Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Ein nem Tonstük, das durchaus einerley Takt hat, darfman nur den ersten Takt ins Ohr gefaßt haben, um durch das ganze Stük den Takt richtig anzu- schlagen. Also erleichtert die Einförmigkeit die Vor- stellung einer aus viel Theilen bestehenden Sache, und macht, daß man sie, wenigstens in Absicht auf eine Eigenschaft, auf einmal sieht oder erkennet. Erstrekt sich aber diese Einförmigkeit auf alles, Sie zernichtet also den Reiz, den die Vorstel- Da also in den Theilen eines Gegenstandes Ein- Es sind zwey Künste, deren Werke den übrigen Ein desto freyer und ungehinderter sey. Eben die ein-schläfernde Eigenschaft der Einförmigkeit, wenn sie blos die Zerstreuung der Sinnen hemmt, bewürkt eine desto freyere Aufmerksamkeit auf weniger sinn- liche Dinge. Es ist sehr viel leichter bey einem immer einförmigen Geräusche eines Wasserfalles mit völliger Freyheit des Geistes einer Betrachtung nach- zuhängen, als wenn alle Augenblik ein anderes Geräusche sich hören läßt. Die Wahrheit dieser Be- obachtung beweiset die Musik am deutlichsten. Der Takt und die Reinigkeit der Harmonie sind das Ein- förmige, die das Gehör in immer gleicher Fassung oder in ruhiger Lage erhalten; die den hellern Empfindungen, welche durch das Sprechende der Töne erregt werden, völlige Freyheit verstatten. Man glaubt bey jedem guten Gesang einen von ge- wissen Empfindungen gerührten Menschen sprechen zu hören; man folget ihm in allen Aeusserungen sei- ner Empfindung nach, so lange die völlige Einför- migkeit des Takts und die Reinigkeit der Harmonie das Gehör in einer ruhigen Fassung lassen: aber jeder Fehler gegen die völlige Einförmigkeit des Takts oder gegen die reine Fortschreitung der Harmonie unterbricht die Ruhe des Gehörs; die Aufmerksam- keit wird von dem Jnhalt des Gesanges abgezo- gen, und auf das blos Tönende desselben gelenkt, weil darin etwas neues vorkommt. Dieses ist im Grund eben das, was wir erfahren, wenn wir ei- nem Redner lange mit Aufmerksamkeit zugehört, jeden Begriff und Gedanken völlig gefaßt haben, auf einmal aber, wenn er zu stottern, oder überhaupt in einem andern Tone zu reden anfangt, plötzlich die Aufmerksamkeit von den Gedanken der Rede auf ihren Ton lenken. Jedes Werk der Kunst hat einen Körper, der die Der P p 2
[Spaltenumbruch] Ein nem Tonſtuͤk, das durchaus einerley Takt hat, darfman nur den erſten Takt ins Ohr gefaßt haben, um durch das ganze Stuͤk den Takt richtig anzu- ſchlagen. Alſo erleichtert die Einfoͤrmigkeit die Vor- ſtellung einer aus viel Theilen beſtehenden Sache, und macht, daß man ſie, wenigſtens in Abſicht auf eine Eigenſchaft, auf einmal ſieht oder erkennet. Erſtrekt ſich aber dieſe Einfoͤrmigkeit auf alles, Sie zernichtet alſo den Reiz, den die Vorſtel- Da alſo in den Theilen eines Gegenſtandes Ein- Es ſind zwey Kuͤnſte, deren Werke den uͤbrigen Ein deſto freyer und ungehinderter ſey. Eben die ein-ſchlaͤfernde Eigenſchaft der Einfoͤrmigkeit, wenn ſie blos die Zerſtreuung der Sinnen hemmt, bewuͤrkt eine deſto freyere Aufmerkſamkeit auf weniger ſinn- liche Dinge. Es iſt ſehr viel leichter bey einem immer einfoͤrmigen Geraͤuſche eines Waſſerfalles mit voͤlliger Freyheit des Geiſtes einer Betrachtung nach- zuhaͤngen, als wenn alle Augenblik ein anderes Geraͤuſche ſich hoͤren laͤßt. Die Wahrheit dieſer Be- obachtung beweiſet die Muſik am deutlichſten. Der Takt und die Reinigkeit der Harmonie ſind das Ein- foͤrmige, die das Gehoͤr in immer gleicher Faſſung oder in ruhiger Lage erhalten; die den hellern Empfindungen, welche durch das Sprechende der Toͤne erregt werden, voͤllige Freyheit verſtatten. Man glaubt bey jedem guten Geſang einen von ge- wiſſen Empfindungen geruͤhrten Menſchen ſprechen zu hoͤren; man folget ihm in allen Aeuſſerungen ſei- ner Empfindung nach, ſo lange die voͤllige Einfoͤr- migkeit des Takts und die Reinigkeit der Harmonie das Gehoͤr in einer ruhigen Faſſung laſſen: aber jeder Fehler gegen die voͤllige Einfoͤrmigkeit des Takts oder gegen die reine Fortſchreitung der Harmonie unterbricht die Ruhe des Gehoͤrs; die Aufmerkſam- keit wird von dem Jnhalt des Geſanges abgezo- gen, und auf das blos Toͤnende deſſelben gelenkt, weil darin etwas neues vorkommt. Dieſes iſt im Grund eben das, was wir erfahren, wenn wir ei- nem Redner lange mit Aufmerkſamkeit zugehoͤrt, jeden Begriff und Gedanken voͤllig gefaßt haben, auf einmal aber, wenn er zu ſtottern, oder uͤberhaupt in einem andern Tone zu reden anfangt, ploͤtzlich die Aufmerkſamkeit von den Gedanken der Rede auf ihren Ton lenken. Jedes Werk der Kunſt hat einen Koͤrper, der die Der P p 2
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So iſt die<lb/> Reyhe 2. 2. 2, ꝛc. eigentlich keine unendliche Reyhe,<lb/> wie die vorher angefuͤhrten, ſondern eine Zahl, ohne<lb/> End wiederholt; da dieſe Reyhe 1. 2. 3. 4. ꝛc. ver-<lb/> ſchiedene Zahlen enthaͤlt, deren jede aber nach der-<lb/> ſelben Regel, wie alle andre, aus der vorhergehenden<lb/> entſteht. Jene ſich auf alles erſtrekende Einfoͤrmig-<lb/> keit iſt der Mannigfaltigkeit entgegen geſetzt, macht<lb/> eine vollkommene Gleichheit der Theile aus, und<lb/> giebt der Vorſtellung anſtatt des vielfaͤltigen nur<lb/> eines.</p><lb/> <p>Sie zernichtet alſo den Reiz, den die Vorſtel-<lb/> lungskraft durch das Mannigfaltige bekoͤmmt,<lb/> ſie bringt eine Erſchlaffung in derſelben hervor, und<lb/> iſt die Mutter der Langenweile und des Schlafs.<lb/> Nichts iſt langweiler, als ein Leben, wo jeder Tag<lb/> dem andern gleich iſt; und eine voͤllige Einfoͤrmig-<lb/> keit ſinnlicher Eindruͤke, wie das Murmeln eines<lb/> Baches, oder das Eintoͤnige einer Rede, ſchlaͤfert<lb/> ſehr bald ein.</p><lb/> <p>Da alſo in den Theilen eines Gegenſtandes Ein-<lb/> foͤrmigkeit und Mannigfaltigkeit zugleich vorhanden<lb/> ſeyn muͤſſen, wenn er ſinnliche Aufmerkſamkeit un-<lb/> terhalten ſoll, dieſe beyden Eigenſchaften aber ein-<lb/> ander einigermaaſſen entgegen ſtehen; ſo wird ein<lb/> feiner Geſchmak dazu erfodert die Dinge ſo einzu-<lb/> richten, daß Einfoͤrmigkeit und Mannigfaltigkeit<lb/> einander gleichſam die Waage halten.</p><lb/> <p>Es ſind zwey Kuͤnſte, deren Werke den uͤbrigen<lb/> hierin zum Muſter dienen koͤnnen; die Baukunſt fuͤr<lb/> Dinge, die zugleich neben einander ſind, und die Muſik<lb/> fuͤr ſolche, die auf einander folgen. Das Geheimniß<lb/> der Vereinigung der Einfoͤrmigkeit und der Man-<lb/> nigfaltigkeit kommt im Grunde darauf hinaus, daß<lb/> das dunkle Gefuͤhl einer voͤlligen Einfoͤrmigkeit<lb/> alle ſinnliche Zerſtreuungen hemme, damit die Auf-<lb/> merkſamkeit auf die etwas helleren Vorſtellungen<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ein</hi></fw><lb/> deſto freyer und ungehinderter ſey. Eben die ein-<lb/> ſchlaͤfernde Eigenſchaft der Einfoͤrmigkeit, wenn ſie<lb/> blos die Zerſtreuung der Sinnen hemmt, bewuͤrkt<lb/> eine deſto freyere Aufmerkſamkeit auf weniger ſinn-<lb/> liche Dinge. Es iſt ſehr viel leichter bey einem<lb/> immer einfoͤrmigen Geraͤuſche eines Waſſerfalles mit<lb/> voͤlliger Freyheit des Geiſtes einer Betrachtung nach-<lb/> zuhaͤngen, als wenn alle Augenblik ein anderes<lb/> Geraͤuſche ſich hoͤren laͤßt. Die Wahrheit dieſer Be-<lb/> obachtung beweiſet die Muſik am deutlichſten. 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Ein
Ein
nem Tonſtuͤk, das durchaus einerley Takt hat, darf
man nur den erſten Takt ins Ohr gefaßt haben,
um durch das ganze Stuͤk den Takt richtig anzu-
ſchlagen. Alſo erleichtert die Einfoͤrmigkeit die Vor-
ſtellung einer aus viel Theilen beſtehenden Sache,
und macht, daß man ſie, wenigſtens in Abſicht auf
eine Eigenſchaft, auf einmal ſieht oder erkennet.
Erſtrekt ſich aber dieſe Einfoͤrmigkeit auf alles,
was zur Beſchaffenheit oder zur Ordnung der Theile
gehoͤrt, ſo wird der Begriff des vielfachen einiger-
maaſſen zernichtet, und wir erbliken in einer ganzen
Reyhe von Dingen immer nur daſſelbe. So iſt die
Reyhe 2. 2. 2, ꝛc. eigentlich keine unendliche Reyhe,
wie die vorher angefuͤhrten, ſondern eine Zahl, ohne
End wiederholt; da dieſe Reyhe 1. 2. 3. 4. ꝛc. ver-
ſchiedene Zahlen enthaͤlt, deren jede aber nach der-
ſelben Regel, wie alle andre, aus der vorhergehenden
entſteht. Jene ſich auf alles erſtrekende Einfoͤrmig-
keit iſt der Mannigfaltigkeit entgegen geſetzt, macht
eine vollkommene Gleichheit der Theile aus, und
giebt der Vorſtellung anſtatt des vielfaͤltigen nur
eines.
Sie zernichtet alſo den Reiz, den die Vorſtel-
lungskraft durch das Mannigfaltige bekoͤmmt,
ſie bringt eine Erſchlaffung in derſelben hervor, und
iſt die Mutter der Langenweile und des Schlafs.
Nichts iſt langweiler, als ein Leben, wo jeder Tag
dem andern gleich iſt; und eine voͤllige Einfoͤrmig-
keit ſinnlicher Eindruͤke, wie das Murmeln eines
Baches, oder das Eintoͤnige einer Rede, ſchlaͤfert
ſehr bald ein.
Da alſo in den Theilen eines Gegenſtandes Ein-
foͤrmigkeit und Mannigfaltigkeit zugleich vorhanden
ſeyn muͤſſen, wenn er ſinnliche Aufmerkſamkeit un-
terhalten ſoll, dieſe beyden Eigenſchaften aber ein-
ander einigermaaſſen entgegen ſtehen; ſo wird ein
feiner Geſchmak dazu erfodert die Dinge ſo einzu-
richten, daß Einfoͤrmigkeit und Mannigfaltigkeit
einander gleichſam die Waage halten.
Es ſind zwey Kuͤnſte, deren Werke den uͤbrigen
hierin zum Muſter dienen koͤnnen; die Baukunſt fuͤr
Dinge, die zugleich neben einander ſind, und die Muſik
fuͤr ſolche, die auf einander folgen. Das Geheimniß
der Vereinigung der Einfoͤrmigkeit und der Man-
nigfaltigkeit kommt im Grunde darauf hinaus, daß
das dunkle Gefuͤhl einer voͤlligen Einfoͤrmigkeit
alle ſinnliche Zerſtreuungen hemme, damit die Auf-
merkſamkeit auf die etwas helleren Vorſtellungen
deſto freyer und ungehinderter ſey. Eben die ein-
ſchlaͤfernde Eigenſchaft der Einfoͤrmigkeit, wenn ſie
blos die Zerſtreuung der Sinnen hemmt, bewuͤrkt
eine deſto freyere Aufmerkſamkeit auf weniger ſinn-
liche Dinge. Es iſt ſehr viel leichter bey einem
immer einfoͤrmigen Geraͤuſche eines Waſſerfalles mit
voͤlliger Freyheit des Geiſtes einer Betrachtung nach-
zuhaͤngen, als wenn alle Augenblik ein anderes
Geraͤuſche ſich hoͤren laͤßt. Die Wahrheit dieſer Be-
obachtung beweiſet die Muſik am deutlichſten. Der
Takt und die Reinigkeit der Harmonie ſind das Ein-
foͤrmige, die das Gehoͤr in immer gleicher Faſſung
oder in ruhiger Lage erhalten; die den hellern
Empfindungen, welche durch das Sprechende der
Toͤne erregt werden, voͤllige Freyheit verſtatten.
Man glaubt bey jedem guten Geſang einen von ge-
wiſſen Empfindungen geruͤhrten Menſchen ſprechen
zu hoͤren; man folget ihm in allen Aeuſſerungen ſei-
ner Empfindung nach, ſo lange die voͤllige Einfoͤr-
migkeit des Takts und die Reinigkeit der Harmonie
das Gehoͤr in einer ruhigen Faſſung laſſen: aber
jeder Fehler gegen die voͤllige Einfoͤrmigkeit des Takts
oder gegen die reine Fortſchreitung der Harmonie
unterbricht die Ruhe des Gehoͤrs; die Aufmerkſam-
keit wird von dem Jnhalt des Geſanges abgezo-
gen, und auf das blos Toͤnende deſſelben gelenkt,
weil darin etwas neues vorkommt. Dieſes iſt im
Grund eben das, was wir erfahren, wenn wir ei-
nem Redner lange mit Aufmerkſamkeit zugehoͤrt,
jeden Begriff und Gedanken voͤllig gefaßt haben, auf
einmal aber, wenn er zu ſtottern, oder uͤberhaupt
in einem andern Tone zu reden anfangt, ploͤtzlich
die Aufmerkſamkeit von den Gedanken der Rede
auf ihren Ton lenken.
Jedes Werk der Kunſt hat einen Koͤrper, der die
aͤußern Sinnen ruͤhrt, und einen Geiſt, der die in-
nern Sinnen beſchaͤftiget. Jn der Muſik ſind Takt
und Harmonie der Koͤrper; der Ausdruk aber ſezt
den Geiſt in Wuͤrkſamkeit, der nun einen von tiefer
Empfindung geruͤhrten Menſchen hoͤrt, dem er durch
alle Entwiklungen des Affekts folget. Jn dem Ge-
maͤhlde ſind die Farben, das helle und dunkele, die
verſchiedenen Maſſen, der Koͤrper; dieſe feſſeln das
Aug, mittlerweile aber beſchaͤftiget der Geiſt ſich
mit den Handlungen, Gedanken und Empfindungen
der vorgeſtellten Perſonen, oder wenn es eine Land-
ſchaft ohne Perſonen iſt, mit dem vergnuͤglichen oder
traurigen oder ſchreklichen, was ſie an ſich hat.
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