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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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chardsons zu danken. Man weiß aus der Erfah-
rung, daß erdichtete Gegenstände in Werken des
Geschmaks gerade so rühren, als wenn sie würklich
vorhanden gewesen wären, und daß ein Roman uns
eben so intreßirt, als wenn alle seine Erzählungen
würklich geschehene Dinge zum Grund hätten. So
bald die Erdichtung wahrscheinlich ist, so begreifen
wir die Möglichkeit der erdichteten Sache. Stellt die
Erdichtung einen Charakter, eine That, eine mora-
lische Handlung vor, so ist es eben so viel, als
wenn man uns auf eine andre Weise deutliche Be-
griffe von diesen Sachen gegeben hätte; wir sehen
daraus, wie Menschen denken, empfinden und han-
deln können. Dieses ist eben so viel, als ob wir
die würkliche Erfahrung davon hätten. Sind es
gute Muster, welche die Erdichtung uns dargestellt
hat, so erweken sie eben die Bewunderung, eben
den Trieb sich auf diese Vollkommenheit zu schwin-
gen, als wenn die Sachen würklich vorhanden wä-
ren. Sind sie böse, so erweken sie eben den Abscheu,
als die Würklichkeit. Stellt uns die Erdichtung Be-
gebenheiten vor, so erkennen wir, was geschehen
könnte, und dieses reizt unser Verlangen, unsre Be-
wunderung, unsern Abschen, eben so gut, als wenn
die Sachen geschehen wären. S. Theilnehmung,
Wahrscheinlichkeit, Täuschung.

Die Dichtungskraft ist eine Eigenschaft der Ein-
bildungskraft, und ist desto ausgedähnter, je lebhaf-
ter diese ist. Wem die Natur sie versagt hat, der
kann den Mangel durch keinen Fleiß ersetzen. Aber
wie alle Vermögen der Seele durch Uebung verstärkt
werden, so kann man auch in der Dichtungskraft
eine grössere Fertigkeit durch die Uebung erlangen.
Durch diese gewöhnt man sich an, jeden Gegenstand,
der uns vorkommt, erst genau zu betrachten, denn
einiges darin anders zu denken, Umstände davon zu
lassen, oder hinzuzuthun, und so entstehen erdichtete
Gegenstände. Je mehr man nun erfahren hat, je
leichter wird die Erdichtung. So wie einer, der eine
grosse Anzahl Maschinen gesehen hat, deswegen leich-
ter eine neue erfinden kann, weil er eine grosse
Menge hiezu dienlicher Begriffe und Verbindungen
im Kopf hat, so kann der, welcher die größte Erfah-
rung hat, auch leichter Erdichtungen machen.

Aber diese Dichtungskraft ist nur alsdenn wich-
tig, wenn sie von einem scharfen Verstand unter-
stützt wird, ohne welchen sie gar leicht ins Aben-
theuerliche ausschweifft. Darum muß in der Seele
[Spaltenumbruch]

Dic Die
des Künstlers der Verstand eine völlige Herrschaft
über die lebhafteste Würksamkeit der Einbildungs-
kraft behalten. Man kann jungen Künstiern nicht
ofte genug wiederholen, daß sie ihre größte Bemü-
hung auf die Schärfung des Verstandes und eines
gesunden Urtheils anwenden, weil nur dadurch die
Erdichtungen in der Anlage und Erfindung wahr-
scheinlich und der Natur gemäß, in ihrer Würkung
aber wichtig werden können.

Dichtsäulig.
(Baukunst.)

Diejenige von den in der alten Baukunst gebräuch-
lichen fünf Arten, die Säulen an einem Gebäude
zu stellen, nach welcher sie am dichtesten oder enge-
sten aneinander kamen. (*) Nach dem Vitruvius(*) S.
Säulen-
stellung.

kommen bey dieser Bauart die Axen der Säulen
fünf Model weit auseinander, so daß der Raum
zwischen zwey Säulenstämmen drey Model oder
anderthalbe Säulendikke weit wird. Wenn man
in den Gebäuden blos auf die Festigkeit sehen wollte,
so dürfte man die Säulen nie so nahe aneinander
setzen; es ist also zu vermuthen, daß die Alten bey
dichtsäuligen Gebäuden eine andre Absicht, als die
Festigkeit gehabt haben. Man empfindet in der
That bey Betrachtung eines Gebäudes, um wel-
ches eine dichtsäulige Laube herumgeht, vielleicht
wegen der dadurch verursachten Dunkelheit, etwas
feyerliches, wie in einem dichten Wald. Also schikt
sich diese Bauart vorzüglich zu Tempeln. Doch schei-
net sie auch das Gefühl von Pracht und Reichthum
zu vermehren. Perrault merkt sehr wol an, daß
sich diese Art besser für die hohen und feinen Ord-
nungen, wie die corinthische ist, als für niedrigere
und stärkere schiket.

Dielenköpfe.
(Baukunst.)

Sind Zierrathen, welche bisweilen an dem dori-
schen, auch wol an andern Gebälken gerade unter
der Kranzleiste angebracht werden. Sie kommen
an die Stellen, wo sonst in der corinthischen und in
der römischen Ordnung die Sparrenköpfe oder Mo-
dillion
stehen. Und wie diese als die herausstehen-
den Enden der Dachsparren können angesehen wer-
den, so kann man die Dielenköpfe für herausstehende
Dielen halten; deswegen sie weniger dik oder hoch
sind, als die Sparrenköpfe. Man sehe die Zeich-

nung

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Dic
chardſons zu danken. Man weiß aus der Erfah-
rung, daß erdichtete Gegenſtaͤnde in Werken des
Geſchmaks gerade ſo ruͤhren, als wenn ſie wuͤrklich
vorhanden geweſen waͤren, und daß ein Roman uns
eben ſo intreßirt, als wenn alle ſeine Erzaͤhlungen
wuͤrklich geſchehene Dinge zum Grund haͤtten. So
bald die Erdichtung wahrſcheinlich iſt, ſo begreifen
wir die Moͤglichkeit der erdichteten Sache. Stellt die
Erdichtung einen Charakter, eine That, eine mora-
liſche Handlung vor, ſo iſt es eben ſo viel, als
wenn man uns auf eine andre Weiſe deutliche Be-
griffe von dieſen Sachen gegeben haͤtte; wir ſehen
daraus, wie Menſchen denken, empfinden und han-
deln koͤnnen. Dieſes iſt eben ſo viel, als ob wir
die wuͤrkliche Erfahrung davon haͤtten. Sind es
gute Muſter, welche die Erdichtung uns dargeſtellt
hat, ſo erweken ſie eben die Bewunderung, eben
den Trieb ſich auf dieſe Vollkommenheit zu ſchwin-
gen, als wenn die Sachen wuͤrklich vorhanden waͤ-
ren. Sind ſie boͤſe, ſo erweken ſie eben den Abſcheu,
als die Wuͤrklichkeit. Stellt uns die Erdichtung Be-
gebenheiten vor, ſo erkennen wir, was geſchehen
koͤnnte, und dieſes reizt unſer Verlangen, unſre Be-
wunderung, unſern Abſchen, eben ſo gut, als wenn
die Sachen geſchehen waͤren. S. Theilnehmung,
Wahrſcheinlichkeit, Taͤuſchung.

Die Dichtungskraft iſt eine Eigenſchaft der Ein-
bildungskraft, und iſt deſto ausgedaͤhnter, je lebhaf-
ter dieſe iſt. Wem die Natur ſie verſagt hat, der
kann den Mangel durch keinen Fleiß erſetzen. Aber
wie alle Vermoͤgen der Seele durch Uebung verſtaͤrkt
werden, ſo kann man auch in der Dichtungskraft
eine groͤſſere Fertigkeit durch die Uebung erlangen.
Durch dieſe gewoͤhnt man ſich an, jeden Gegenſtand,
der uns vorkommt, erſt genau zu betrachten, denn
einiges darin anders zu denken, Umſtaͤnde davon zu
laſſen, oder hinzuzuthun, und ſo entſtehen erdichtete
Gegenſtaͤnde. Je mehr man nun erfahren hat, je
leichter wird die Erdichtung. So wie einer, der eine
groſſe Anzahl Maſchinen geſehen hat, deswegen leich-
ter eine neue erfinden kann, weil er eine groſſe
Menge hiezu dienlicher Begriffe und Verbindungen
im Kopf hat, ſo kann der, welcher die groͤßte Erfah-
rung hat, auch leichter Erdichtungen machen.

Aber dieſe Dichtungskraft iſt nur alsdenn wich-
tig, wenn ſie von einem ſcharfen Verſtand unter-
ſtuͤtzt wird, ohne welchen ſie gar leicht ins Aben-
theuerliche ausſchweifft. Darum muß in der Seele
[Spaltenumbruch]

Dic Die
des Kuͤnſtlers der Verſtand eine voͤllige Herrſchaft
uͤber die lebhafteſte Wuͤrkſamkeit der Einbildungs-
kraft behalten. Man kann jungen Kuͤnſtiern nicht
ofte genug wiederholen, daß ſie ihre groͤßte Bemuͤ-
hung auf die Schaͤrfung des Verſtandes und eines
geſunden Urtheils anwenden, weil nur dadurch die
Erdichtungen in der Anlage und Erfindung wahr-
ſcheinlich und der Natur gemaͤß, in ihrer Wuͤrkung
aber wichtig werden koͤnnen.

Dichtſaͤulig.
(Baukunſt.)

Diejenige von den in der alten Baukunſt gebraͤuch-
lichen fuͤnf Arten, die Saͤulen an einem Gebaͤude
zu ſtellen, nach welcher ſie am dichteſten oder enge-
ſten aneinander kamen. (*) Nach dem Vitruvius(*) S.
Saͤulen-
ſtellung.

kommen bey dieſer Bauart die Axen der Saͤulen
fuͤnf Model weit auseinander, ſo daß der Raum
zwiſchen zwey Saͤulenſtaͤmmen drey Model oder
anderthalbe Saͤulendikke weit wird. Wenn man
in den Gebaͤuden blos auf die Feſtigkeit ſehen wollte,
ſo duͤrfte man die Saͤulen nie ſo nahe aneinander
ſetzen; es iſt alſo zu vermuthen, daß die Alten bey
dichtſaͤuligen Gebaͤuden eine andre Abſicht, als die
Feſtigkeit gehabt haben. Man empfindet in der
That bey Betrachtung eines Gebaͤudes, um wel-
ches eine dichtſaͤulige Laube herumgeht, vielleicht
wegen der dadurch verurſachten Dunkelheit, etwas
feyerliches, wie in einem dichten Wald. Alſo ſchikt
ſich dieſe Bauart vorzuͤglich zu Tempeln. Doch ſchei-
net ſie auch das Gefuͤhl von Pracht und Reichthum
zu vermehren. Perrault merkt ſehr wol an, daß
ſich dieſe Art beſſer fuͤr die hohen und feinen Ord-
nungen, wie die corinthiſche iſt, als fuͤr niedrigere
und ſtaͤrkere ſchiket.

Dielenkoͤpfe.
(Baukunſt.)

Sind Zierrathen, welche bisweilen an dem dori-
ſchen, auch wol an andern Gebaͤlken gerade unter
der Kranzleiſte angebracht werden. Sie kommen
an die Stellen, wo ſonſt in der corinthiſchen und in
der roͤmiſchen Ordnung die Sparrenkoͤpfe oder Mo-
dillion
ſtehen. Und wie dieſe als die herausſtehen-
den Enden der Dachſparren koͤnnen angeſehen wer-
den, ſo kann man die Dielenkoͤpfe fuͤr herausſtehende
Dielen halten; deswegen ſie weniger dik oder hoch
ſind, als die Sparrenkoͤpfe. Man ſehe die Zeich-

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[260/0272] Dic Dic Die chardſons zu danken. Man weiß aus der Erfah- rung, daß erdichtete Gegenſtaͤnde in Werken des Geſchmaks gerade ſo ruͤhren, als wenn ſie wuͤrklich vorhanden geweſen waͤren, und daß ein Roman uns eben ſo intreßirt, als wenn alle ſeine Erzaͤhlungen wuͤrklich geſchehene Dinge zum Grund haͤtten. So bald die Erdichtung wahrſcheinlich iſt, ſo begreifen wir die Moͤglichkeit der erdichteten Sache. Stellt die Erdichtung einen Charakter, eine That, eine mora- liſche Handlung vor, ſo iſt es eben ſo viel, als wenn man uns auf eine andre Weiſe deutliche Be- griffe von dieſen Sachen gegeben haͤtte; wir ſehen daraus, wie Menſchen denken, empfinden und han- deln koͤnnen. Dieſes iſt eben ſo viel, als ob wir die wuͤrkliche Erfahrung davon haͤtten. Sind es gute Muſter, welche die Erdichtung uns dargeſtellt hat, ſo erweken ſie eben die Bewunderung, eben den Trieb ſich auf dieſe Vollkommenheit zu ſchwin- gen, als wenn die Sachen wuͤrklich vorhanden waͤ- ren. Sind ſie boͤſe, ſo erweken ſie eben den Abſcheu, als die Wuͤrklichkeit. Stellt uns die Erdichtung Be- gebenheiten vor, ſo erkennen wir, was geſchehen koͤnnte, und dieſes reizt unſer Verlangen, unſre Be- wunderung, unſern Abſchen, eben ſo gut, als wenn die Sachen geſchehen waͤren. S. Theilnehmung, Wahrſcheinlichkeit, Taͤuſchung. Die Dichtungskraft iſt eine Eigenſchaft der Ein- bildungskraft, und iſt deſto ausgedaͤhnter, je lebhaf- ter dieſe iſt. Wem die Natur ſie verſagt hat, der kann den Mangel durch keinen Fleiß erſetzen. Aber wie alle Vermoͤgen der Seele durch Uebung verſtaͤrkt werden, ſo kann man auch in der Dichtungskraft eine groͤſſere Fertigkeit durch die Uebung erlangen. Durch dieſe gewoͤhnt man ſich an, jeden Gegenſtand, der uns vorkommt, erſt genau zu betrachten, denn einiges darin anders zu denken, Umſtaͤnde davon zu laſſen, oder hinzuzuthun, und ſo entſtehen erdichtete Gegenſtaͤnde. Je mehr man nun erfahren hat, je leichter wird die Erdichtung. So wie einer, der eine groſſe Anzahl Maſchinen geſehen hat, deswegen leich- ter eine neue erfinden kann, weil er eine groſſe Menge hiezu dienlicher Begriffe und Verbindungen im Kopf hat, ſo kann der, welcher die groͤßte Erfah- rung hat, auch leichter Erdichtungen machen. Aber dieſe Dichtungskraft iſt nur alsdenn wich- tig, wenn ſie von einem ſcharfen Verſtand unter- ſtuͤtzt wird, ohne welchen ſie gar leicht ins Aben- theuerliche ausſchweifft. Darum muß in der Seele des Kuͤnſtlers der Verſtand eine voͤllige Herrſchaft uͤber die lebhafteſte Wuͤrkſamkeit der Einbildungs- kraft behalten. Man kann jungen Kuͤnſtiern nicht ofte genug wiederholen, daß ſie ihre groͤßte Bemuͤ- hung auf die Schaͤrfung des Verſtandes und eines geſunden Urtheils anwenden, weil nur dadurch die Erdichtungen in der Anlage und Erfindung wahr- ſcheinlich und der Natur gemaͤß, in ihrer Wuͤrkung aber wichtig werden koͤnnen. Dichtſaͤulig. (Baukunſt.) Diejenige von den in der alten Baukunſt gebraͤuch- lichen fuͤnf Arten, die Saͤulen an einem Gebaͤude zu ſtellen, nach welcher ſie am dichteſten oder enge- ſten aneinander kamen. (*) Nach dem Vitruvius kommen bey dieſer Bauart die Axen der Saͤulen fuͤnf Model weit auseinander, ſo daß der Raum zwiſchen zwey Saͤulenſtaͤmmen drey Model oder anderthalbe Saͤulendikke weit wird. Wenn man in den Gebaͤuden blos auf die Feſtigkeit ſehen wollte, ſo duͤrfte man die Saͤulen nie ſo nahe aneinander ſetzen; es iſt alſo zu vermuthen, daß die Alten bey dichtſaͤuligen Gebaͤuden eine andre Abſicht, als die Feſtigkeit gehabt haben. Man empfindet in der That bey Betrachtung eines Gebaͤudes, um wel- ches eine dichtſaͤulige Laube herumgeht, vielleicht wegen der dadurch verurſachten Dunkelheit, etwas feyerliches, wie in einem dichten Wald. Alſo ſchikt ſich dieſe Bauart vorzuͤglich zu Tempeln. Doch ſchei- net ſie auch das Gefuͤhl von Pracht und Reichthum zu vermehren. Perrault merkt ſehr wol an, daß ſich dieſe Art beſſer fuͤr die hohen und feinen Ord- nungen, wie die corinthiſche iſt, als fuͤr niedrigere und ſtaͤrkere ſchiket. (*) S. Saͤulen- ſtellung. Dielenkoͤpfe. (Baukunſt.) Sind Zierrathen, welche bisweilen an dem dori- ſchen, auch wol an andern Gebaͤlken gerade unter der Kranzleiſte angebracht werden. Sie kommen an die Stellen, wo ſonſt in der corinthiſchen und in der roͤmiſchen Ordnung die Sparrenkoͤpfe oder Mo- dillion ſtehen. Und wie dieſe als die herausſtehen- den Enden der Dachſparren koͤnnen angeſehen wer- den, ſo kann man die Dielenkoͤpfe fuͤr herausſtehende Dielen halten; deswegen ſie weniger dik oder hoch ſind, als die Sparrenkoͤpfe. Man ſehe die Zeich- nung

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/272>, abgerufen am 24.11.2024.