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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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End
muß ein Ganzes ausmachen, überall so beschränkt
seyn, daß kein Mangel mehr daran zu merken ist.
Er muß einen Anfang und ein End haben. Eigent-
lich wird nur den Gegenständen ein Anfang und ein
End zugeschrieben, deren Theile der Zeit nach auf
einander folgen; einer Rede, einem Gesang, einer
Begebenheit oder Handlung. Doch kann man eini-
germaaßen auch den Gegenständen, deren Theile auf
einmal vorhanden sind, Anfang und Ende zuschrei-
ben; denn wenn sie so sind, daß man an ihren
beyden Enden nichts hinzusetzen kann, das noch
dazu gehörte, so sagt man, sie seyen vollendet. So
ist z. B. eine Säule, die ihren Fuß und ihren
Knauf hat, vollendet, und man kann weder unten
noch oben etwas hinzu thun, das noch zur Säule
gehörte. Beyde, so wol das obere, als das untere
Ende, sind daran; deßwegen nennt man sie vol-
lendet, ganz fertig,
und betrachtet sie als ein Gan-
(*) S.
Ganz.
zes.
(*) Da von dieser Art der Vollendung im Art.
Ganz hinlänglich gesprochen worden; so bleibt hier
übrig die Beschaffenheit des Endes in der Folge der
Dinge zu betrachten.

Darum, daß eine Sache das Letzte in der Vor-
stellung ist, kann sie noch nicht das Ende derselben
genennt werden. Wenn eine Erzählung in ihrer
Mitte abgebrochen wird, so ist allerdings etwas das
Letzte in dem, was erzählt worden, aber die Erzäh-
lung hat darum kein Ende. Eben so wenig hat ein
aufgegebenes Unternehmen, das weder gelungen
noch mißgelungen ist, sondern abgebrochen worden,
eh' alles, was dazu gehörte, angewendet worden,
ein Ende. Nur alsdann ist das Lezte in einer Sache
das Ende derselben, wenn man daraus erkennt, daß
die Sache nun Ganz sey, und daß nichts mehr dar-
inn folgen könne.

Je bestimmter und ausdrüklicher das End kann
bemerkt werden, je vollkommener ist es, weil als-
dann der Geist den Gegenstand völlig fasset, und ihm
nichts mehr zu suchen oder zu verlangen übrig
bleibet. Jndem man sich die Theile eines wolge-
ordneten Werks nach und nach vorstellt, so merkt
man eine gewisse Bestimmung derselben. Man er-
kennt oder vermuthet eine Absicht, warum sie auf
einander folgen. An dem End erkennet man die
völlige Erreichung der Absicht, zu deren Vollkom-
menheit nichts mehr hinzu gethan werden kann.

Es kann sich aber eine Vorstellung auf zweyerley
Art enden, deren jede eine besondere Beschaffenheit
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End
des Endes erfodert. Entweder hat man gleich an-
fangs einen allgemeinen Begriff von der Beschaffen-
heit des Ganzen, und weiß also, womit dasselbe sich
enden muß. Wenn ein Redner oder Dichter den
Jnhalt der Rede, oder des Gedichts angezeiget hat,
so weiß man überhaupt, wo er das Ende derselben
setzen wird, nähmlich, da der Jnhalt seines Werks
vollendet ist. So erwartet man in der Jlias das
Ende, wo der Zorn des Achilles und die übeln Fol-
gen desselben erschöpft, oder die Paßion selbst ge-
dämpft ist; in der Odyssee erwartet man es bey
der Zurükkunft und Einsetzung des Ulysses in sein
Reich; von der Aeneis erwartet man das End da,
wo dieser Held einen ruhigen Sitz in Jtalien gefun-
den hat.

Eine andre Art des Endes aber ist das, von
dessen Beschaffenheit man keine bestimmte Erwartung
hat, weil man sich vorher von dem Ganzen keinen
Begriff hat machen können, da man die Einheit
desselben erst durch das End einsieht. Jn diesem
Fall ist das End der Schlüssel zum Ganzen, ohne
den man sich keinen Begriff von der Beschaffenheit
der Sache hat machen können. Von dieser Art ist das
End einer solchen Rede, deren Absicht man nicht eher
erkennt, bis sie ganz vollendet ist. Deutliche Bey-
spiele eines solchen Endes haben wir an den Gleich-
nissen, darin die vergliechene Sache erst zuletzt,
wenn das ähnliche Bild ganz ausgezeichnet ist, ge-
nennt wird. Ein solches End ist auch der morali-
sche Satz einer Fabel, der erst den ganzen Aufschluß
zu der Erzählung giebt.

Jn den Werken der erstern Art muß die Hand-
lung oder die Erzählung ein solches End haben, daß
die Erwartung völlig befriediget wird, und alles
Versprochene gänzlich erfüllt worden. Da Virgil
in der Ankündigung der Aeneis gesagt hat, er wolle
seinen Helden von Troja aus, durch mancherley
Gefahren bis nach Jtalien begleiten, wo er einen
ruhigen Sitz finden soll; so hätte dies Werk kein
End, wenn er eher aufgehört hätte. Das Ende
der Odyssee wär' unvollkommen, wenn das Werk
da aufhörte, als Ulysses wieder in seinem Hause
angekommen, und ehe man sähe, ob er ruhigen
Besitz von seinem kleinen Staat genommen habe.
Jn dem Drama muß das End so beschaffen seyn,
daß die völlige Auflösung der ganzen Verwiklung,
und der ganze Zwek der Handlung erfüllt ist. Die-
ses hat Plautus nicht allemal in Acht genommen.

Jn
R r 3

[Spaltenumbruch]

End
muß ein Ganzes ausmachen, uͤberall ſo beſchraͤnkt
ſeyn, daß kein Mangel mehr daran zu merken iſt.
Er muß einen Anfang und ein End haben. Eigent-
lich wird nur den Gegenſtaͤnden ein Anfang und ein
End zugeſchrieben, deren Theile der Zeit nach auf
einander folgen; einer Rede, einem Geſang, einer
Begebenheit oder Handlung. Doch kann man eini-
germaaßen auch den Gegenſtaͤnden, deren Theile auf
einmal vorhanden ſind, Anfang und Ende zuſchrei-
ben; denn wenn ſie ſo ſind, daß man an ihren
beyden Enden nichts hinzuſetzen kann, das noch
dazu gehoͤrte, ſo ſagt man, ſie ſeyen vollendet. So
iſt z. B. eine Saͤule, die ihren Fuß und ihren
Knauf hat, vollendet, und man kann weder unten
noch oben etwas hinzu thun, das noch zur Saͤule
gehoͤrte. Beyde, ſo wol das obere, als das untere
Ende, ſind daran; deßwegen nennt man ſie vol-
lendet, ganz fertig,
und betrachtet ſie als ein Gan-
(*) S.
Ganz.
zes.
(*) Da von dieſer Art der Vollendung im Art.
Ganz hinlaͤnglich geſprochen worden; ſo bleibt hier
uͤbrig die Beſchaffenheit des Endes in der Folge der
Dinge zu betrachten.

Darum, daß eine Sache das Letzte in der Vor-
ſtellung iſt, kann ſie noch nicht das Ende derſelben
genennt werden. Wenn eine Erzaͤhlung in ihrer
Mitte abgebrochen wird, ſo iſt allerdings etwas das
Letzte in dem, was erzaͤhlt worden, aber die Erzaͤh-
lung hat darum kein Ende. Eben ſo wenig hat ein
aufgegebenes Unternehmen, das weder gelungen
noch mißgelungen iſt, ſondern abgebrochen worden,
eh’ alles, was dazu gehoͤrte, angewendet worden,
ein Ende. Nur alsdann iſt das Lezte in einer Sache
das Ende derſelben, wenn man daraus erkennt, daß
die Sache nun Ganz ſey, und daß nichts mehr dar-
inn folgen koͤnne.

Je beſtimmter und ausdruͤklicher das End kann
bemerkt werden, je vollkommener iſt es, weil als-
dann der Geiſt den Gegenſtand voͤllig faſſet, und ihm
nichts mehr zu ſuchen oder zu verlangen uͤbrig
bleibet. Jndem man ſich die Theile eines wolge-
ordneten Werks nach und nach vorſtellt, ſo merkt
man eine gewiſſe Beſtimmung derſelben. Man er-
kennt oder vermuthet eine Abſicht, warum ſie auf
einander folgen. An dem End erkennet man die
voͤllige Erreichung der Abſicht, zu deren Vollkom-
menheit nichts mehr hinzu gethan werden kann.

Es kann ſich aber eine Vorſtellung auf zweyerley
Art enden, deren jede eine beſondere Beſchaffenheit
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End
des Endes erfodert. Entweder hat man gleich an-
fangs einen allgemeinen Begriff von der Beſchaffen-
heit des Ganzen, und weiß alſo, womit daſſelbe ſich
enden muß. Wenn ein Redner oder Dichter den
Jnhalt der Rede, oder des Gedichts angezeiget hat,
ſo weiß man uͤberhaupt, wo er das Ende derſelben
ſetzen wird, naͤhmlich, da der Jnhalt ſeines Werks
vollendet iſt. So erwartet man in der Jlias das
Ende, wo der Zorn des Achilles und die uͤbeln Fol-
gen deſſelben erſchoͤpft, oder die Paßion ſelbſt ge-
daͤmpft iſt; in der Odyſſee erwartet man es bey
der Zuruͤkkunft und Einſetzung des Ulyſſes in ſein
Reich; von der Aeneis erwartet man das End da,
wo dieſer Held einen ruhigen Sitz in Jtalien gefun-
den hat.

Eine andre Art des Endes aber iſt das, von
deſſen Beſchaffenheit man keine beſtimmte Erwartung
hat, weil man ſich vorher von dem Ganzen keinen
Begriff hat machen koͤnnen, da man die Einheit
deſſelben erſt durch das End einſieht. Jn dieſem
Fall iſt das End der Schluͤſſel zum Ganzen, ohne
den man ſich keinen Begriff von der Beſchaffenheit
der Sache hat machen koͤnnen. Von dieſer Art iſt das
End einer ſolchen Rede, deren Abſicht man nicht eher
erkennt, bis ſie ganz vollendet iſt. Deutliche Bey-
ſpiele eines ſolchen Endes haben wir an den Gleich-
niſſen, darin die vergliechene Sache erſt zuletzt,
wenn das aͤhnliche Bild ganz ausgezeichnet iſt, ge-
nennt wird. Ein ſolches End iſt auch der morali-
ſche Satz einer Fabel, der erſt den ganzen Aufſchluß
zu der Erzaͤhlung giebt.

Jn den Werken der erſtern Art muß die Hand-
lung oder die Erzaͤhlung ein ſolches End haben, daß
die Erwartung voͤllig befriediget wird, und alles
Verſprochene gaͤnzlich erfuͤllt worden. Da Virgil
in der Ankuͤndigung der Aeneis geſagt hat, er wolle
ſeinen Helden von Troja aus, durch mancherley
Gefahren bis nach Jtalien begleiten, wo er einen
ruhigen Sitz finden ſoll; ſo haͤtte dies Werk kein
End, wenn er eher aufgehoͤrt haͤtte. Das Ende
der Odyſſee waͤr’ unvollkommen, wenn das Werk
da aufhoͤrte, als Ulyſſes wieder in ſeinem Hauſe
angekommen, und ehe man ſaͤhe, ob er ruhigen
Beſitz von ſeinem kleinen Staat genommen habe.
Jn dem Drama muß das End ſo beſchaffen ſeyn,
daß die voͤllige Aufloͤſung der ganzen Verwiklung,
und der ganze Zwek der Handlung erfuͤllt iſt. Die-
ſes hat Plautus nicht allemal in Acht genommen.

Jn
R r 3
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[317/0329] End End muß ein Ganzes ausmachen, uͤberall ſo beſchraͤnkt ſeyn, daß kein Mangel mehr daran zu merken iſt. Er muß einen Anfang und ein End haben. Eigent- lich wird nur den Gegenſtaͤnden ein Anfang und ein End zugeſchrieben, deren Theile der Zeit nach auf einander folgen; einer Rede, einem Geſang, einer Begebenheit oder Handlung. Doch kann man eini- germaaßen auch den Gegenſtaͤnden, deren Theile auf einmal vorhanden ſind, Anfang und Ende zuſchrei- ben; denn wenn ſie ſo ſind, daß man an ihren beyden Enden nichts hinzuſetzen kann, das noch dazu gehoͤrte, ſo ſagt man, ſie ſeyen vollendet. So iſt z. B. eine Saͤule, die ihren Fuß und ihren Knauf hat, vollendet, und man kann weder unten noch oben etwas hinzu thun, das noch zur Saͤule gehoͤrte. Beyde, ſo wol das obere, als das untere Ende, ſind daran; deßwegen nennt man ſie vol- lendet, ganz fertig, und betrachtet ſie als ein Gan- zes. (*) Da von dieſer Art der Vollendung im Art. Ganz hinlaͤnglich geſprochen worden; ſo bleibt hier uͤbrig die Beſchaffenheit des Endes in der Folge der Dinge zu betrachten. Darum, daß eine Sache das Letzte in der Vor- ſtellung iſt, kann ſie noch nicht das Ende derſelben genennt werden. Wenn eine Erzaͤhlung in ihrer Mitte abgebrochen wird, ſo iſt allerdings etwas das Letzte in dem, was erzaͤhlt worden, aber die Erzaͤh- lung hat darum kein Ende. Eben ſo wenig hat ein aufgegebenes Unternehmen, das weder gelungen noch mißgelungen iſt, ſondern abgebrochen worden, eh’ alles, was dazu gehoͤrte, angewendet worden, ein Ende. Nur alsdann iſt das Lezte in einer Sache das Ende derſelben, wenn man daraus erkennt, daß die Sache nun Ganz ſey, und daß nichts mehr dar- inn folgen koͤnne. Je beſtimmter und ausdruͤklicher das End kann bemerkt werden, je vollkommener iſt es, weil als- dann der Geiſt den Gegenſtand voͤllig faſſet, und ihm nichts mehr zu ſuchen oder zu verlangen uͤbrig bleibet. Jndem man ſich die Theile eines wolge- ordneten Werks nach und nach vorſtellt, ſo merkt man eine gewiſſe Beſtimmung derſelben. Man er- kennt oder vermuthet eine Abſicht, warum ſie auf einander folgen. An dem End erkennet man die voͤllige Erreichung der Abſicht, zu deren Vollkom- menheit nichts mehr hinzu gethan werden kann. Es kann ſich aber eine Vorſtellung auf zweyerley Art enden, deren jede eine beſondere Beſchaffenheit des Endes erfodert. Entweder hat man gleich an- fangs einen allgemeinen Begriff von der Beſchaffen- heit des Ganzen, und weiß alſo, womit daſſelbe ſich enden muß. Wenn ein Redner oder Dichter den Jnhalt der Rede, oder des Gedichts angezeiget hat, ſo weiß man uͤberhaupt, wo er das Ende derſelben ſetzen wird, naͤhmlich, da der Jnhalt ſeines Werks vollendet iſt. So erwartet man in der Jlias das Ende, wo der Zorn des Achilles und die uͤbeln Fol- gen deſſelben erſchoͤpft, oder die Paßion ſelbſt ge- daͤmpft iſt; in der Odyſſee erwartet man es bey der Zuruͤkkunft und Einſetzung des Ulyſſes in ſein Reich; von der Aeneis erwartet man das End da, wo dieſer Held einen ruhigen Sitz in Jtalien gefun- den hat. Eine andre Art des Endes aber iſt das, von deſſen Beſchaffenheit man keine beſtimmte Erwartung hat, weil man ſich vorher von dem Ganzen keinen Begriff hat machen koͤnnen, da man die Einheit deſſelben erſt durch das End einſieht. Jn dieſem Fall iſt das End der Schluͤſſel zum Ganzen, ohne den man ſich keinen Begriff von der Beſchaffenheit der Sache hat machen koͤnnen. Von dieſer Art iſt das End einer ſolchen Rede, deren Abſicht man nicht eher erkennt, bis ſie ganz vollendet iſt. Deutliche Bey- ſpiele eines ſolchen Endes haben wir an den Gleich- niſſen, darin die vergliechene Sache erſt zuletzt, wenn das aͤhnliche Bild ganz ausgezeichnet iſt, ge- nennt wird. Ein ſolches End iſt auch der morali- ſche Satz einer Fabel, der erſt den ganzen Aufſchluß zu der Erzaͤhlung giebt. Jn den Werken der erſtern Art muß die Hand- lung oder die Erzaͤhlung ein ſolches End haben, daß die Erwartung voͤllig befriediget wird, und alles Verſprochene gaͤnzlich erfuͤllt worden. Da Virgil in der Ankuͤndigung der Aeneis geſagt hat, er wolle ſeinen Helden von Troja aus, durch mancherley Gefahren bis nach Jtalien begleiten, wo er einen ruhigen Sitz finden ſoll; ſo haͤtte dies Werk kein End, wenn er eher aufgehoͤrt haͤtte. Das Ende der Odyſſee waͤr’ unvollkommen, wenn das Werk da aufhoͤrte, als Ulyſſes wieder in ſeinem Hauſe angekommen, und ehe man ſaͤhe, ob er ruhigen Beſitz von ſeinem kleinen Staat genommen habe. Jn dem Drama muß das End ſo beſchaffen ſeyn, daß die voͤllige Aufloͤſung der ganzen Verwiklung, und der ganze Zwek der Handlung erfuͤllt iſt. Die- ſes hat Plautus nicht allemal in Acht genommen. Jn R r 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/329>, abgerufen am 13.05.2024.