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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Werden unsre Dichter diesem Theil der Nation wich-
tige Männer seyn? Werden wir Dichter sehen, die
es nicht deßwegen sind, weil ihr noch junger Geist
von den Schönheiten der Alten zur Nachahmung
gereizt worden, sondern von dem Geiste getrieben,
der einen Homer, einen Sophokles, einen Euripi-
des zu Dichtern gemacht, und der dem Horaz seine
starken Oden an das römische Volk eingegeben
(*) Lib.
III. od. 5.
u. 6. Epod.
7. u.
16.
hat? (*) Diese Fragen muß die Zukunft beant-
worten.

Dichtkunst. Poetik.

Eine so wichtige Kunst, als die Poesie ist, verdienet
von Männern, die den feinesten Geschmak mit der
schärfsten Beurtheilung vereinigen, in ihrem psycho-
logischen Ursprung, in ihren mannigfaltigen Aeus-
serungen und in ihrer besten Anwendung betrachtet
zu werden. Nicht deswegen, daß durch die beste
Theorie dieser Kunst ein Dichter könnte gebildet
werden; denn nur die Natur kann dieses thun; son-
dern damit die, denen die Natur die Anlage gege-
ben, ihre Bestimmung deutlich erkennen lernten,
und einen Weg vorgezeichnet fänden, auf welchem
sie fortgehen müssen, um zu dem Grad der Grösse
zu kommen, dessen ihr Genie fähig ist.

Obgleich sehr viel zu dieser Theorie dienendes ge-
schrieben ist, so fehlt es noch an einem Lehrgebäude
der Dichtkunst. Die, welche davon geschrieben ha-
ben, fanden das, was sie voraus setzen sollten, die
Theorie der schönen Künste überhaupt, nicht vor
sich, deswegen liessen sie sich in vielerley Beobach-
tungen und Untersuchungen ein, die die Poesie
mit allen andern schönen Künsten gemein hat.

Wenn man die allgemeine Theorie der Künste,
oder die Aesthetik voraus setzet, so scheinet die Poe-
tik insbesondere folgende Untersuchungen zu erfodern.
Zuerst eine richtige Bestimmung des eigenthümlichen
Charakters der Poesie, wodurch sie zu einer beson-
dern Kunst wird, und der besondern Mittel, die sie
anwendet, den allgemeinen Zwek der Künste zu er-
reichen.

Hierauf würde der Charakter des Dichters, und
die nähere Bestimmung seines absonderlichen Genies
zu betrachten seyn, wodurch er gerade ein Dich-
ter, und nicht ein Redner oder ein andrer Künst-
ler wird.

Dann würde der wahre Begriff des Gedichts fest
zu setzen und bestimmt zu zeigen seyn, wodurch es
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sich von jedem andern Werk der redenden Künste
unterscheidet. Es würde sich hieraus ergeben, was
in der Materie oder in den Gedanken, was in der
Sprache und in der Art des Ausdrukes poetisch ist.
Hierauf müßte man versuchen, die verschiedenen Gat-
tungen des Gedichts allgemein zu bestimmen, und
den besondern Charakter einer jeden Gattung fest-
zusetzen. Man müßte den Ursprung der Gattung
und Arten in der Natur des poetischen Genies auf-
suchen, und daher wieder die, jeder Art vorzüglich
angemessene Materie, die geschiktesten Formen, und
den wahren Ton bestimmen.

Bey jedem besondern Theile dieser Untersuchun-
gen müßte man eine beständige Rüksicht auf die
praktische Anwendung der Theorie haben, damit der
Dichter dabey alles fände, was zu Erforschung und
Ausbildung seines Genies dienet. Er müßte daraus
lernen, durch was für Studium und Uebung er seine
Fähigkeiten erweitern, durch welche Wege er seinen
Stoff erfinden, und durch was für Arbeiten er die
Fertigkeit in seiner Art erwerben könne.

Wiewol es uns noch an einem solchen System
fehlet, so haben über alle zur Poetik gehörige Ma-
terien verschiedene grosse Männer alter und neuer
Zeit so viel einzele Betrachtungen vorgetragen, daß
dem, der das Werk im Zusammenhang ausfüh-
ren wollte, die Arbeit schon sehr würde erleichtert
werden.

Aristoteles scheinet zuerst die Bahn hiezu eröff-
net zu haben. Der Theil seiner Poetik, der auf
unsre Zeiten gekommen ist, zeuget, wie die mei-
sten Schriften dieses grossen Mannes, von scharfen
philosophischen Einsichten und feinem Geschmak.
Doch hat er, welches bey einem Genie, wie das
seinige war, das immer von den ersten und allge-
meinesten Grundsätzen anzufangen liebte, zu verwun-
dren ist, sich blos bey dem aufgehalten, was der Zu-
fall oder das Genie der Dichter bis auf seine Zei-
ten in der Poesie hervorgebracht hatte. Etwas all-
gemeiner und zugleich weiter aussehend ist das Lehr-
gedicht des Horaz; ein Werk, wo die wichtigsten Leh-
ren der Kunst auf die vollkommenste Weise vorgetra-
gen sind. Da es die größten Geheimnisse der Kunst
anzeiget, so sollte jeder Dichter dieses Werk unauf-
hörlich studiren. Aber Horaz hat als ein Dich-
ter geschrieben, dem es nicht erlaubt war, sich in
genaue Entwiklung der Sachen einzulassen. Er
spricht in dem Ton eines Gesetzgebers, dessen Wille

für

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Dic
Werden unſre Dichter dieſem Theil der Nation wich-
tige Maͤnner ſeyn? Werden wir Dichter ſehen, die
es nicht deßwegen ſind, weil ihr noch junger Geiſt
von den Schoͤnheiten der Alten zur Nachahmung
gereizt worden, ſondern von dem Geiſte getrieben,
der einen Homer, einen Sophokles, einen Euripi-
des zu Dichtern gemacht, und der dem Horaz ſeine
ſtarken Oden an das roͤmiſche Volk eingegeben
(*) Lib.
III. od. 5.
u. 6. Epod.
7. u.
16.
hat? (*) Dieſe Fragen muß die Zukunft beant-
worten.

Dichtkunſt. Poetik.

Eine ſo wichtige Kunſt, als die Poeſie iſt, verdienet
von Maͤnnern, die den feineſten Geſchmak mit der
ſchaͤrfſten Beurtheilung vereinigen, in ihrem pſycho-
logiſchen Urſprung, in ihren mannigfaltigen Aeuſ-
ſerungen und in ihrer beſten Anwendung betrachtet
zu werden. Nicht deswegen, daß durch die beſte
Theorie dieſer Kunſt ein Dichter koͤnnte gebildet
werden; denn nur die Natur kann dieſes thun; ſon-
dern damit die, denen die Natur die Anlage gege-
ben, ihre Beſtimmung deutlich erkennen lernten,
und einen Weg vorgezeichnet faͤnden, auf welchem
ſie fortgehen muͤſſen, um zu dem Grad der Groͤſſe
zu kommen, deſſen ihr Genie faͤhig iſt.

Obgleich ſehr viel zu dieſer Theorie dienendes ge-
ſchrieben iſt, ſo fehlt es noch an einem Lehrgebaͤude
der Dichtkunſt. Die, welche davon geſchrieben ha-
ben, fanden das, was ſie voraus ſetzen ſollten, die
Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte uͤberhaupt, nicht vor
ſich, deswegen lieſſen ſie ſich in vielerley Beobach-
tungen und Unterſuchungen ein, die die Poeſie
mit allen andern ſchoͤnen Kuͤnſten gemein hat.

Wenn man die allgemeine Theorie der Kuͤnſte,
oder die Aeſthetik voraus ſetzet, ſo ſcheinet die Poe-
tik insbeſondere folgende Unterſuchungen zu erfodern.
Zuerſt eine richtige Beſtimmung des eigenthuͤmlichen
Charakters der Poeſie, wodurch ſie zu einer beſon-
dern Kunſt wird, und der beſondern Mittel, die ſie
anwendet, den allgemeinen Zwek der Kuͤnſte zu er-
reichen.

Hierauf wuͤrde der Charakter des Dichters, und
die naͤhere Beſtimmung ſeines abſonderlichen Genies
zu betrachten ſeyn, wodurch er gerade ein Dich-
ter, und nicht ein Redner oder ein andrer Kuͤnſt-
ler wird.

Dann wuͤrde der wahre Begriff des Gedichts feſt
zu ſetzen und beſtimmt zu zeigen ſeyn, wodurch es
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ſich von jedem andern Werk der redenden Kuͤnſte
unterſcheidet. Es wuͤrde ſich hieraus ergeben, was
in der Materie oder in den Gedanken, was in der
Sprache und in der Art des Ausdrukes poetiſch iſt.
Hierauf muͤßte man verſuchen, die verſchiedenen Gat-
tungen des Gedichts allgemein zu beſtimmen, und
den beſondern Charakter einer jeden Gattung feſt-
zuſetzen. Man muͤßte den Urſprung der Gattung
und Arten in der Natur des poetiſchen Genies auf-
ſuchen, und daher wieder die, jeder Art vorzuͤglich
angemeſſene Materie, die geſchikteſten Formen, und
den wahren Ton beſtimmen.

Bey jedem beſondern Theile dieſer Unterſuchun-
gen muͤßte man eine beſtaͤndige Ruͤkſicht auf die
praktiſche Anwendung der Theorie haben, damit der
Dichter dabey alles faͤnde, was zu Erforſchung und
Ausbildung ſeines Genies dienet. Er muͤßte daraus
lernen, durch was fuͤr Studium und Uebung er ſeine
Faͤhigkeiten erweitern, durch welche Wege er ſeinen
Stoff erfinden, und durch was fuͤr Arbeiten er die
Fertigkeit in ſeiner Art erwerben koͤnne.

Wiewol es uns noch an einem ſolchen Syſtem
fehlet, ſo haben uͤber alle zur Poetik gehoͤrige Ma-
terien verſchiedene groſſe Maͤnner alter und neuer
Zeit ſo viel einzele Betrachtungen vorgetragen, daß
dem, der das Werk im Zuſammenhang ausfuͤh-
ren wollte, die Arbeit ſchon ſehr wuͤrde erleichtert
werden.

Ariſtoteles ſcheinet zuerſt die Bahn hiezu eroͤff-
net zu haben. Der Theil ſeiner Poetik, der auf
unſre Zeiten gekommen iſt, zeuget, wie die mei-
ſten Schriften dieſes groſſen Mannes, von ſcharfen
philoſophiſchen Einſichten und feinem Geſchmak.
Doch hat er, welches bey einem Genie, wie das
ſeinige war, das immer von den erſten und allge-
meineſten Grundſaͤtzen anzufangen liebte, zu verwun-
dren iſt, ſich blos bey dem aufgehalten, was der Zu-
fall oder das Genie der Dichter bis auf ſeine Zei-
ten in der Poeſie hervorgebracht hatte. Etwas all-
gemeiner und zugleich weiter ausſehend iſt das Lehr-
gedicht des Horaz; ein Werk, wo die wichtigſten Leh-
ren der Kunſt auf die vollkommenſte Weiſe vorgetra-
gen ſind. Da es die groͤßten Geheimniſſe der Kunſt
anzeiget, ſo ſollte jeder Dichter dieſes Werk unauf-
hoͤrlich ſtudiren. Aber Horaz hat als ein Dich-
ter geſchrieben, dem es nicht erlaubt war, ſich in
genaue Entwiklung der Sachen einzulaſſen. Er
ſpricht in dem Ton eines Geſetzgebers, deſſen Wille

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[258/0270] Dic Dic Werden unſre Dichter dieſem Theil der Nation wich- tige Maͤnner ſeyn? Werden wir Dichter ſehen, die es nicht deßwegen ſind, weil ihr noch junger Geiſt von den Schoͤnheiten der Alten zur Nachahmung gereizt worden, ſondern von dem Geiſte getrieben, der einen Homer, einen Sophokles, einen Euripi- des zu Dichtern gemacht, und der dem Horaz ſeine ſtarken Oden an das roͤmiſche Volk eingegeben hat? (*) Dieſe Fragen muß die Zukunft beant- worten. (*) Lib. III. od. 5. u. 6. Epod. 7. u. 16. Dichtkunſt. Poetik. Eine ſo wichtige Kunſt, als die Poeſie iſt, verdienet von Maͤnnern, die den feineſten Geſchmak mit der ſchaͤrfſten Beurtheilung vereinigen, in ihrem pſycho- logiſchen Urſprung, in ihren mannigfaltigen Aeuſ- ſerungen und in ihrer beſten Anwendung betrachtet zu werden. Nicht deswegen, daß durch die beſte Theorie dieſer Kunſt ein Dichter koͤnnte gebildet werden; denn nur die Natur kann dieſes thun; ſon- dern damit die, denen die Natur die Anlage gege- ben, ihre Beſtimmung deutlich erkennen lernten, und einen Weg vorgezeichnet faͤnden, auf welchem ſie fortgehen muͤſſen, um zu dem Grad der Groͤſſe zu kommen, deſſen ihr Genie faͤhig iſt. Obgleich ſehr viel zu dieſer Theorie dienendes ge- ſchrieben iſt, ſo fehlt es noch an einem Lehrgebaͤude der Dichtkunſt. Die, welche davon geſchrieben ha- ben, fanden das, was ſie voraus ſetzen ſollten, die Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte uͤberhaupt, nicht vor ſich, deswegen lieſſen ſie ſich in vielerley Beobach- tungen und Unterſuchungen ein, die die Poeſie mit allen andern ſchoͤnen Kuͤnſten gemein hat. Wenn man die allgemeine Theorie der Kuͤnſte, oder die Aeſthetik voraus ſetzet, ſo ſcheinet die Poe- tik insbeſondere folgende Unterſuchungen zu erfodern. Zuerſt eine richtige Beſtimmung des eigenthuͤmlichen Charakters der Poeſie, wodurch ſie zu einer beſon- dern Kunſt wird, und der beſondern Mittel, die ſie anwendet, den allgemeinen Zwek der Kuͤnſte zu er- reichen. Hierauf wuͤrde der Charakter des Dichters, und die naͤhere Beſtimmung ſeines abſonderlichen Genies zu betrachten ſeyn, wodurch er gerade ein Dich- ter, und nicht ein Redner oder ein andrer Kuͤnſt- ler wird. Dann wuͤrde der wahre Begriff des Gedichts feſt zu ſetzen und beſtimmt zu zeigen ſeyn, wodurch es ſich von jedem andern Werk der redenden Kuͤnſte unterſcheidet. Es wuͤrde ſich hieraus ergeben, was in der Materie oder in den Gedanken, was in der Sprache und in der Art des Ausdrukes poetiſch iſt. Hierauf muͤßte man verſuchen, die verſchiedenen Gat- tungen des Gedichts allgemein zu beſtimmen, und den beſondern Charakter einer jeden Gattung feſt- zuſetzen. Man muͤßte den Urſprung der Gattung und Arten in der Natur des poetiſchen Genies auf- ſuchen, und daher wieder die, jeder Art vorzuͤglich angemeſſene Materie, die geſchikteſten Formen, und den wahren Ton beſtimmen. Bey jedem beſondern Theile dieſer Unterſuchun- gen muͤßte man eine beſtaͤndige Ruͤkſicht auf die praktiſche Anwendung der Theorie haben, damit der Dichter dabey alles faͤnde, was zu Erforſchung und Ausbildung ſeines Genies dienet. Er muͤßte daraus lernen, durch was fuͤr Studium und Uebung er ſeine Faͤhigkeiten erweitern, durch welche Wege er ſeinen Stoff erfinden, und durch was fuͤr Arbeiten er die Fertigkeit in ſeiner Art erwerben koͤnne. Wiewol es uns noch an einem ſolchen Syſtem fehlet, ſo haben uͤber alle zur Poetik gehoͤrige Ma- terien verſchiedene groſſe Maͤnner alter und neuer Zeit ſo viel einzele Betrachtungen vorgetragen, daß dem, der das Werk im Zuſammenhang ausfuͤh- ren wollte, die Arbeit ſchon ſehr wuͤrde erleichtert werden. Ariſtoteles ſcheinet zuerſt die Bahn hiezu eroͤff- net zu haben. Der Theil ſeiner Poetik, der auf unſre Zeiten gekommen iſt, zeuget, wie die mei- ſten Schriften dieſes groſſen Mannes, von ſcharfen philoſophiſchen Einſichten und feinem Geſchmak. Doch hat er, welches bey einem Genie, wie das ſeinige war, das immer von den erſten und allge- meineſten Grundſaͤtzen anzufangen liebte, zu verwun- dren iſt, ſich blos bey dem aufgehalten, was der Zu- fall oder das Genie der Dichter bis auf ſeine Zei- ten in der Poeſie hervorgebracht hatte. Etwas all- gemeiner und zugleich weiter ausſehend iſt das Lehr- gedicht des Horaz; ein Werk, wo die wichtigſten Leh- ren der Kunſt auf die vollkommenſte Weiſe vorgetra- gen ſind. Da es die groͤßten Geheimniſſe der Kunſt anzeiget, ſo ſollte jeder Dichter dieſes Werk unauf- hoͤrlich ſtudiren. Aber Horaz hat als ein Dich- ter geſchrieben, dem es nicht erlaubt war, ſich in genaue Entwiklung der Sachen einzulaſſen. Er ſpricht in dem Ton eines Geſetzgebers, deſſen Wille fuͤr

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/270>, abgerufen am 24.11.2024.