Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Emp Theorie der Künste diese wichtige Frage, wie dieEmpfindungen überhaupt müssen behandelt werden. Die allgemeine Beantwortung dieser Frage ist Eine allgemeine, wol geordnete Empfindsamkeit Emp zu dienen die so unendlich verschiedenen Gegenständeund Scenen, aus der leblosen und aus der belebten, aus der blos physischen und aus der sittlichen Welt. Alle Gegenstände des Geschmaks werden im Ge- mähld, in der Beschreibung, in der Ode, in der Epopee oder im Drama, in jeder Gattung der Be- handlung so vorgelegt, daß die Seele ihre Empfind- samkeit daran üben könne, daß sie das Schöne und Gute angenehm, das Häßliche und Böse wiedrig empfinde. Hiebey hat also der Künstler nur dafür zu sorgen, daß jedes in seiner wahren Gestalt hell vor uns stehe, damit wir es empfinden mögen. Er hat sich vor dem unbestimmten und unwürksamen zu hüten, auf die richtigste Zeichnung jedes Gegen- standes zu befleissen, und auf eine gute Form seines Werks zu denken, wodurch es im Ganzen intres- sant wird. Aber die allgemeine Regel der Weisheit muß er Man erzählt von der Porcia, des großen Catos mache Erster Theil. R r
[Spaltenumbruch] Emp Theorie der Kuͤnſte dieſe wichtige Frage, wie dieEmpfindungen uͤberhaupt muͤſſen behandelt werden. Die allgemeine Beantwortung dieſer Frage iſt Eine allgemeine, wol geordnete Empfindſamkeit Emp zu dienen die ſo unendlich verſchiedenen Gegenſtaͤndeund Scenen, aus der lebloſen und aus der belebten, aus der blos phyſiſchen und aus der ſittlichen Welt. Alle Gegenſtaͤnde des Geſchmaks werden im Ge- maͤhld, in der Beſchreibung, in der Ode, in der Epopee oder im Drama, in jeder Gattung der Be- handlung ſo vorgelegt, daß die Seele ihre Empfind- ſamkeit daran uͤben koͤnne, daß ſie das Schoͤne und Gute angenehm, das Haͤßliche und Boͤſe wiedrig empfinde. Hiebey hat alſo der Kuͤnſtler nur dafuͤr zu ſorgen, daß jedes in ſeiner wahren Geſtalt hell vor uns ſtehe, damit wir es empfinden moͤgen. Er hat ſich vor dem unbeſtimmten und unwuͤrkſamen zu huͤten, auf die richtigſte Zeichnung jedes Gegen- ſtandes zu befleiſſen, und auf eine gute Form ſeines Werks zu denken, wodurch es im Ganzen intreſ- ſant wird. Aber die allgemeine Regel der Weisheit muß er Man erzaͤhlt von der Porcia, des großen Catos mache Erſter Theil. R r
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Der Menſch muß auf der einen<lb/> Seite einen gewiſſen Grad der Empfindſamkeit fuͤr<lb/> das Schoͤne und Haͤßliche, fuͤr das Gute und Boͤſe<lb/> haben; denn der unempfindliche Menſch iſt in An-<lb/> ſehung des ſittlichen Lebens ſo uͤbel daran, als der<lb/> deſſen Sinnen ſtumpf ſind, fuͤr das thieriſche Le-<lb/> ben; auf der andern Seite iſt es wichtig, daß er<lb/> nach den allgemeinen und beſondern Verhaͤltniſſen,<lb/> darin er lebt, gewiſſe, mehr oder weniger herrſchen-<lb/> de, Empfindungen in ſeiner Seele habe, aus deren<lb/> harmoniſcher Miſchung ein ſeinem Stand und Be-<lb/> ruf wol angemeſſener moraliſcher Charakter entſteht.<lb/> Alſo muͤſſen die ſchoͤnen Kuͤnſte dieſe beyden Beduͤrf-<lb/> niſſe des Menſchen zu ihrem letzten Endzweck haben;<lb/> ſie muͤſſen das ihrige beytragen, ihm einen wol ge-<lb/> maͤßigten Grad der Empfindſamkeit zu geben, und eine<lb/> gute Miſchung herrſchender Empfindungen in ſeiner<lb/> Seele feſt zu ſetzen; bey beſondern Gelegenheiten aber<lb/> muͤſſen ſie ſo wol die Empfindſamkeit, als die herr-<lb/> ſchenden Empfindungen in dem Grad erweken, als<lb/> es noͤthig iſt, ihn thaͤtig zu machen. Diejenigen<lb/> alſo, die ſich einbilden, der Kuͤnſtler habe nichts zu<lb/> thun, als mancherley Gegenſtaͤnde der Empfindun-<lb/> gen, in einer angenehmen Miſchung durch einander,<lb/> dem Geſchmak ſo vorzulegen, daß aus dem Spiel<lb/> der Empfindungen ein unterhaltender Zeitvertreib<lb/> entſteht, haben zu niedrige Begriffe von der Kunſt.<lb/> Werke von dieſer Art wollen wir nicht verwerfen;<lb/> ſie gehoͤren, wie die mancherley angenehmen Sce-<lb/> nen der lebloſen Natur, die Empfindſamkeit des Her-<lb/> zens zu unterhalten: aber wie der ſchoͤne Schmuk<lb/> der Natur nur das Kleid iſt, das die, zur allge-<lb/> meinen Erhaltung und Vervollkommnung aller Weſen<lb/> abzielenden Kraͤfte einhuͤllet, ſo muͤſſen auch die an-<lb/> genehmen Werke der Kunſt, durch die, unter dem<lb/> ſchoͤnen Kleide liegenden, hoͤhern Kraͤfte ihren Werth<lb/> bekommen.</p><lb/> <p>Eine allgemeine, wol geordnete Empfindſamkeit<lb/> des Herzens iſt alſo der allgemeineſte Zwek der ſchoͤ-<lb/> nen Kuͤnſte. 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Hiebey hat alſo der Kuͤnſtler nur dafuͤr<lb/> zu ſorgen, daß jedes in ſeiner wahren Geſtalt hell<lb/> vor uns ſtehe, damit wir es empfinden moͤgen. Er<lb/> hat ſich vor dem unbeſtimmten und unwuͤrkſamen<lb/> zu huͤten, auf die richtigſte Zeichnung jedes Gegen-<lb/> ſtandes zu befleiſſen, und auf eine gute Form ſeines<lb/> Werks zu denken, wodurch es im Ganzen intreſ-<lb/> ſant wird.</p><lb/> <p>Aber die allgemeine Regel der Weisheit muß er<lb/> nicht aus den Augen laſſen, daß er das Maaß der<lb/> Empfindſamkeit nicht uͤberſchreite. Denn wie der<lb/> Mangel der genugſamen Empfindſamkeit eine große<lb/> Unvollkommenheit iſt, indem er den Menſchen ſteiff<lb/> und unthaͤtig macht, ſo iſt auch ihr Uebermaaß ſehr<lb/> ſchaͤdlich, weil es ihn weichlich, ſchwach und un-<lb/> maͤnnlich macht. Dieſe wichtige Warnung, die<lb/> Sachen nicht zu weit zu treiben, ſcheinen einige<lb/> unſrer deutſchen Dichter, die ſonſt unter die beſten<lb/> gehoͤren, beſonders noͤthig zu haben. 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Emp
Emp
Theorie der Kuͤnſte dieſe wichtige Frage, wie die
Empfindungen uͤberhaupt muͤſſen behandelt werden.
Die allgemeine Beantwortung dieſer Frage iſt
nicht ſchweer. Der Menſch muß auf der einen
Seite einen gewiſſen Grad der Empfindſamkeit fuͤr
das Schoͤne und Haͤßliche, fuͤr das Gute und Boͤſe
haben; denn der unempfindliche Menſch iſt in An-
ſehung des ſittlichen Lebens ſo uͤbel daran, als der
deſſen Sinnen ſtumpf ſind, fuͤr das thieriſche Le-
ben; auf der andern Seite iſt es wichtig, daß er
nach den allgemeinen und beſondern Verhaͤltniſſen,
darin er lebt, gewiſſe, mehr oder weniger herrſchen-
de, Empfindungen in ſeiner Seele habe, aus deren
harmoniſcher Miſchung ein ſeinem Stand und Be-
ruf wol angemeſſener moraliſcher Charakter entſteht.
Alſo muͤſſen die ſchoͤnen Kuͤnſte dieſe beyden Beduͤrf-
niſſe des Menſchen zu ihrem letzten Endzweck haben;
ſie muͤſſen das ihrige beytragen, ihm einen wol ge-
maͤßigten Grad der Empfindſamkeit zu geben, und eine
gute Miſchung herrſchender Empfindungen in ſeiner
Seele feſt zu ſetzen; bey beſondern Gelegenheiten aber
muͤſſen ſie ſo wol die Empfindſamkeit, als die herr-
ſchenden Empfindungen in dem Grad erweken, als
es noͤthig iſt, ihn thaͤtig zu machen. Diejenigen
alſo, die ſich einbilden, der Kuͤnſtler habe nichts zu
thun, als mancherley Gegenſtaͤnde der Empfindun-
gen, in einer angenehmen Miſchung durch einander,
dem Geſchmak ſo vorzulegen, daß aus dem Spiel
der Empfindungen ein unterhaltender Zeitvertreib
entſteht, haben zu niedrige Begriffe von der Kunſt.
Werke von dieſer Art wollen wir nicht verwerfen;
ſie gehoͤren, wie die mancherley angenehmen Sce-
nen der lebloſen Natur, die Empfindſamkeit des Her-
zens zu unterhalten: aber wie der ſchoͤne Schmuk
der Natur nur das Kleid iſt, das die, zur allge-
meinen Erhaltung und Vervollkommnung aller Weſen
abzielenden Kraͤfte einhuͤllet, ſo muͤſſen auch die an-
genehmen Werke der Kunſt, durch die, unter dem
ſchoͤnen Kleide liegenden, hoͤhern Kraͤfte ihren Werth
bekommen.
Eine allgemeine, wol geordnete Empfindſamkeit
des Herzens iſt alſo der allgemeineſte Zwek der ſchoͤ-
nen Kuͤnſte. Darum ſuchen ſie jede Sayte der
Seele, ſowol die die Luſt, als die welche Unluſt er-
weken, zu ruͤhren. Denn da der Menſch ſowol an-
treibende, als zuruͤkſtoſſende Kraͤfte noͤthig hat, ſo
muß er fuͤr das Schoͤne und fuͤr das Haͤßliche, fuͤr
das Gute und fuͤr das Boͤſe empfindſam ſeyn. Da-
zu dienen die ſo unendlich verſchiedenen Gegenſtaͤnde
und Scenen, aus der lebloſen und aus der belebten,
aus der blos phyſiſchen und aus der ſittlichen Welt.
Alle Gegenſtaͤnde des Geſchmaks werden im Ge-
maͤhld, in der Beſchreibung, in der Ode, in der
Epopee oder im Drama, in jeder Gattung der Be-
handlung ſo vorgelegt, daß die Seele ihre Empfind-
ſamkeit daran uͤben koͤnne, daß ſie das Schoͤne und
Gute angenehm, das Haͤßliche und Boͤſe wiedrig
empfinde. Hiebey hat alſo der Kuͤnſtler nur dafuͤr
zu ſorgen, daß jedes in ſeiner wahren Geſtalt hell
vor uns ſtehe, damit wir es empfinden moͤgen. Er
hat ſich vor dem unbeſtimmten und unwuͤrkſamen
zu huͤten, auf die richtigſte Zeichnung jedes Gegen-
ſtandes zu befleiſſen, und auf eine gute Form ſeines
Werks zu denken, wodurch es im Ganzen intreſ-
ſant wird.
Aber die allgemeine Regel der Weisheit muß er
nicht aus den Augen laſſen, daß er das Maaß der
Empfindſamkeit nicht uͤberſchreite. Denn wie der
Mangel der genugſamen Empfindſamkeit eine große
Unvollkommenheit iſt, indem er den Menſchen ſteiff
und unthaͤtig macht, ſo iſt auch ihr Uebermaaß ſehr
ſchaͤdlich, weil es ihn weichlich, ſchwach und un-
maͤnnlich macht. Dieſe wichtige Warnung, die
Sachen nicht zu weit zu treiben, ſcheinen einige
unſrer deutſchen Dichter, die ſonſt unter die beſten
gehoͤren, beſonders noͤthig zu haben. Sie ſcheinen
in dem Wahn zu ſtehen, daß die Gemuͤther nie zu
viel koͤnnen gereitzt werden. Den Schmerz wollen
ſie gern bis zum Wahnſinn und zur Verzweiflung,
den Abſcheu bis zum aͤuſſerſten Grad des Ent-
ſetzens, jede Luſt bis zum Taumel, und jedes zaͤrt-
liche Gefuͤhl bis zur Zerflieſſung aller Sinnen trei-
ben. Dieſes zielt gerade darauf ab, den Men-
ſchen zu einem elenden ſchwachen Ding zu machen,
das von Luſt, Zaͤrtlichkeit und Schmerzen ſo uͤber-
waͤltiget wird, daß es keine wuͤrkſame Kraft mehr
behaͤlt, dem alle Standhaftigkeit und aller maͤnn-
liche Muth fehlt.
Man erzaͤhlt von der Porcia, des großen Catos
Tochter, und Gemahlin des Marcus Brutus, daß
ſie den Abſchied ihres Gemahls, der nun auszog das
große Werk der Befreyung der Republik, das durch
Caͤſars Tod angefangen worden, durch die Waffen
zu unterſtuͤtzen, mit großer Standhaftigkeit ertragen.
Einige Zeit hernach aber, als ſie ein Gemaͤhlde ge-
ſehen, das den Abſchied des Hektors von der Andro-
mache
Erſter Theil. R r
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