Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Dic gewöhnlichen kriegerischen Jnhalt der gemeinen Ge-dichte entgegen setzet. Wenn man von dem Werk, dessen so eben erwähnt worden ist, auf den dama- ligen Zustand der deutschen Dichtkunst schließen kann, so hat es diesen alten Dichtern weniger an poeti- schem Genie und an lebhafter Einbildungskraft, als an einer mehr ausgearbeiteten Sprache gefehlt. Jn- dessen sieht man doch itzt, seit dem der unermüdete Eyfer unsers um die deutsche Litteratur und den guten Geschmak unsterblich verdienten Bodmers, die Maneßische Sammlung ans Licht gebracht und durch den Druk ausgebreitet hat; daß in dem XII und XIII Jahrhundert die blühendste Zeit der deutschen Dichtkunst gewesen ist. Die Kayser aus dem schwä- bischen Haus haben ohne Zweifel viel dazu beyge- tragen, daß feinere Sitten, Geschmak und eine große Liebe zur Dichtkunst unter dem deutschen Adel ziemlich herrschend worden. Die aus diesen Zeiten übrig gebliebenen Gedichte sind in großer Anzahl. Nur die Maneßische Sammlung [Spaltenumbruch] (+) enthält Lieder von 140 Dichtern, darunter viele vom höchsten Rang sind, als Kayser Heinrich, König Conrad, König Wenzel von Böhmen, viele Marggrafen und Fürsten. Es fällt dabey in die Augen, daß damals die Dichtkunst einen großen Theil des Vergnügens der Höfe ausgemacht habe. Und zwar nicht eine Dichtkunst, die als eine Dic der Geist der damaligen Dichter gestimmt, welche Ge-danken und Empfindungen, die der Umgang mit der größern Welt ihnen zuerst gegeben, durch ihr Ge- nie verschönert, in angenehmen Gesängen wieder mittheilten. Es scheinet, daß damals, wenigstens in Oberdeutschland, kein Hof gewesen, an dem nicht Dichter gelebt haben. Bodmer sagt sehr angenehm von diesem schönen Zeitpunkt der Dichtkunst: Hier ist poetisches Land, das die Gabe vom Himmel em- Und von der Muse Helikons sagt er in Beziehung Jhr dient ein fürstliches Volk von Graven, Werthen und Damals war die Dichtkunst, nicht wie itzt, ein hat (+) Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend &b. Zurich bey Orell u. Comp. 1758. 4. 2 Theile. (++) Eines der beträchtlichsten ist das, was Bodmer
unter dem Titel: Chriemhilden Rache 1757. herausge- geben hat. [Spaltenumbruch] Dic gewoͤhnlichen kriegeriſchen Jnhalt der gemeinen Ge-dichte entgegen ſetzet. Wenn man von dem Werk, deſſen ſo eben erwaͤhnt worden iſt, auf den dama- ligen Zuſtand der deutſchen Dichtkunſt ſchließen kann, ſo hat es dieſen alten Dichtern weniger an poeti- ſchem Genie und an lebhafter Einbildungskraft, als an einer mehr ausgearbeiteten Sprache gefehlt. Jn- deſſen ſieht man doch itzt, ſeit dem der unermuͤdete Eyfer unſers um die deutſche Litteratur und den guten Geſchmak unſterblich verdienten Bodmers, die Maneßiſche Sammlung ans Licht gebracht und durch den Druk ausgebreitet hat; daß in dem XII und XIII Jahrhundert die bluͤhendſte Zeit der deutſchen Dichtkunſt geweſen iſt. Die Kayſer aus dem ſchwaͤ- biſchen Haus haben ohne Zweifel viel dazu beyge- tragen, daß feinere Sitten, Geſchmak und eine große Liebe zur Dichtkunſt unter dem deutſchen Adel ziemlich herrſchend worden. Die aus dieſen Zeiten uͤbrig gebliebenen Gedichte ſind in großer Anzahl. Nur die Maneßiſche Sammlung [Spaltenumbruch] (†) enthaͤlt Lieder von 140 Dichtern, darunter viele vom hoͤchſten Rang ſind, als Kayſer Heinrich, Koͤnig Conrad, Koͤnig Wenzel von Boͤhmen, viele Marggrafen und Fuͤrſten. Es faͤllt dabey in die Augen, daß damals die Dichtkunſt einen großen Theil des Vergnuͤgens der Hoͤfe ausgemacht habe. Und zwar nicht eine Dichtkunſt, die als eine Dic der Geiſt der damaligen Dichter geſtimmt, welche Ge-danken und Empfindungen, die der Umgang mit der groͤßern Welt ihnen zuerſt gegeben, durch ihr Ge- nie verſchoͤnert, in angenehmen Geſaͤngen wieder mittheilten. Es ſcheinet, daß damals, wenigſtens in Oberdeutſchland, kein Hof geweſen, an dem nicht Dichter gelebt haben. Bodmer ſagt ſehr angenehm von dieſem ſchoͤnen Zeitpunkt der Dichtkunſt: Hier iſt poetiſches Land, das die Gabe vom Himmel em- Und von der Muſe Helikons ſagt er in Beziehung Jhr dient ein fuͤrſtliches Volk von Graven, Werthen und Damals war die Dichtkunſt, nicht wie itzt, ein hat (†) Sammlung von Minneſingern aus dem ſchwäbiſchen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend &b. Zurich bey Orell u. Comp. 1758. 4. 2 Theile. (††) Eines der betraͤchtlichſten iſt das, was Bodmer
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Denn in dieſem ſchoͤnen Zeitpunkt Deutſch-<lb/> lands herrſchten die hoͤflichſten und galanteſten Sit-<lb/> ten, die zaͤrtlichſten Empfindungen ſo wol der Liebe,<lb/> als der Freundſchaft und Gefaͤlligkeit, feine Maxi-<lb/> men der Ehre, der Tapferkeit und eines edlen Be-<lb/> tragens gegen Lehnsherren, gegen Fremde, gegen<lb/> das ſchoͤne Geſchlecht, gegen Maͤnner von Talenten,<lb/> gegen Freunde und Feinde. Nach dieſem Ton war<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dic</hi></fw><lb/> der Geiſt der damaligen Dichter geſtimmt, welche Ge-<lb/> danken und Empfindungen, die der Umgang mit der<lb/> groͤßern Welt ihnen zuerſt gegeben, durch ihr Ge-<lb/> nie verſchoͤnert, in angenehmen Geſaͤngen wieder<lb/> mittheilten. Es ſcheinet, daß damals, wenigſtens<lb/> in Oberdeutſchland, kein Hof geweſen, an dem nicht<lb/> Dichter gelebt haben. 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Dic
Dic
gewoͤhnlichen kriegeriſchen Jnhalt der gemeinen Ge-
dichte entgegen ſetzet. Wenn man von dem Werk,
deſſen ſo eben erwaͤhnt worden iſt, auf den dama-
ligen Zuſtand der deutſchen Dichtkunſt ſchließen kann,
ſo hat es dieſen alten Dichtern weniger an poeti-
ſchem Genie und an lebhafter Einbildungskraft, als
an einer mehr ausgearbeiteten Sprache gefehlt. Jn-
deſſen ſieht man doch itzt, ſeit dem der unermuͤdete
Eyfer unſers um die deutſche Litteratur und den
guten Geſchmak unſterblich verdienten Bodmers, die
Maneßiſche Sammlung ans Licht gebracht und durch
den Druk ausgebreitet hat; daß in dem XII und
XIII Jahrhundert die bluͤhendſte Zeit der deutſchen
Dichtkunſt geweſen iſt. Die Kayſer aus dem ſchwaͤ-
biſchen Haus haben ohne Zweifel viel dazu beyge-
tragen, daß feinere Sitten, Geſchmak und eine
große Liebe zur Dichtkunſt unter dem deutſchen Adel
ziemlich herrſchend worden. Die aus dieſen Zeiten
uͤbrig gebliebenen Gedichte ſind in großer Anzahl.
Nur die Maneßiſche Sammlung
(†) enthaͤlt Lieder
von 140 Dichtern, darunter viele vom hoͤchſten
Rang ſind, als Kayſer Heinrich, Koͤnig Conrad,
Koͤnig Wenzel von Boͤhmen, viele Marggrafen und
Fuͤrſten. Es faͤllt dabey in die Augen, daß damals
die Dichtkunſt einen großen Theil des Vergnuͤgens
der Hoͤfe ausgemacht habe.
Und zwar nicht eine Dichtkunſt, die als eine
fremde Waare griechiſchen oder lateiniſchen Ur-
ſprungs, blos zum Vergnuͤgen der Hoͤfe herumge-
boten worden, ſondern eine Dichtkunſt, die aus den
Sitten, aus der Denkungsart und aus den herr-
ſchenden Empfindungen der damaligen großen Welt
entſprungen iſt, die alſo ganz natuͤrlicher Weiſe einen
eben ſo unmittelbaren Einflus auf die Gemuͤther
der Menſchen haben mußte, als die ehemaligen Ge-
ſaͤnge der Barden, obgleich von einer ganz andern
Art. Denn in dieſem ſchoͤnen Zeitpunkt Deutſch-
lands herrſchten die hoͤflichſten und galanteſten Sit-
ten, die zaͤrtlichſten Empfindungen ſo wol der Liebe,
als der Freundſchaft und Gefaͤlligkeit, feine Maxi-
men der Ehre, der Tapferkeit und eines edlen Be-
tragens gegen Lehnsherren, gegen Fremde, gegen
das ſchoͤne Geſchlecht, gegen Maͤnner von Talenten,
gegen Freunde und Feinde. Nach dieſem Ton war
der Geiſt der damaligen Dichter geſtimmt, welche Ge-
danken und Empfindungen, die der Umgang mit der
groͤßern Welt ihnen zuerſt gegeben, durch ihr Ge-
nie verſchoͤnert, in angenehmen Geſaͤngen wieder
mittheilten. Es ſcheinet, daß damals, wenigſtens
in Oberdeutſchland, kein Hof geweſen, an dem nicht
Dichter gelebt haben. Bodmer ſagt ſehr angenehm
von dieſem ſchoͤnen Zeitpunkt der Dichtkunſt:
Hier iſt poetiſches Land, das die Gabe vom Himmel em-
pfangen
Dichter in ſeinem Schooß zu erziehen.
Kein anmuthig Gefild liegt zwiſchen dem Rhein und der
Limmat,
Da nicht ein Dichter die Minn’ und den May ſang.
Und von der Muſe Helikons ſagt er in Beziehung
auf dieſe Zeit:
Jhr dient ein fuͤrſtliches Volk von Graven, Werthen und
Frien,
Der Ausbund des allemanniſchen Bluts.
Sie ſangen einſt um das Gefield des Rheins, der Donau,
der Elbe,
An Schwabens, an Oeſtreichs und Thuͤringens Hof.
Damals war die Dichtkunſt, nicht wie itzt, ein
Zeitvertreib weniger empfindlichen Menſchen, deren
Genie durch die Schoͤnheit der griechiſchen und roͤmi-
ſchen Dichter, die ſie zufaͤlliger Weiſe durch die
Schulgelehrſamkeit kennen gelernt, zur Nachah-
mung gereizt worden; ſie war, wie ſie ihrer Natur
nach ſeyn muß, ein aus den Sitten der Zeiten ent-
ſtandenes und auf dieſelben wieder zuruͤkwuͤrkendes
Geſchaͤfft. Die erwaͤhnte Sammlung der Minne-
ſinger enthaͤlt zwar meiſtens Lieder von galantem Jn-
halt; aber dieſe Materie war nicht der einzige Stoff
der damaligen Dichtkunſt. Wir haben auch da-
her noch Werke von verſchiedenen andern Dich-
tungsarten; Fabeln, moraliſche Gedichte und einige
von epiſchem Jnhalt und ritterlichen Thaten.
(††)
Ueberhaupt ſcheinet es, daß die Dichtkunſt dieſes
Zeitpunkts ganz in dem Geſchmak der provenzali-
ſchen Dichter geweſen, deren Werke noch haͤufig in
den franzoͤſiſchen Buͤcherſammlungen vorhanden, und
von denen Johann von Noſtradam, ein Bruder
des bekannten Profeten, viel Nachrichten herausge-
geben hat. Jn den epiſchen Gedichten dieſer Zeit
hat
(†) Sammlung von Minneſingern aus dem ſchwäbiſchen
Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend &b. Zurich bey Orell
u. Comp. 1758. 4. 2 Theile.
(††) Eines der betraͤchtlichſten iſt das, was Bodmer
unter dem Titel: Chriemhilden Rache 1757. herausge-
geben hat.
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