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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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hat man Mühe sich über das Abentheuerliche, das da-
rin herrscht, wegzusetzen, auch herrscht der Aberglaube
in voller Stärke darin; aber weder die Charaktere
der handelnden Personen, noch das Genie der Dich-
ter können uns gleichgültig bleiben.

Mit dem Anfang des XIV Jahrhunderts nahm
die schwäbische Dichtkunst stark ab, in der Mitte
desselben war sie schon sehr schlecht, und der gute Ge-
sang gieng unter. Weder der Haufe der im XV
und XVI Jahrhundert entstandenen Meistersänger,
noch die Verfasser der ungeheuren dramatischen Stü-
ke des letztgedachten Jahrhunderts, verdienen in der
Geschichte der Dichtkunst einen Platz. Aber die
Kirchenverbesserung hatte angefangen auf einen
Zweig der Dichtkunst einen günstigen Einfluß zu
haben. Man hat aus dieser Zeit geistliche Lieder,
die völlig die Sprach und den Ton haben, der die-
ser Gattung zukommt; nur sind sie unter der großen
Menge ganz schlechter so einzeln, daß sie keine Epo-
che in der Geschichte der deutschen Dichtkunst ma-
chen können, die man von den Zeiten der schwäbi-
schen Dichter an bis in das XVI Jahrhundert, ob-
gleich eine unzählbare Menge Reimer in diese Zwi-
schenzeit fallen, für erloschen ansehen kann.

Die Sitten und der Geschmak der Nation schei-
nen der Dichtkunst entgegen gewesen zu seyn; man
fand mehr Gefallen an theologischen Untersuchungen,
als an schönen Gegenständen der Einbildungskraft
und der Empfindung. Die beyden Straßburger
Johan Fischart und Sebastian Brand, die am Ende
des XV und Anfange des XVII Jahrhunderts gelebt
haben, beydes Männer von wahrem poetischen Ge-
nie, machten keinen Eindruk auf ihre Zeitverwand-
ten, und ihr Beyspiel beweißt hinlänglich, daß die Sit-
ten und der Geschmak der damaligen Zeiten schlechter-
dings nichts gehabt, das der Dichtkunst günstig ge-
wesen. Die große Welt hatte das Gefühl dafür
(*) S.
Sammlung
critischer,
pretischer
und andrer
geiftvoller
Schriften,
7 St. f. 54.
verlohren; sie gerieth dem Pöbel in die Hände (*),
und ward von ihm so gemißhandelt, wie sie noch in
den Schriften Hans Sachsens aussiehet.

Jn der ersten Hälfte des XVII Jahrhunderts er-
schien Martin Opitz, den die neuern Dichter Deutsch-
lands für den Vater der erneuerten Dichtkunst hal-
ten. Er hatte nicht nur das Genie eines Poeten,
sondern auch hinlängliche Kenntnis der Alten um es
auszubilden, und Geschiklichkeit die Sprache dem
starken und richtigen Ausdruk der Gedanken zu un-
terwerfen, und doch wolklingend zu seyn.

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Dic

Nach einer so langen Barbarey, in welche die
deutsche Dichtkunst versunken gewesen, hätte dieser
große Dichter nicht nur durch sein Beyspiel andre
Köpfe zur ächten Poesie wieder ermuntern, sondern
der Nation selbst einen Geschmak daran geben kön-
nen. Aber weder das eine noch das andre erfolgte.
Fast noch ein ganzes Jahrhundert hindurch, nach-
dem Opitz so schöne Proben von starken Gedanken,
von einer natürlich fließenden und dabey sehr nach-
drüklichen Sprache gegeben, sah Deutschland eine
Menge schlechter Dichter, die weder durch ihre Ma-
terie noch durch ihre Schreibart die geringste Auf-
merksamkeit verdienten. Und obgleich in dieser Zeit
hier und da einzele Spuhren des ächten poetischen
Geistes, wie z. B. in den kleinen Arbeiten eines
Logau und eines Wernike erschienen, so bedekte
doch auf der einen Seite ein falscher und abentheuer-
licher, auf der andern ein pöbelhafter Geschmak die
ganze deutsche Litteratur.

Erst gegen die Mitte des itzigen Jahrhunderts
drang das Genie einiger wahrhaftig schönen und
starken Geister durch die Dike der Finsternis hin-
durch, und zeigte Deutschland in vortrefflichen Pro-
ben, so wol das helle Licht der Critik, als den wah-
ren Geist der Dichtkunst. Bodmer, Haller, Hage-
dorn
sind die ersten gewesen, die den Schimpf der
Barbarey in Absicht auf die Dichtkunst, von Deutsch-
land weggenommen. Nun haben wir seit dreyßig
Jahren manchen schönen Geist, manchen angeneh-
men, auch manchen starkdenkenden Dichter gesehen;
wir haben von einheimischen Dichtern Proben, daß
der Geist, der den Homer, Pindar und Horaz belebt
hat, unter dem deutschen Himmel nicht fremd sey.
Alles scheinet uns gegenwärtig ein schönes Jahrhun-
dert für die deutsche Dichtkunst zu versprechen.
Aber der Geist und die Denkungsart desjenigen
Theils der Nation, der durch seinen Beyfall den
Dichtern Ruhm bringen, der den wichtigen Einfluß
der Dichtkunst auf die Gemüther an sich empfinden
und weiter ausbreiten sollte -- Wird dieser Theil
der Nation, ohne welchen die Dichtkunst blos eine
Beschäftigung weniger Liebhaber bleibet, wird er
die anscheinende Hoffnungen in Erfüllung bringen?
Wird ein feineres Gefühl des Schönen und Gu-
ten bey dem ansehnlichsten Theile der Nation so all-
gemein werden, wie das Gefühl von Galanterie
und Artigkeit, ritterlicher Ehre und Tapferkeit in
den Zeiten der schwäbischen Dichter gewesen ist?

Werden
Erster Theil. K k

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hat man Muͤhe ſich uͤber das Abentheuerliche, das da-
rin herrſcht, wegzuſetzen, auch herrſcht der Aberglaube
in voller Staͤrke darin; aber weder die Charaktere
der handelnden Perſonen, noch das Genie der Dich-
ter koͤnnen uns gleichguͤltig bleiben.

Mit dem Anfang des XIV Jahrhunderts nahm
die ſchwaͤbiſche Dichtkunſt ſtark ab, in der Mitte
deſſelben war ſie ſchon ſehr ſchlecht, und der gute Ge-
ſang gieng unter. Weder der Haufe der im XV
und XVI Jahrhundert entſtandenen Meiſterſaͤnger,
noch die Verfaſſer der ungeheuren dramatiſchen Stuͤ-
ke des letztgedachten Jahrhunderts, verdienen in der
Geſchichte der Dichtkunſt einen Platz. Aber die
Kirchenverbeſſerung hatte angefangen auf einen
Zweig der Dichtkunſt einen guͤnſtigen Einfluß zu
haben. Man hat aus dieſer Zeit geiſtliche Lieder,
die voͤllig die Sprach und den Ton haben, der die-
ſer Gattung zukommt; nur ſind ſie unter der großen
Menge ganz ſchlechter ſo einzeln, daß ſie keine Epo-
che in der Geſchichte der deutſchen Dichtkunſt ma-
chen koͤnnen, die man von den Zeiten der ſchwaͤbi-
ſchen Dichter an bis in das XVI Jahrhundert, ob-
gleich eine unzaͤhlbare Menge Reimer in dieſe Zwi-
ſchenzeit fallen, fuͤr erloſchen anſehen kann.

Die Sitten und der Geſchmak der Nation ſchei-
nen der Dichtkunſt entgegen geweſen zu ſeyn; man
fand mehr Gefallen an theologiſchen Unterſuchungen,
als an ſchoͤnen Gegenſtaͤnden der Einbildungskraft
und der Empfindung. Die beyden Straßburger
Johan Fiſchart und Sebaſtian Brand, die am Ende
des XV und Anfange des XVII Jahrhunderts gelebt
haben, beydes Maͤnner von wahrem poetiſchen Ge-
nie, machten keinen Eindruk auf ihre Zeitverwand-
ten, und ihr Beyſpiel beweißt hinlaͤnglich, daß die Sit-
ten und der Geſchmak der damaligen Zeiten ſchlechter-
dings nichts gehabt, das der Dichtkunſt guͤnſtig ge-
weſen. Die große Welt hatte das Gefuͤhl dafuͤr
(*) S.
Sam̃lung
critiſcher,
pretiſcher
und andrer
geiftvoller
Schriften,
7 St. f. 54.
verlohren; ſie gerieth dem Poͤbel in die Haͤnde (*),
und ward von ihm ſo gemißhandelt, wie ſie noch in
den Schriften Hans Sachſens ausſiehet.

Jn der erſten Haͤlfte des XVII Jahrhunderts er-
ſchien Martin Opitz, den die neuern Dichter Deutſch-
lands fuͤr den Vater der erneuerten Dichtkunſt hal-
ten. Er hatte nicht nur das Genie eines Poeten,
ſondern auch hinlaͤngliche Kenntnis der Alten um es
auszubilden, und Geſchiklichkeit die Sprache dem
ſtarken und richtigen Ausdruk der Gedanken zu un-
terwerfen, und doch wolklingend zu ſeyn.

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Dic

Nach einer ſo langen Barbarey, in welche die
deutſche Dichtkunſt verſunken geweſen, haͤtte dieſer
große Dichter nicht nur durch ſein Beyſpiel andre
Koͤpfe zur aͤchten Poeſie wieder ermuntern, ſondern
der Nation ſelbſt einen Geſchmak daran geben koͤn-
nen. Aber weder das eine noch das andre erfolgte.
Faſt noch ein ganzes Jahrhundert hindurch, nach-
dem Opitz ſo ſchoͤne Proben von ſtarken Gedanken,
von einer natuͤrlich fließenden und dabey ſehr nach-
druͤklichen Sprache gegeben, ſah Deutſchland eine
Menge ſchlechter Dichter, die weder durch ihre Ma-
terie noch durch ihre Schreibart die geringſte Auf-
merkſamkeit verdienten. Und obgleich in dieſer Zeit
hier und da einzele Spuhren des aͤchten poetiſchen
Geiſtes, wie z. B. in den kleinen Arbeiten eines
Logau und eines Wernike erſchienen, ſo bedekte
doch auf der einen Seite ein falſcher und abentheuer-
licher, auf der andern ein poͤbelhafter Geſchmak die
ganze deutſche Litteratur.

Erſt gegen die Mitte des itzigen Jahrhunderts
drang das Genie einiger wahrhaftig ſchoͤnen und
ſtarken Geiſter durch die Dike der Finſternis hin-
durch, und zeigte Deutſchland in vortrefflichen Pro-
ben, ſo wol das helle Licht der Critik, als den wah-
ren Geiſt der Dichtkunſt. Bodmer, Haller, Hage-
dorn
ſind die erſten geweſen, die den Schimpf der
Barbarey in Abſicht auf die Dichtkunſt, von Deutſch-
land weggenommen. Nun haben wir ſeit dreyßig
Jahren manchen ſchoͤnen Geiſt, manchen angeneh-
men, auch manchen ſtarkdenkenden Dichter geſehen;
wir haben von einheimiſchen Dichtern Proben, daß
der Geiſt, der den Homer, Pindar und Horaz belebt
hat, unter dem deutſchen Himmel nicht fremd ſey.
Alles ſcheinet uns gegenwaͤrtig ein ſchoͤnes Jahrhun-
dert fuͤr die deutſche Dichtkunſt zu verſprechen.
Aber der Geiſt und die Denkungsart desjenigen
Theils der Nation, der durch ſeinen Beyfall den
Dichtern Ruhm bringen, der den wichtigen Einfluß
der Dichtkunſt auf die Gemuͤther an ſich empfinden
und weiter ausbreiten ſollte — Wird dieſer Theil
der Nation, ohne welchen die Dichtkunſt blos eine
Beſchaͤftigung weniger Liebhaber bleibet, wird er
die anſcheinende Hoffnungen in Erfuͤllung bringen?
Wird ein feineres Gefuͤhl des Schoͤnen und Gu-
ten bey dem anſehnlichſten Theile der Nation ſo all-
gemein werden, wie das Gefuͤhl von Galanterie
und Artigkeit, ritterlicher Ehre und Tapferkeit in
den Zeiten der ſchwaͤbiſchen Dichter geweſen iſt?

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Erſter Theil. K k
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[257/0269] Dic Dic hat man Muͤhe ſich uͤber das Abentheuerliche, das da- rin herrſcht, wegzuſetzen, auch herrſcht der Aberglaube in voller Staͤrke darin; aber weder die Charaktere der handelnden Perſonen, noch das Genie der Dich- ter koͤnnen uns gleichguͤltig bleiben. Mit dem Anfang des XIV Jahrhunderts nahm die ſchwaͤbiſche Dichtkunſt ſtark ab, in der Mitte deſſelben war ſie ſchon ſehr ſchlecht, und der gute Ge- ſang gieng unter. Weder der Haufe der im XV und XVI Jahrhundert entſtandenen Meiſterſaͤnger, noch die Verfaſſer der ungeheuren dramatiſchen Stuͤ- ke des letztgedachten Jahrhunderts, verdienen in der Geſchichte der Dichtkunſt einen Platz. Aber die Kirchenverbeſſerung hatte angefangen auf einen Zweig der Dichtkunſt einen guͤnſtigen Einfluß zu haben. Man hat aus dieſer Zeit geiſtliche Lieder, die voͤllig die Sprach und den Ton haben, der die- ſer Gattung zukommt; nur ſind ſie unter der großen Menge ganz ſchlechter ſo einzeln, daß ſie keine Epo- che in der Geſchichte der deutſchen Dichtkunſt ma- chen koͤnnen, die man von den Zeiten der ſchwaͤbi- ſchen Dichter an bis in das XVI Jahrhundert, ob- gleich eine unzaͤhlbare Menge Reimer in dieſe Zwi- ſchenzeit fallen, fuͤr erloſchen anſehen kann. Die Sitten und der Geſchmak der Nation ſchei- nen der Dichtkunſt entgegen geweſen zu ſeyn; man fand mehr Gefallen an theologiſchen Unterſuchungen, als an ſchoͤnen Gegenſtaͤnden der Einbildungskraft und der Empfindung. Die beyden Straßburger Johan Fiſchart und Sebaſtian Brand, die am Ende des XV und Anfange des XVII Jahrhunderts gelebt haben, beydes Maͤnner von wahrem poetiſchen Ge- nie, machten keinen Eindruk auf ihre Zeitverwand- ten, und ihr Beyſpiel beweißt hinlaͤnglich, daß die Sit- ten und der Geſchmak der damaligen Zeiten ſchlechter- dings nichts gehabt, das der Dichtkunſt guͤnſtig ge- weſen. Die große Welt hatte das Gefuͤhl dafuͤr verlohren; ſie gerieth dem Poͤbel in die Haͤnde (*), und ward von ihm ſo gemißhandelt, wie ſie noch in den Schriften Hans Sachſens ausſiehet. (*) S. Sam̃lung critiſcher, pretiſcher und andrer geiftvoller Schriften, 7 St. f. 54. Jn der erſten Haͤlfte des XVII Jahrhunderts er- ſchien Martin Opitz, den die neuern Dichter Deutſch- lands fuͤr den Vater der erneuerten Dichtkunſt hal- ten. Er hatte nicht nur das Genie eines Poeten, ſondern auch hinlaͤngliche Kenntnis der Alten um es auszubilden, und Geſchiklichkeit die Sprache dem ſtarken und richtigen Ausdruk der Gedanken zu un- terwerfen, und doch wolklingend zu ſeyn. Nach einer ſo langen Barbarey, in welche die deutſche Dichtkunſt verſunken geweſen, haͤtte dieſer große Dichter nicht nur durch ſein Beyſpiel andre Koͤpfe zur aͤchten Poeſie wieder ermuntern, ſondern der Nation ſelbſt einen Geſchmak daran geben koͤn- nen. Aber weder das eine noch das andre erfolgte. Faſt noch ein ganzes Jahrhundert hindurch, nach- dem Opitz ſo ſchoͤne Proben von ſtarken Gedanken, von einer natuͤrlich fließenden und dabey ſehr nach- druͤklichen Sprache gegeben, ſah Deutſchland eine Menge ſchlechter Dichter, die weder durch ihre Ma- terie noch durch ihre Schreibart die geringſte Auf- merkſamkeit verdienten. Und obgleich in dieſer Zeit hier und da einzele Spuhren des aͤchten poetiſchen Geiſtes, wie z. B. in den kleinen Arbeiten eines Logau und eines Wernike erſchienen, ſo bedekte doch auf der einen Seite ein falſcher und abentheuer- licher, auf der andern ein poͤbelhafter Geſchmak die ganze deutſche Litteratur. Erſt gegen die Mitte des itzigen Jahrhunderts drang das Genie einiger wahrhaftig ſchoͤnen und ſtarken Geiſter durch die Dike der Finſternis hin- durch, und zeigte Deutſchland in vortrefflichen Pro- ben, ſo wol das helle Licht der Critik, als den wah- ren Geiſt der Dichtkunſt. Bodmer, Haller, Hage- dorn ſind die erſten geweſen, die den Schimpf der Barbarey in Abſicht auf die Dichtkunſt, von Deutſch- land weggenommen. Nun haben wir ſeit dreyßig Jahren manchen ſchoͤnen Geiſt, manchen angeneh- men, auch manchen ſtarkdenkenden Dichter geſehen; wir haben von einheimiſchen Dichtern Proben, daß der Geiſt, der den Homer, Pindar und Horaz belebt hat, unter dem deutſchen Himmel nicht fremd ſey. Alles ſcheinet uns gegenwaͤrtig ein ſchoͤnes Jahrhun- dert fuͤr die deutſche Dichtkunſt zu verſprechen. Aber der Geiſt und die Denkungsart desjenigen Theils der Nation, der durch ſeinen Beyfall den Dichtern Ruhm bringen, der den wichtigen Einfluß der Dichtkunſt auf die Gemuͤther an ſich empfinden und weiter ausbreiten ſollte — Wird dieſer Theil der Nation, ohne welchen die Dichtkunſt blos eine Beſchaͤftigung weniger Liebhaber bleibet, wird er die anſcheinende Hoffnungen in Erfuͤllung bringen? Wird ein feineres Gefuͤhl des Schoͤnen und Gu- ten bey dem anſehnlichſten Theile der Nation ſo all- gemein werden, wie das Gefuͤhl von Galanterie und Artigkeit, ritterlicher Ehre und Tapferkeit in den Zeiten der ſchwaͤbiſchen Dichter geweſen iſt? Werden Erſter Theil. K k

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/269>, abgerufen am 24.11.2024.