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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Ein
helfen hier wenig; es kommt alles auf eine gesunde
Urtheilskraft des Redners an, und auf eine genaue
Kenntnis der Sinnesart seiner Zuhörer in Ansehung
der Sache, die er vorzutragen hat. Daß ein Red-
ner Gehör finde, oder nicht; daß er seine Zuhörer
überzeuge oder nicht, hänget gar oft von einer kaum
merklichen Kleinigkeit ab. Es erfodert einen grossen
Kenner des menschlichen Herzens, und in jedem be-
sondern Fall der Personen und der Umstände, um
diese Kleinigkeiten, die der Sache helfen oder sie
verderben, zu entdeken.

Die Urtheile der Menschen sind gar selten Erfolge
der Ueberlegung oder der richtigen Bemerkung der
Dinge, von denen die Wahrheit des Urtheils ab-
hängt: in den meisten Fällen entstehen sie aus ei-
nem dunkeln Gefühl, auf welches Nebensachen den
stärksten Einfluß haben; so daß die meisten Urtheile
würkliche Vorurtheile sind. Man hat sehr ofte
Gelegenheit sich zu verwundern, wie das, was uns
so gar einleuchtend vorkommt, andern unbegreiflich
ist; wie das, was wir für so offenbar recht halten,
andern ganz unrecht scheinet. Wer nicht zu kurz
kommen will, muß sich nicht leicht auf Wahrheit
oder Gerechtigkeit verlassen, weil eine Kleinigkeit, ein
Gefühl diese verkennen macht.

Da es die Absicht des Einganges ist, solche im
dunkeln Gefühl des Zuhörers liegende Hindernisse
aus dem Wege zu räumen, oder etwas vortheil-
haftes für die Sache des Redners in dasselbe zu le-
gen, so ist offenbar, daß es beym Eingange mehr
darauf ankommt das Gefühl, als den Verstand des
Zuhörers anzugreifen. Es ist deswegen eine ver-
gebliche Sache, dem Redner Regeln für den Ein-
gang vorzuschreiben. Bisweilen kommt es viel-
mehr auf den Ton an, worin er anfängt, als auf
die Sachen, die er sagt.

Einige Kunstrichter halten den Beschluß für den
(*) S.
Beschluß.
wichtigsten Theil der Rede, (*) oft aber ist es der
Eingang; weil die gründlichste oder rührendste Rede
nur dann etwas hilft, wenn der Zuhörer Verstand
und Gefühl für dieselbe offen behält, welches vor-
nehmlich der Eingang bewürken muß. Es ist also
[Spaltenumbruch]

Ein
kaum ein Theil der Rede, an dem man die Grösse
des Redners besser erkennen kann, als der Eingang.
Das große Genie des Cicero zeiget sich vornehmlich in
seinen Eingängen, die fast immer sehr glüklich sind.

Eingeständniß.
(Beredsamkeit.)

Eine rhetorische Figur, (*) die in Beweisen und(*) Con-
cessio.

Widerlegungen mit grossem Vortheil kann gebraucht
werden. Wenn man nämlich merkt, daß dem Zu-
hörer noch ein Zweifel gegen das, was man be-
wiesen hat, übrig bleibet, der aber kann gehoben
werden, so wird er desto sicherer gehoben, wenn man
seine Richtigkeit, oder sein Gewicht eingesteht. Zum
Beyspiel kann folgende Stelle [Spaltenumbruch] (+) dienen. "Man
"muß in dem Staatskörper, um das Ganze zu er-
"halten, den Theil, der mit einem um sich fressenden
"Krebsschaden angestekt ist, ganz abtrennen. Ein
"harter Ausspruch; ich gestehe es.
Aber viel här-
"ter ist dieser: Man erhalte die Nichtswürdigen,
"die Bößwichte, die Gottlosen, und vertilge dadurch
"die unschuldigen, die guten und rechtschaffenen
"Bürger, die ganze Republik."

Etwas auf diese Art eingestehen, ist im Grund
nichts anders, als einen Schritt rükwerts thun,
um desto weiter vorwärts zu springen. Man siehet,
daß das Eingeständniß, dura vox, der Rede eine
grössere Kraft giebt. Denn wenn das schon hart
ist, Böse zu bestrafen, wie viel härter ist es nicht,
Gute zu unterdrüken.

Wenn bey dem Eingeständniß noch ein Spott ist,
so wird seine Kraft noch grösser, wie in folgendem
Beyspiel. "Wir sind (wie du vorgiebst) in unsern
"Meinungen nur wenig, und geringer Sachen hal-
"ber aus einander. Jch bin diesem gewogen, du
"jenem. Freylich hat die Sache weiter nichts auf
"sich, als daß ich für den D. Brutus, du für den
"M. Antonius redetest." [Spaltenumbruch] (++)

Torquatus, der Ankläger des P. Sylla, hatte dessen
Vertheidiger dem Cicero vorgeworfen, daß er
herrschsüchtig sey, und hat ihm so gar den verhaß-
ten Namen eines Königs gegeben. Cicero zeigt die

Un-
(+) In reip. corpore, ut totum salvum sit, quicquid est pesti-
ferum amputetur. Dura vox. Multo illa durior: Salvi sint
improbi, scelerati, impii: deleantur innocentes, honesti,
boni, tota respublica. Cic. Philip. VIII. c.
5.
(++) Parva anim mihi tecum, aut de parva re dissensio.
Ego huic videlicet saveo, tu illi. Immo vero ego D. Brute
farco, tu M. Antonio. Cic.
in derselben Rede.
P p 3

[Spaltenumbruch]

Ein
helfen hier wenig; es kommt alles auf eine geſunde
Urtheilskraft des Redners an, und auf eine genaue
Kenntnis der Sinnesart ſeiner Zuhoͤrer in Anſehung
der Sache, die er vorzutragen hat. Daß ein Red-
ner Gehoͤr finde, oder nicht; daß er ſeine Zuhoͤrer
uͤberzeuge oder nicht, haͤnget gar oft von einer kaum
merklichen Kleinigkeit ab. Es erfodert einen groſſen
Kenner des menſchlichen Herzens, und in jedem be-
ſondern Fall der Perſonen und der Umſtaͤnde, um
dieſe Kleinigkeiten, die der Sache helfen oder ſie
verderben, zu entdeken.

Die Urtheile der Menſchen ſind gar ſelten Erfolge
der Ueberlegung oder der richtigen Bemerkung der
Dinge, von denen die Wahrheit des Urtheils ab-
haͤngt: in den meiſten Faͤllen entſtehen ſie aus ei-
nem dunkeln Gefuͤhl, auf welches Nebenſachen den
ſtaͤrkſten Einfluß haben; ſo daß die meiſten Urtheile
wuͤrkliche Vorurtheile ſind. Man hat ſehr ofte
Gelegenheit ſich zu verwundern, wie das, was uns
ſo gar einleuchtend vorkommt, andern unbegreiflich
iſt; wie das, was wir fuͤr ſo offenbar recht halten,
andern ganz unrecht ſcheinet. Wer nicht zu kurz
kommen will, muß ſich nicht leicht auf Wahrheit
oder Gerechtigkeit verlaſſen, weil eine Kleinigkeit, ein
Gefuͤhl dieſe verkennen macht.

Da es die Abſicht des Einganges iſt, ſolche im
dunkeln Gefuͤhl des Zuhoͤrers liegende Hinderniſſe
aus dem Wege zu raͤumen, oder etwas vortheil-
haftes fuͤr die Sache des Redners in daſſelbe zu le-
gen, ſo iſt offenbar, daß es beym Eingange mehr
darauf ankommt das Gefuͤhl, als den Verſtand des
Zuhoͤrers anzugreifen. Es iſt deswegen eine ver-
gebliche Sache, dem Redner Regeln fuͤr den Ein-
gang vorzuſchreiben. Bisweilen kommt es viel-
mehr auf den Ton an, worin er anfaͤngt, als auf
die Sachen, die er ſagt.

Einige Kunſtrichter halten den Beſchluß fuͤr den
(*) S.
Beſchluß.
wichtigſten Theil der Rede, (*) oft aber iſt es der
Eingang; weil die gruͤndlichſte oder ruͤhrendſte Rede
nur dann etwas hilft, wenn der Zuhoͤrer Verſtand
und Gefuͤhl fuͤr dieſelbe offen behaͤlt, welches vor-
nehmlich der Eingang bewuͤrken muß. Es iſt alſo
[Spaltenumbruch]

Ein
kaum ein Theil der Rede, an dem man die Groͤſſe
des Redners beſſer erkennen kann, als der Eingang.
Das große Genie des Cicero zeiget ſich vornehmlich in
ſeinen Eingaͤngen, die faſt immer ſehr gluͤklich ſind.

Eingeſtaͤndniß.
(Beredſamkeit.)

Eine rhetoriſche Figur, (*) die in Beweiſen und(*) Con-
ceſſio.

Widerlegungen mit groſſem Vortheil kann gebraucht
werden. Wenn man naͤmlich merkt, daß dem Zu-
hoͤrer noch ein Zweifel gegen das, was man be-
wieſen hat, uͤbrig bleibet, der aber kann gehoben
werden, ſo wird er deſto ſicherer gehoben, wenn man
ſeine Richtigkeit, oder ſein Gewicht eingeſteht. Zum
Beyſpiel kann folgende Stelle [Spaltenumbruch] (†) dienen. „Man
„muß in dem Staatskoͤrper, um das Ganze zu er-
„halten, den Theil, der mit einem um ſich freſſenden
„Krebsſchaden angeſtekt iſt, ganz abtrennen. Ein
„harter Ausſpruch; ich geſtehe es.
Aber viel haͤr-
„ter iſt dieſer: Man erhalte die Nichtswuͤrdigen,
„die Boͤßwichte, die Gottloſen, und vertilge dadurch
„die unſchuldigen, die guten und rechtſchaffenen
„Buͤrger, die ganze Republik.‟

Etwas auf dieſe Art eingeſtehen, iſt im Grund
nichts anders, als einen Schritt ruͤkwerts thun,
um deſto weiter vorwaͤrts zu ſpringen. Man ſiehet,
daß das Eingeſtaͤndniß, dura vox, der Rede eine
groͤſſere Kraft giebt. Denn wenn das ſchon hart
iſt, Boͤſe zu beſtrafen, wie viel haͤrter iſt es nicht,
Gute zu unterdruͤken.

Wenn bey dem Eingeſtaͤndniß noch ein Spott iſt,
ſo wird ſeine Kraft noch groͤſſer, wie in folgendem
Beyſpiel. „Wir ſind (wie du vorgiebſt) in unſern
„Meinungen nur wenig, und geringer Sachen hal-
„ber aus einander. Jch bin dieſem gewogen, du
„jenem. Freylich hat die Sache weiter nichts auf
„ſich, als daß ich fuͤr den D. Brutus, du fuͤr den
„M. Antonius redeteſt.‟ [Spaltenumbruch] (††)

Torquatus, der Anklaͤger des P. Sylla, hatte deſſen
Vertheidiger dem Cicero vorgeworfen, daß er
herrſchſuͤchtig ſey, und hat ihm ſo gar den verhaß-
ten Namen eines Koͤnigs gegeben. Cicero zeigt die

Un-
(†) In reip. corpore, ut totum ſalvum ſit, quicquid eſt peſti-
ferum amputetur. Dura vox. Multo illa durior: Salvi ſint
improbi, ſcelerati, impii: deleantur innocentes, honeſti,
boni, tota reſpublica. Cic. Philip. VIII. c.
5.
(††) Parva anim mihi tecum, aut de parva re diſſenſio.
Ego huic videlicet ſaveo, tu illi. Immo vero ego D. Brute
farco, tu M. Antonio. Cic.
in derſelben Rede.
P p 3
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[301/0313] Ein Ein helfen hier wenig; es kommt alles auf eine geſunde Urtheilskraft des Redners an, und auf eine genaue Kenntnis der Sinnesart ſeiner Zuhoͤrer in Anſehung der Sache, die er vorzutragen hat. Daß ein Red- ner Gehoͤr finde, oder nicht; daß er ſeine Zuhoͤrer uͤberzeuge oder nicht, haͤnget gar oft von einer kaum merklichen Kleinigkeit ab. Es erfodert einen groſſen Kenner des menſchlichen Herzens, und in jedem be- ſondern Fall der Perſonen und der Umſtaͤnde, um dieſe Kleinigkeiten, die der Sache helfen oder ſie verderben, zu entdeken. Die Urtheile der Menſchen ſind gar ſelten Erfolge der Ueberlegung oder der richtigen Bemerkung der Dinge, von denen die Wahrheit des Urtheils ab- haͤngt: in den meiſten Faͤllen entſtehen ſie aus ei- nem dunkeln Gefuͤhl, auf welches Nebenſachen den ſtaͤrkſten Einfluß haben; ſo daß die meiſten Urtheile wuͤrkliche Vorurtheile ſind. Man hat ſehr ofte Gelegenheit ſich zu verwundern, wie das, was uns ſo gar einleuchtend vorkommt, andern unbegreiflich iſt; wie das, was wir fuͤr ſo offenbar recht halten, andern ganz unrecht ſcheinet. Wer nicht zu kurz kommen will, muß ſich nicht leicht auf Wahrheit oder Gerechtigkeit verlaſſen, weil eine Kleinigkeit, ein Gefuͤhl dieſe verkennen macht. Da es die Abſicht des Einganges iſt, ſolche im dunkeln Gefuͤhl des Zuhoͤrers liegende Hinderniſſe aus dem Wege zu raͤumen, oder etwas vortheil- haftes fuͤr die Sache des Redners in daſſelbe zu le- gen, ſo iſt offenbar, daß es beym Eingange mehr darauf ankommt das Gefuͤhl, als den Verſtand des Zuhoͤrers anzugreifen. Es iſt deswegen eine ver- gebliche Sache, dem Redner Regeln fuͤr den Ein- gang vorzuſchreiben. Bisweilen kommt es viel- mehr auf den Ton an, worin er anfaͤngt, als auf die Sachen, die er ſagt. Einige Kunſtrichter halten den Beſchluß fuͤr den wichtigſten Theil der Rede, (*) oft aber iſt es der Eingang; weil die gruͤndlichſte oder ruͤhrendſte Rede nur dann etwas hilft, wenn der Zuhoͤrer Verſtand und Gefuͤhl fuͤr dieſelbe offen behaͤlt, welches vor- nehmlich der Eingang bewuͤrken muß. Es iſt alſo kaum ein Theil der Rede, an dem man die Groͤſſe des Redners beſſer erkennen kann, als der Eingang. Das große Genie des Cicero zeiget ſich vornehmlich in ſeinen Eingaͤngen, die faſt immer ſehr gluͤklich ſind. (*) S. Beſchluß. Eingeſtaͤndniß. (Beredſamkeit.) Eine rhetoriſche Figur, (*) die in Beweiſen und Widerlegungen mit groſſem Vortheil kann gebraucht werden. Wenn man naͤmlich merkt, daß dem Zu- hoͤrer noch ein Zweifel gegen das, was man be- wieſen hat, uͤbrig bleibet, der aber kann gehoben werden, ſo wird er deſto ſicherer gehoben, wenn man ſeine Richtigkeit, oder ſein Gewicht eingeſteht. Zum Beyſpiel kann folgende Stelle (†) dienen. „Man „muß in dem Staatskoͤrper, um das Ganze zu er- „halten, den Theil, der mit einem um ſich freſſenden „Krebsſchaden angeſtekt iſt, ganz abtrennen. Ein „harter Ausſpruch; ich geſtehe es. Aber viel haͤr- „ter iſt dieſer: Man erhalte die Nichtswuͤrdigen, „die Boͤßwichte, die Gottloſen, und vertilge dadurch „die unſchuldigen, die guten und rechtſchaffenen „Buͤrger, die ganze Republik.‟ (*) Con- ceſſio. Etwas auf dieſe Art eingeſtehen, iſt im Grund nichts anders, als einen Schritt ruͤkwerts thun, um deſto weiter vorwaͤrts zu ſpringen. Man ſiehet, daß das Eingeſtaͤndniß, dura vox, der Rede eine groͤſſere Kraft giebt. Denn wenn das ſchon hart iſt, Boͤſe zu beſtrafen, wie viel haͤrter iſt es nicht, Gute zu unterdruͤken. Wenn bey dem Eingeſtaͤndniß noch ein Spott iſt, ſo wird ſeine Kraft noch groͤſſer, wie in folgendem Beyſpiel. „Wir ſind (wie du vorgiebſt) in unſern „Meinungen nur wenig, und geringer Sachen hal- „ber aus einander. Jch bin dieſem gewogen, du „jenem. Freylich hat die Sache weiter nichts auf „ſich, als daß ich fuͤr den D. Brutus, du fuͤr den „M. Antonius redeteſt.‟ (††) Torquatus, der Anklaͤger des P. Sylla, hatte deſſen Vertheidiger dem Cicero vorgeworfen, daß er herrſchſuͤchtig ſey, und hat ihm ſo gar den verhaß- ten Namen eines Koͤnigs gegeben. Cicero zeigt die Un- (†) In reip. corpore, ut totum ſalvum ſit, quicquid eſt peſti- ferum amputetur. Dura vox. Multo illa durior: Salvi ſint improbi, ſcelerati, impii: deleantur innocentes, honeſti, boni, tota reſpublica. Cic. Philip. VIII. c. 5. (††) Parva anim mihi tecum, aut de parva re diſſenſio. Ego huic videlicet ſaveo, tu illi. Immo vero ego D. Brute farco, tu M. Antonio. Cic. in derſelben Rede. P p 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/313>, abgerufen am 22.11.2024.