, lehret uns die Menſchen
recht kennen, und fuͤhret uns dadurch auch zu der
Kenntnis unſer ſelbſt. Aber noch wichtiger iſt die
Wuͤrkung, welche wolgezeichnete Charaktere auf
unſre Seelenkraͤfte haben. Denn, wie wir uns mit
den Traurigen betruͤben, ſo geſchieht eine ſolche Zu-
eignung aller andern Empfindungen, wenn ſie leb-
haft geſchildert ſind. (*) Jede lebhafte Vorſtellung
von dem Gemuͤthszuſtand andrer Menſchen, laͤßt uns
das, was in ihnen vorgeht, eben ſo fuͤhlen, als
wenn es in uns ſelbſt vorgienge; dadurch werden
die Gedanken und Empfindungen andrer Menſchen
einigermaſſen Modificationen unſrer Seele, wir wer-
den heftig mit dem Achilles, vorſichtig mit dem
Ulyſſes, und unerſchroken mit dem Hektor.
(*) S.
Theilneh-
mung.
Alſo koͤnnen die Dichter durch die Charaktere der
Perſonen, mit ungemeiner Kraft auf die Gemuͤther
wuͤrken. Diejenigen, die wir fuͤr gut halten, haben
den ſtaͤrkſten Reiz auf uns; wir nehmen alle Kraͤfte
zuſammen, um eben ſo zu empfinden, wie die Per-
ſonen, fuͤr deren Charakter wir eingenommen ſind.
Diejenigen, die uns mißfallen, erweken den lebhaf-
ten Abſcheu, weil eben dadurch, daß wir gleichſam
gezwungen werden, die Empfindungen derſelben auch
in uns zu fuͤhlen, der innere Streit in dem Gemuͤthe
entſteht.
Die vornehmſte Sorge des epiſchen und drama-
tiſchen Dichters, muß alſo auf die Charactere der
Perſonen gerichtet ſeyn. Deswegen koͤnnen nur
groſſe Kenner der Menſchen ſich an dieſe Gattungen
wagen. Der epiſche Dichter hat wegen der Menge
und Verſchiedenheit der Begebenheiten, Vorfaͤlle und
Perſonen, die ſeine weitlaͤuftige Handlung ihm an
die Hand giebt, Gelegenheit, die perſoͤnlichen Cha-
raktere ſeiner Hauptperſonen ganz zu entwikeln;
der dramatiſche Dichter hingegen, deſſen Handlung
nur auf einen ſehr beſtimmten Gegenſtand einge-
ſchraͤnkt iſt, hat vornehmlich einzele Zuͤge in den Cha-
rakteren der Menſchen, Tugenden, Laſter, Leiden-
ſchaften zu ſchildern: denn es iſt ſelten moͤglich, in
einer ſo kurzen Zeit, als die iſt, auf welche die
Handlung des Drama eingeſchraͤnkt wird, und bey
einer einzigen Gelegenheit, den ganzen Charakter des
Menſchen kennen zu lernen.
Es giebt Menſchen, die in ihren Handlungen
und in ihrer Art zu denken, gar keinen beſtimmten
Charakter zeigen, die einigermaſſen den Windfah-
nen gleichen, die fuͤr jede Wendung und Stellung
gleichguͤltig ſind, und ſich alſo nach allen Gegenden
gleich herumtreiben laſſen. Es ſcheinet, als wenn
es ſolchen Menſchen an eigener innerlichen Kraft
fehlte, aus welcher ihre Gedanken, Entſchlieſſun-
gen und Handlungen entſtehen. Sie warten ganz
gleichguͤltig auf das, was geſchieht, empfangen da-
von augenblikliche Eindruͤke, die ſich ſogleich wieder
aus-
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