Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Faß
in Anfehung der schönen Künste betrachten. Bey
Verfertigung der Werke der Kunst ist die Faßung
des Künstlers, und bey ihrer Würkung die Faßung
derer, auf deren Gemüther man würken will, von
großem Gewicht.

Wer mit irgend einiger Aufmerksamkeit auf sich
selbst, Arbeiten die Nachdenken erfodern, gethan
hat, der weiß, wie sehr die Gemüthsfaßung, in wel-
cher man arbeitet, alles erleichtert oder schweer
macht. Sich in die zur Arbeit erfoderliche Faßung
zu setzen, ist bey jedem Geschäft der erste und wich-
tigste Punkt; und die Leichtigkeit dieses zu thun, ist
kein geringer Theil des Genies, und das, was inge-
nium versatile
genennt wird. Man erleichtert sich
die Faßung, wenn man die Aufmerksamkeit von al-
len andern Dingen, als dem vorhabenden Geschäft
abzieht, und dasselbe eine Zeitlang, ehe man an die
Ausführung geht, wenn es auch nur ganz summa-
risch, oder aus einem allgemeinen Gesichtspunkt ge-
schieht, beständig vor Augen hat; welches um so
viel leichter geschieht, wenn man erst irgend eine in-
tressante Seite desselben entdekt hat. Ein hoher
Grad der vortheilhaften Faßung ist die Begeiste-
rung, von deren Einfluß an seinem Orte gespro-
(*) S. Be-
geisterung.
chen worden. (*) Wenn der Künstler hierin nicht
glüklich gewesen, so wird sein Werk nie vollkom-
men seyn.

Eben so wichtig ist die Faßung derer, auf welche
die Gegenstände der Kunst würken sollen. Wer sich
in einer vergnügten Laune befindet, den kann man
leicht zum Lachen bringen; alles was man vor ihm
sagt, hat doppelte Kraft. Demnach muß in jedem
Werk der Kunst etwas liegen, was diese Faßung her-
vorzubringen vermag. Jn der Musik sucht man
dieses durch Vorspielen, oder Präludiren zu erhal-
ten; in der Rede durch den Eingang, in einigen
Gedichten durch die Ankündigung, in allen Arten
der Gedichte und der Reden, so wie auch in allen
Gemählden, durch den Ton des Vortrages. Ge-
mählde von sehr ernsthaftem Jnhalt müssen schon
von weitem, ehe man noch etwas darin unterschei-
den kann, das Aug durch einen ernsten Ton rühren,
so wie ein Gewitter von weitem durch eine dunkele,
drohende Luft angekündiget wird.

Der Redner kann beym mündlichen Vortrag die
Faßung seiner Zuhörer am sichersten dadurch bewür-
ken, daß er selbst in dem Ton der Stimme, in der
Stellung, in den Gebehrden und Bewegungen die Fas-
[Spaltenumbruch]

Faß
fung vollkommen ausdrükt. Es liegt eine sehr sympa-
thetische Kraft in dem lebhaften Ausdruk einer na-
türlichen Faßung. Wir können uns, wenn wir ei-
nen von Herzen vergnügten, oder durchaus beküm-
merten Menschen sehen, selten enthalten, wenig-
stens einigermaaßen uns in dieselbe Faßung zu se-
tzen. Die große Kraft, die eine solche Faßung des-
sen der redet, seinen Worten giebt, kann keinem
Menschen unbemerkt geblieben seyn. Wer einen
schrekhaften Vorfall gleichgültig, oder gar vergnügt
erzählt, läuft Gefahr, daß ihm niemand glaubt; der
aber in schrekhafter Faßung eine Lüge hervorbringt,
findet leicht Glauben. Der Grund dieser Sym-
pathie ist leicht zu entdeken. Der Mensch hat ei-
nen natürlichen Hang sich jede Sache, die seine Auf-
merksamkeit an sich gezogen, so klar als möglich
ist, vorzustellen. (*) Wenn wir also einen Men-(*) S.
Klarheit.

schen von irgend einer Empfindung gerührt sehen,
so wollen wir auch einen klaren Begriff von seinem
Zustand haben; (wenn nur sonst nichts da ist, das
die Aufmerksamkeit davon ablenkt) diesen aber er-
halten wir nicht besser, als wenn wir dieselbe Em-
pfindung haben, die er hat. Daher entsteht also
eine Bestrebung der Seele sich in dieselbe zu setzen.
Nur muß die Faßung, darin wir andre sehen, nichts
unnatürliches oder widersinnliches haben; denn die-
ses wird uns anstößig, und verhindert jene Bestre-
bung, davon gesprochen worden ist, gänzlich. Wenn
wir einen Lustigmacher bey ernsthaften Dingen in
einer lustigen Laune sehen, so sind wir sehr ent-
fernt, in seine Faßung zu treten.

Es ist demnach eines der wichtigsten Talente des
Redners, daß bey dem mündlichen Vortrag alles,
was man an ihm sieht und von ihm höret, eine dem
Jnhalt seiner Rede natürliche Faßung ausdrüke:
dadurch rührt und überredet er mehr, als durch das
was er sagt. Wie er aber dazu kommen soll, kann
ihm nicht durch Regeln gezeiget werden. Man
empfehle ihm überhaupt, wenn er Gelegenheit hat,
große Redner zu hören, auf die Faßung in die sie
sich setzen können, und auf die große Kraft dersel-
ben vorzüglich acht zu haben, und auch im gemei-
nen Leben, auf den Ton der Stimme, auf Stel-
lung und Gebehrden der Redenden genau zu mer-
ken. Dieses Studium muß der Redner, als seine
Experimentalphilosophie mit großem Fleis treiben.
Er wird oft bey den ungelehrtesten Menschen in be-
sondern Fällen eine Kraft zu überreden finden, die

ihm

[Spaltenumbruch]

Faß
in Anfehung der ſchoͤnen Kuͤnſte betrachten. Bey
Verfertigung der Werke der Kunſt iſt die Faßung
des Kuͤnſtlers, und bey ihrer Wuͤrkung die Faßung
derer, auf deren Gemuͤther man wuͤrken will, von
großem Gewicht.

Wer mit irgend einiger Aufmerkſamkeit auf ſich
ſelbſt, Arbeiten die Nachdenken erfodern, gethan
hat, der weiß, wie ſehr die Gemuͤthsfaßung, in wel-
cher man arbeitet, alles erleichtert oder ſchweer
macht. Sich in die zur Arbeit erfoderliche Faßung
zu ſetzen, iſt bey jedem Geſchaͤft der erſte und wich-
tigſte Punkt; und die Leichtigkeit dieſes zu thun, iſt
kein geringer Theil des Genies, und das, was inge-
nium verſatile
genennt wird. Man erleichtert ſich
die Faßung, wenn man die Aufmerkſamkeit von al-
len andern Dingen, als dem vorhabenden Geſchaͤft
abzieht, und daſſelbe eine Zeitlang, ehe man an die
Ausfuͤhrung geht, wenn es auch nur ganz ſumma-
riſch, oder aus einem allgemeinen Geſichtspunkt ge-
ſchieht, beſtaͤndig vor Augen hat; welches um ſo
viel leichter geſchieht, wenn man erſt irgend eine in-
treſſante Seite deſſelben entdekt hat. Ein hoher
Grad der vortheilhaften Faßung iſt die Begeiſte-
rung, von deren Einfluß an ſeinem Orte geſpro-
(*) S. Be-
geiſterung.
chen worden. (*) Wenn der Kuͤnſtler hierin nicht
gluͤklich geweſen, ſo wird ſein Werk nie vollkom-
men ſeyn.

Eben ſo wichtig iſt die Faßung derer, auf welche
die Gegenſtaͤnde der Kunſt wuͤrken ſollen. Wer ſich
in einer vergnuͤgten Laune befindet, den kann man
leicht zum Lachen bringen; alles was man vor ihm
ſagt, hat doppelte Kraft. Demnach muß in jedem
Werk der Kunſt etwas liegen, was dieſe Faßung her-
vorzubringen vermag. Jn der Muſik ſucht man
dieſes durch Vorſpielen, oder Praͤludiren zu erhal-
ten; in der Rede durch den Eingang, in einigen
Gedichten durch die Ankuͤndigung, in allen Arten
der Gedichte und der Reden, ſo wie auch in allen
Gemaͤhlden, durch den Ton des Vortrages. Ge-
maͤhlde von ſehr ernſthaftem Jnhalt muͤſſen ſchon
von weitem, ehe man noch etwas darin unterſchei-
den kann, das Aug durch einen ernſten Ton ruͤhren,
ſo wie ein Gewitter von weitem durch eine dunkele,
drohende Luft angekuͤndiget wird.

Der Redner kann beym muͤndlichen Vortrag die
Faßung ſeiner Zuhoͤrer am ſicherſten dadurch bewuͤr-
ken, daß er ſelbſt in dem Ton der Stimme, in der
Stellung, in den Gebehrden und Bewegungen die Faſ-
[Spaltenumbruch]

Faß
fung vollkommen ausdruͤkt. Es liegt eine ſehr ſympa-
thetiſche Kraft in dem lebhaften Ausdruk einer na-
tuͤrlichen Faßung. Wir koͤnnen uns, wenn wir ei-
nen von Herzen vergnuͤgten, oder durchaus bekuͤm-
merten Menſchen ſehen, ſelten enthalten, wenig-
ſtens einigermaaßen uns in dieſelbe Faßung zu ſe-
tzen. Die große Kraft, die eine ſolche Faßung deſ-
ſen der redet, ſeinen Worten giebt, kann keinem
Menſchen unbemerkt geblieben ſeyn. Wer einen
ſchrekhaften Vorfall gleichguͤltig, oder gar vergnuͤgt
erzaͤhlt, laͤuft Gefahr, daß ihm niemand glaubt; der
aber in ſchrekhafter Faßung eine Luͤge hervorbringt,
findet leicht Glauben. Der Grund dieſer Sym-
pathie iſt leicht zu entdeken. Der Menſch hat ei-
nen natuͤrlichen Hang ſich jede Sache, die ſeine Auf-
merkſamkeit an ſich gezogen, ſo klar als moͤglich
iſt, vorzuſtellen. (*) Wenn wir alſo einen Men-(*) S.
Klarheit.

ſchen von irgend einer Empfindung geruͤhrt ſehen,
ſo wollen wir auch einen klaren Begriff von ſeinem
Zuſtand haben; (wenn nur ſonſt nichts da iſt, das
die Aufmerkſamkeit davon ablenkt) dieſen aber er-
halten wir nicht beſſer, als wenn wir dieſelbe Em-
pfindung haben, die er hat. Daher entſteht alſo
eine Beſtrebung der Seele ſich in dieſelbe zu ſetzen.
Nur muß die Faßung, darin wir andre ſehen, nichts
unnatuͤrliches oder widerſinnliches haben; denn die-
ſes wird uns anſtoͤßig, und verhindert jene Beſtre-
bung, davon geſprochen worden iſt, gaͤnzlich. Wenn
wir einen Luſtigmacher bey ernſthaften Dingen in
einer luſtigen Laune ſehen, ſo ſind wir ſehr ent-
fernt, in ſeine Faßung zu treten.

Es iſt demnach eines der wichtigſten Talente des
Redners, daß bey dem muͤndlichen Vortrag alles,
was man an ihm ſieht und von ihm hoͤret, eine dem
Jnhalt ſeiner Rede natuͤrliche Faßung ausdruͤke:
dadurch ruͤhrt und uͤberredet er mehr, als durch das
was er ſagt. Wie er aber dazu kommen ſoll, kann
ihm nicht durch Regeln gezeiget werden. Man
empfehle ihm uͤberhaupt, wenn er Gelegenheit hat,
große Redner zu hoͤren, auf die Faßung in die ſie
ſich ſetzen koͤnnen, und auf die große Kraft derſel-
ben vorzuͤglich acht zu haben, und auch im gemei-
nen Leben, auf den Ton der Stimme, auf Stel-
lung und Gebehrden der Redenden genau zu mer-
ken. Dieſes Studium muß der Redner, als ſeine
Experimentalphiloſophie mit großem Fleis treiben.
Er wird oft bey den ungelehrteſten Menſchen in be-
ſondern Faͤllen eine Kraft zu uͤberreden finden, die

ihm
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0386" n="374"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Faß</hi></fw><lb/>
in Anfehung der &#x017F;cho&#x0364;nen Ku&#x0364;n&#x017F;te betrachten. Bey<lb/>
Verfertigung der Werke der Kun&#x017F;t i&#x017F;t die Faßung<lb/>
des Ku&#x0364;n&#x017F;tlers, und bey ihrer Wu&#x0364;rkung die Faßung<lb/>
derer, auf deren Gemu&#x0364;ther man wu&#x0364;rken will, von<lb/>
großem Gewicht.</p><lb/>
          <p>Wer mit irgend einiger Aufmerk&#x017F;amkeit auf &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, Arbeiten die Nachdenken erfodern, gethan<lb/>
hat, der weiß, wie &#x017F;ehr die Gemu&#x0364;thsfaßung, in wel-<lb/>
cher man arbeitet, alles erleichtert oder &#x017F;chweer<lb/>
macht. Sich in die zur Arbeit erfoderliche Faßung<lb/>
zu &#x017F;etzen, i&#x017F;t bey jedem Ge&#x017F;cha&#x0364;ft der er&#x017F;te und wich-<lb/>
tig&#x017F;te Punkt; und die Leichtigkeit die&#x017F;es zu thun, i&#x017F;t<lb/>
kein geringer Theil des Genies, und das, was <hi rendition="#aq">inge-<lb/>
nium ver&#x017F;atile</hi> genennt wird. Man erleichtert &#x017F;ich<lb/>
die Faßung, wenn man die Aufmerk&#x017F;amkeit von al-<lb/>
len andern Dingen, als dem vorhabenden Ge&#x017F;cha&#x0364;ft<lb/>
abzieht, und da&#x017F;&#x017F;elbe eine Zeitlang, ehe man an die<lb/>
Ausfu&#x0364;hrung geht, wenn es auch nur ganz &#x017F;umma-<lb/>
ri&#x017F;ch, oder aus einem allgemeinen Ge&#x017F;ichtspunkt ge-<lb/>
&#x017F;chieht, be&#x017F;ta&#x0364;ndig vor Augen hat; welches um &#x017F;o<lb/>
viel leichter ge&#x017F;chieht, wenn man er&#x017F;t irgend eine in-<lb/>
tre&#x017F;&#x017F;ante Seite de&#x017F;&#x017F;elben entdekt hat. Ein hoher<lb/>
Grad der vortheilhaften Faßung i&#x017F;t die Begei&#x017F;te-<lb/>
rung, von deren Einfluß an &#x017F;einem Orte ge&#x017F;pro-<lb/><note place="left">(*) S. Be-<lb/>
gei&#x017F;terung.</note>chen worden. (*) Wenn der Ku&#x0364;n&#x017F;tler hierin nicht<lb/>
glu&#x0364;klich gewe&#x017F;en, &#x017F;o wird &#x017F;ein Werk nie vollkom-<lb/>
men &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Eben &#x017F;o wichtig i&#x017F;t die Faßung derer, auf welche<lb/>
die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde der Kun&#x017F;t wu&#x0364;rken &#x017F;ollen. Wer &#x017F;ich<lb/>
in einer vergnu&#x0364;gten Laune befindet, den kann man<lb/>
leicht zum Lachen bringen; alles was man vor ihm<lb/>
&#x017F;agt, hat doppelte Kraft. Demnach muß in jedem<lb/>
Werk der Kun&#x017F;t etwas liegen, was die&#x017F;e Faßung her-<lb/>
vorzubringen vermag. Jn der Mu&#x017F;ik &#x017F;ucht man<lb/>
die&#x017F;es durch <hi rendition="#fr">Vor&#x017F;pielen,</hi> oder <hi rendition="#fr">Pra&#x0364;ludiren</hi> zu erhal-<lb/>
ten; in der Rede durch den <hi rendition="#fr">Eingang,</hi> in einigen<lb/>
Gedichten durch die <hi rendition="#fr">Anku&#x0364;ndigung,</hi> in allen Arten<lb/>
der Gedichte und der Reden, &#x017F;o wie auch in allen<lb/>
Gema&#x0364;hlden, durch den <hi rendition="#fr">Ton</hi> des Vortrages. Ge-<lb/>
ma&#x0364;hlde von &#x017F;ehr ern&#x017F;thaftem Jnhalt mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chon<lb/>
von weitem, ehe man noch etwas darin unter&#x017F;chei-<lb/>
den kann, das Aug durch einen ern&#x017F;ten Ton ru&#x0364;hren,<lb/>
&#x017F;o wie ein Gewitter von weitem durch eine dunkele,<lb/>
drohende Luft angeku&#x0364;ndiget wird.</p><lb/>
          <p>Der Redner kann beym mu&#x0364;ndlichen Vortrag die<lb/>
Faßung &#x017F;einer Zuho&#x0364;rer am &#x017F;icher&#x017F;ten dadurch bewu&#x0364;r-<lb/>
ken, daß er &#x017F;elb&#x017F;t in dem Ton der Stimme, in der<lb/>
Stellung, in den Gebehrden und Bewegungen die Fa&#x017F;-<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Faß</hi></fw><lb/>
fung vollkommen ausdru&#x0364;kt. Es liegt eine &#x017F;ehr &#x017F;ympa-<lb/>
theti&#x017F;che Kraft in dem lebhaften Ausdruk einer na-<lb/>
tu&#x0364;rlichen Faßung. Wir ko&#x0364;nnen uns, wenn wir ei-<lb/>
nen von Herzen vergnu&#x0364;gten, oder durchaus beku&#x0364;m-<lb/>
merten Men&#x017F;chen &#x017F;ehen, &#x017F;elten enthalten, wenig-<lb/>
&#x017F;tens einigermaaßen uns in die&#x017F;elbe Faßung zu &#x017F;e-<lb/>
tzen. Die große Kraft, die eine &#x017F;olche Faßung de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en der redet, &#x017F;einen Worten giebt, kann keinem<lb/>
Men&#x017F;chen unbemerkt geblieben &#x017F;eyn. Wer einen<lb/>
&#x017F;chrekhaften Vorfall gleichgu&#x0364;ltig, oder gar vergnu&#x0364;gt<lb/>
erza&#x0364;hlt, la&#x0364;uft Gefahr, daß ihm niemand glaubt; der<lb/>
aber in &#x017F;chrekhafter Faßung eine Lu&#x0364;ge hervorbringt,<lb/>
findet leicht Glauben. Der Grund die&#x017F;er Sym-<lb/>
pathie i&#x017F;t leicht zu entdeken. Der Men&#x017F;ch hat ei-<lb/>
nen natu&#x0364;rlichen Hang &#x017F;ich jede Sache, die &#x017F;eine Auf-<lb/>
merk&#x017F;amkeit an &#x017F;ich gezogen, &#x017F;o klar als mo&#x0364;glich<lb/>
i&#x017F;t, vorzu&#x017F;tellen. (*) Wenn wir al&#x017F;o einen Men-<note place="right">(*) S.<lb/>
Klarheit.</note><lb/>
&#x017F;chen von irgend einer Empfindung geru&#x0364;hrt &#x017F;ehen,<lb/>
&#x017F;o wollen wir auch einen klaren Begriff von &#x017F;einem<lb/>
Zu&#x017F;tand haben; (wenn nur &#x017F;on&#x017F;t nichts da i&#x017F;t, das<lb/>
die Aufmerk&#x017F;amkeit davon ablenkt) die&#x017F;en aber er-<lb/>
halten wir nicht be&#x017F;&#x017F;er, als wenn wir die&#x017F;elbe Em-<lb/>
pfindung haben, die er hat. Daher ent&#x017F;teht al&#x017F;o<lb/>
eine Be&#x017F;trebung der Seele &#x017F;ich in die&#x017F;elbe zu &#x017F;etzen.<lb/>
Nur muß die Faßung, darin wir andre &#x017F;ehen, nichts<lb/>
unnatu&#x0364;rliches oder wider&#x017F;innliches haben; denn die-<lb/>
&#x017F;es wird uns an&#x017F;to&#x0364;ßig, und verhindert jene Be&#x017F;tre-<lb/>
bung, davon ge&#x017F;prochen worden i&#x017F;t, ga&#x0364;nzlich. Wenn<lb/>
wir einen Lu&#x017F;tigmacher bey ern&#x017F;thaften Dingen in<lb/>
einer lu&#x017F;tigen Laune &#x017F;ehen, &#x017F;o &#x017F;ind wir &#x017F;ehr ent-<lb/>
fernt, in &#x017F;eine Faßung zu treten.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t demnach eines der wichtig&#x017F;ten Talente des<lb/>
Redners, daß bey dem mu&#x0364;ndlichen Vortrag alles,<lb/>
was man an ihm &#x017F;ieht und von ihm ho&#x0364;ret, eine dem<lb/>
Jnhalt &#x017F;einer Rede natu&#x0364;rliche Faßung ausdru&#x0364;ke:<lb/>
dadurch ru&#x0364;hrt und u&#x0364;berredet er mehr, als durch das<lb/>
was er &#x017F;agt. Wie er aber dazu kommen &#x017F;oll, kann<lb/>
ihm nicht durch Regeln gezeiget werden. Man<lb/>
empfehle ihm u&#x0364;berhaupt, wenn er Gelegenheit hat,<lb/>
große Redner zu ho&#x0364;ren, auf die Faßung in die &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;etzen ko&#x0364;nnen, und auf die große Kraft der&#x017F;el-<lb/>
ben vorzu&#x0364;glich acht zu haben, und auch im gemei-<lb/>
nen Leben, auf den Ton der Stimme, auf Stel-<lb/>
lung und Gebehrden der Redenden genau zu mer-<lb/>
ken. Die&#x017F;es Studium muß der Redner, als &#x017F;eine<lb/>
Experimentalphilo&#x017F;ophie mit großem Fleis treiben.<lb/>
Er wird oft bey den ungelehrte&#x017F;ten Men&#x017F;chen in be-<lb/>
&#x017F;ondern Fa&#x0364;llen eine Kraft zu u&#x0364;berreden finden, die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihm</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[374/0386] Faß Faß in Anfehung der ſchoͤnen Kuͤnſte betrachten. Bey Verfertigung der Werke der Kunſt iſt die Faßung des Kuͤnſtlers, und bey ihrer Wuͤrkung die Faßung derer, auf deren Gemuͤther man wuͤrken will, von großem Gewicht. Wer mit irgend einiger Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt, Arbeiten die Nachdenken erfodern, gethan hat, der weiß, wie ſehr die Gemuͤthsfaßung, in wel- cher man arbeitet, alles erleichtert oder ſchweer macht. Sich in die zur Arbeit erfoderliche Faßung zu ſetzen, iſt bey jedem Geſchaͤft der erſte und wich- tigſte Punkt; und die Leichtigkeit dieſes zu thun, iſt kein geringer Theil des Genies, und das, was inge- nium verſatile genennt wird. Man erleichtert ſich die Faßung, wenn man die Aufmerkſamkeit von al- len andern Dingen, als dem vorhabenden Geſchaͤft abzieht, und daſſelbe eine Zeitlang, ehe man an die Ausfuͤhrung geht, wenn es auch nur ganz ſumma- riſch, oder aus einem allgemeinen Geſichtspunkt ge- ſchieht, beſtaͤndig vor Augen hat; welches um ſo viel leichter geſchieht, wenn man erſt irgend eine in- treſſante Seite deſſelben entdekt hat. Ein hoher Grad der vortheilhaften Faßung iſt die Begeiſte- rung, von deren Einfluß an ſeinem Orte geſpro- chen worden. (*) Wenn der Kuͤnſtler hierin nicht gluͤklich geweſen, ſo wird ſein Werk nie vollkom- men ſeyn. (*) S. Be- geiſterung. Eben ſo wichtig iſt die Faßung derer, auf welche die Gegenſtaͤnde der Kunſt wuͤrken ſollen. Wer ſich in einer vergnuͤgten Laune befindet, den kann man leicht zum Lachen bringen; alles was man vor ihm ſagt, hat doppelte Kraft. Demnach muß in jedem Werk der Kunſt etwas liegen, was dieſe Faßung her- vorzubringen vermag. Jn der Muſik ſucht man dieſes durch Vorſpielen, oder Praͤludiren zu erhal- ten; in der Rede durch den Eingang, in einigen Gedichten durch die Ankuͤndigung, in allen Arten der Gedichte und der Reden, ſo wie auch in allen Gemaͤhlden, durch den Ton des Vortrages. Ge- maͤhlde von ſehr ernſthaftem Jnhalt muͤſſen ſchon von weitem, ehe man noch etwas darin unterſchei- den kann, das Aug durch einen ernſten Ton ruͤhren, ſo wie ein Gewitter von weitem durch eine dunkele, drohende Luft angekuͤndiget wird. Der Redner kann beym muͤndlichen Vortrag die Faßung ſeiner Zuhoͤrer am ſicherſten dadurch bewuͤr- ken, daß er ſelbſt in dem Ton der Stimme, in der Stellung, in den Gebehrden und Bewegungen die Faſ- fung vollkommen ausdruͤkt. Es liegt eine ſehr ſympa- thetiſche Kraft in dem lebhaften Ausdruk einer na- tuͤrlichen Faßung. Wir koͤnnen uns, wenn wir ei- nen von Herzen vergnuͤgten, oder durchaus bekuͤm- merten Menſchen ſehen, ſelten enthalten, wenig- ſtens einigermaaßen uns in dieſelbe Faßung zu ſe- tzen. Die große Kraft, die eine ſolche Faßung deſ- ſen der redet, ſeinen Worten giebt, kann keinem Menſchen unbemerkt geblieben ſeyn. Wer einen ſchrekhaften Vorfall gleichguͤltig, oder gar vergnuͤgt erzaͤhlt, laͤuft Gefahr, daß ihm niemand glaubt; der aber in ſchrekhafter Faßung eine Luͤge hervorbringt, findet leicht Glauben. Der Grund dieſer Sym- pathie iſt leicht zu entdeken. Der Menſch hat ei- nen natuͤrlichen Hang ſich jede Sache, die ſeine Auf- merkſamkeit an ſich gezogen, ſo klar als moͤglich iſt, vorzuſtellen. (*) Wenn wir alſo einen Men- ſchen von irgend einer Empfindung geruͤhrt ſehen, ſo wollen wir auch einen klaren Begriff von ſeinem Zuſtand haben; (wenn nur ſonſt nichts da iſt, das die Aufmerkſamkeit davon ablenkt) dieſen aber er- halten wir nicht beſſer, als wenn wir dieſelbe Em- pfindung haben, die er hat. Daher entſteht alſo eine Beſtrebung der Seele ſich in dieſelbe zu ſetzen. Nur muß die Faßung, darin wir andre ſehen, nichts unnatuͤrliches oder widerſinnliches haben; denn die- ſes wird uns anſtoͤßig, und verhindert jene Beſtre- bung, davon geſprochen worden iſt, gaͤnzlich. Wenn wir einen Luſtigmacher bey ernſthaften Dingen in einer luſtigen Laune ſehen, ſo ſind wir ſehr ent- fernt, in ſeine Faßung zu treten. (*) S. Klarheit. Es iſt demnach eines der wichtigſten Talente des Redners, daß bey dem muͤndlichen Vortrag alles, was man an ihm ſieht und von ihm hoͤret, eine dem Jnhalt ſeiner Rede natuͤrliche Faßung ausdruͤke: dadurch ruͤhrt und uͤberredet er mehr, als durch das was er ſagt. Wie er aber dazu kommen ſoll, kann ihm nicht durch Regeln gezeiget werden. Man empfehle ihm uͤberhaupt, wenn er Gelegenheit hat, große Redner zu hoͤren, auf die Faßung in die ſie ſich ſetzen koͤnnen, und auf die große Kraft derſel- ben vorzuͤglich acht zu haben, und auch im gemei- nen Leben, auf den Ton der Stimme, auf Stel- lung und Gebehrden der Redenden genau zu mer- ken. Dieſes Studium muß der Redner, als ſeine Experimentalphiloſophie mit großem Fleis treiben. Er wird oft bey den ungelehrteſten Menſchen in be- ſondern Faͤllen eine Kraft zu uͤberreden finden, die ihm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/386
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/386>, abgerufen am 22.11.2024.