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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Geb Ged
(*) S.
Bindung.
gen bleiben (*). Eine gebundene Stimme, in Ton-
stüken, die für Jnstrumente gesetzt sind, heißt eine
Stimme, die nicht blos zur Begleitung einer an-
dern Stimme da ist, sondern für sich eine zum Gan-
zen nothwendige, und concertirende Parthie hat.
Dergleichen Parthien werden insgemein mit dem
italiänischen Wort obligato bezeichnet, wozu der
Name des Jnstruments gesetzt wird, als Violino,
oder Basso obligato.

Eine besondere Gattung des gebundenen Basses
macht der aus, den die Franzosen Basse contrainte
nennen. Ein solcher Baß hat ein kurzes Thema
von wenig Takten, welches er das ganze Stük hin-
durch, so lang es seyn mag, beständig wiederholt,
da inzwischen die Hauptstimme beständig abwechselt,
und also auf jede Wiederholung derselbigen Töne
im Baß, einen andern Gesang hat, wie in der
Chaconne.

Große Harmonisten behandeln bisweilen einen
solchen gebundenen Baß so, daß, ungeachtet er im-
mer dieselben Töne hat, der Gesang der obern Stim-
men dennoch ganz frey durch vielerley Tonarten mo-
dulirt, wovon man in Händels Alerandersfest zwey
fürtreffliche Beyspiele findet [Spaltenumbruch] (+). Dieses ist aber
sehr künstlich, und erfodert eine große Fertigkeit in
Behandlung der Harmonie.

Roußeau macht über die gebundenen Bäße die
richtige Anmerkung, daß sie den Tonstüken einen
sehr pathetischen Charakter geben. Sie sind deßwe-
gen in Kirchenmusik, über kurze Sprüche, die in
den Hauptstimmen immer mit verändertem Ge-
fang wiederholt werden, mit großem Vortheil zu
brauchen.

Gedanken.
(Schöne Künste.)

Heißt überhaupt jede Vorstellung, in welcher einige
Deutlichkeit ist, vermöge welcher man sie durch Zei-
chen bekannt machen kann. Wenn man insbeson-
der in Absicht auf die schönen Künste von Gedanken
spricht, so versteht man dadurch die Vorstellungen,
welche der Künstler durch sein Werk hervorzubringen
sucht, in so fern sie von der Art, wie sie erregt
werden, oder sich darstellen, unterschieden sind. Die
Gedanken in den Werken der Kunst sind dasjenige,
[Spaltenumbruch]

Ged
was von einem Werk übrig bleibet, wenn der ästhe-
tische Schmuk davon genommen wird. So sind
die Gedanken des Dichters das, was übrig bleibet,
wenn der Bau des Verses, der Ton und einige blos
zum Schmuk und zur Ausbildung, oder zur Ver-
stärkung dienende Begriffe weggelassen werden.

Die Gedanken sind demnach die Materie oder der
Stoff, der von der Kunst bearbeitet und auf eine
ihrem Zwek gemäße Weise vorgetragen wird. Das
Aesthetische selbst ist das Zufällige der Gedanken, das
Kleid worin sie gezeiget werden, oder die Form in
welche sie der Künstler bildet. Derowegen sind sie
das erste, worauf in jedem Werk der Kunst zu sehen
ist. Sie sind der Geist und die Seele des Werks,
und wenn sie schlecht sind, so kann das ganze Werk
keinen großen Werth haben; sondern gleicht jenem
Pallaste von Eis, der zwar die richtigste Form eines
brauchbaren Gebäudes hat, aber seiner Materie
halber unnütz ist, und zu dem Gebrauch, den seine
Form anzeiget, nicht dienen kann.

Zu jedem vollkommenen Werk der Kunst werden
also zuerst gute, das ist, richtige und nach der Be-
schaffenheit des Werks intressante Gedanken erfodert.
Was Horaz blos von den redenden Künsten sagt:
Scribendi fons est sapere, kann auf alle Künste
angewendet werden: Fingendi fons est sapere. Ge-
danken aber sind Früchte der Vernunft. Mithin ist
die wesentliche Grundeigenschaft eines Künstlers, Be-
urtheilungskraft und Vernunft. Denn ohne diese
stellet er uns bloße Formen dar, die einen Schein,
aber kein würkliches Wesen haben; pulchra facies
cerebrum non habens.
Ein bloßer Künstler, der
nicht zugleich ein Philosoph ist, das ist, ein vernünf-
tiger Mann, der wichtige und uns intressante Ge-
danken zu bilden vermag, gleicht einem Koch, der
zwar allerhand Arten von schmakhaftem Gewürz im
Vorrath hätte, aber keine nahrhafte Speisen, die
er damit zu rechte machen könnte.

Wie der Koch eine Speise haben muß, die er
durch seine Kunst zurichtet und schmakhaft macht,
so muß der Künstler Gedanken, das ist, Vorstellun-
gen, die dem Geiste Nahrung geben, in Bereitschaft
haben, und sie durch die Kunst angenehm oder kräf-
tig machen. Diesen Begriff von der Kunst müssen
die Künstler beständig vor Augen haben, damit sie,

durch
(+) Das eine in dem Tutti, dessen Worte anfan-
gen: The Many rend the skies with loud applau-
[Spaltenumbruch] se;
das andre in dem Tutti: Breack his band of sleep
asunder.

[Spaltenumbruch]

Geb Ged
(*) S.
Bindung.
gen bleiben (*). Eine gebundene Stimme, in Ton-
ſtuͤken, die fuͤr Jnſtrumente geſetzt ſind, heißt eine
Stimme, die nicht blos zur Begleitung einer an-
dern Stimme da iſt, ſondern fuͤr ſich eine zum Gan-
zen nothwendige, und concertirende Parthie hat.
Dergleichen Parthien werden insgemein mit dem
italiaͤniſchen Wort obligato bezeichnet, wozu der
Name des Jnſtruments geſetzt wird, als Violino,
oder Baſſo obligato.

Eine beſondere Gattung des gebundenen Baſſes
macht der aus, den die Franzoſen Baſſe contrainte
nennen. Ein ſolcher Baß hat ein kurzes Thema
von wenig Takten, welches er das ganze Stuͤk hin-
durch, ſo lang es ſeyn mag, beſtaͤndig wiederholt,
da inzwiſchen die Hauptſtimme beſtaͤndig abwechſelt,
und alſo auf jede Wiederholung derſelbigen Toͤne
im Baß, einen andern Geſang hat, wie in der
Chaconne.

Große Harmoniſten behandeln bisweilen einen
ſolchen gebundenen Baß ſo, daß, ungeachtet er im-
mer dieſelben Toͤne hat, der Geſang der obern Stim-
men dennoch ganz frey durch vielerley Tonarten mo-
dulirt, wovon man in Haͤndels Alerandersfeſt zwey
fuͤrtreffliche Beyſpiele findet [Spaltenumbruch] (†). Dieſes iſt aber
ſehr kuͤnſtlich, und erfodert eine große Fertigkeit in
Behandlung der Harmonie.

Roußeau macht uͤber die gebundenen Baͤße die
richtige Anmerkung, daß ſie den Tonſtuͤken einen
ſehr pathetiſchen Charakter geben. Sie ſind deßwe-
gen in Kirchenmuſik, uͤber kurze Spruͤche, die in
den Hauptſtimmen immer mit veraͤndertem Ge-
fang wiederholt werden, mit großem Vortheil zu
brauchen.

Gedanken.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Heißt uͤberhaupt jede Vorſtellung, in welcher einige
Deutlichkeit iſt, vermoͤge welcher man ſie durch Zei-
chen bekannt machen kann. Wenn man insbeſon-
der in Abſicht auf die ſchoͤnen Kuͤnſte von Gedanken
ſpricht, ſo verſteht man dadurch die Vorſtellungen,
welche der Kuͤnſtler durch ſein Werk hervorzubringen
ſucht, in ſo fern ſie von der Art, wie ſie erregt
werden, oder ſich darſtellen, unterſchieden ſind. Die
Gedanken in den Werken der Kunſt ſind dasjenige,
[Spaltenumbruch]

Ged
was von einem Werk uͤbrig bleibet, wenn der aͤſthe-
tiſche Schmuk davon genommen wird. So ſind
die Gedanken des Dichters das, was uͤbrig bleibet,
wenn der Bau des Verſes, der Ton und einige blos
zum Schmuk und zur Ausbildung, oder zur Ver-
ſtaͤrkung dienende Begriffe weggelaſſen werden.

Die Gedanken ſind demnach die Materie oder der
Stoff, der von der Kunſt bearbeitet und auf eine
ihrem Zwek gemaͤße Weiſe vorgetragen wird. Das
Aeſthetiſche ſelbſt iſt das Zufaͤllige der Gedanken, das
Kleid worin ſie gezeiget werden, oder die Form in
welche ſie der Kuͤnſtler bildet. Derowegen ſind ſie
das erſte, worauf in jedem Werk der Kunſt zu ſehen
iſt. Sie ſind der Geiſt und die Seele des Werks,
und wenn ſie ſchlecht ſind, ſo kann das ganze Werk
keinen großen Werth haben; ſondern gleicht jenem
Pallaſte von Eis, der zwar die richtigſte Form eines
brauchbaren Gebaͤudes hat, aber ſeiner Materie
halber unnuͤtz iſt, und zu dem Gebrauch, den ſeine
Form anzeiget, nicht dienen kann.

Zu jedem vollkommenen Werk der Kunſt werden
alſo zuerſt gute, das iſt, richtige und nach der Be-
ſchaffenheit des Werks intreſſante Gedanken erfodert.
Was Horaz blos von den redenden Kuͤnſten ſagt:
Scribendi fons eſt ſapere, kann auf alle Kuͤnſte
angewendet werden: Fingendi fons eſt ſapere. Ge-
danken aber ſind Fruͤchte der Vernunft. Mithin iſt
die weſentliche Grundeigenſchaft eines Kuͤnſtlers, Be-
urtheilungskraft und Vernunft. Denn ohne dieſe
ſtellet er uns bloße Formen dar, die einen Schein,
aber kein wuͤrkliches Weſen haben; pulchra facies
cerebrum non habens.
Ein bloßer Kuͤnſtler, der
nicht zugleich ein Philoſoph iſt, das iſt, ein vernuͤnf-
tiger Mann, der wichtige und uns intreſſante Ge-
danken zu bilden vermag, gleicht einem Koch, der
zwar allerhand Arten von ſchmakhaftem Gewuͤrz im
Vorrath haͤtte, aber keine nahrhafte Speiſen, die
er damit zu rechte machen koͤnnte.

Wie der Koch eine Speiſe haben muß, die er
durch ſeine Kunſt zurichtet und ſchmakhaft macht,
ſo muß der Kuͤnſtler Gedanken, das iſt, Vorſtellun-
gen, die dem Geiſte Nahrung geben, in Bereitſchaft
haben, und ſie durch die Kunſt angenehm oder kraͤf-
tig machen. Dieſen Begriff von der Kunſt muͤſſen
die Kuͤnſtler beſtaͤndig vor Augen haben, damit ſie,

durch
(†) Das eine in dem Tutti, deſſen Worte anfan-
gen: The Many rend the ſkies with loud applau-
[Spaltenumbruch] ſe;
das andre in dem Tutti: Breack his band of ſleep
aſunder.
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[431/0443] Geb Ged Ged gen bleiben (*). Eine gebundene Stimme, in Ton- ſtuͤken, die fuͤr Jnſtrumente geſetzt ſind, heißt eine Stimme, die nicht blos zur Begleitung einer an- dern Stimme da iſt, ſondern fuͤr ſich eine zum Gan- zen nothwendige, und concertirende Parthie hat. Dergleichen Parthien werden insgemein mit dem italiaͤniſchen Wort obligato bezeichnet, wozu der Name des Jnſtruments geſetzt wird, als Violino, oder Baſſo obligato. (*) S. Bindung. Eine beſondere Gattung des gebundenen Baſſes macht der aus, den die Franzoſen Baſſe contrainte nennen. Ein ſolcher Baß hat ein kurzes Thema von wenig Takten, welches er das ganze Stuͤk hin- durch, ſo lang es ſeyn mag, beſtaͤndig wiederholt, da inzwiſchen die Hauptſtimme beſtaͤndig abwechſelt, und alſo auf jede Wiederholung derſelbigen Toͤne im Baß, einen andern Geſang hat, wie in der Chaconne. Große Harmoniſten behandeln bisweilen einen ſolchen gebundenen Baß ſo, daß, ungeachtet er im- mer dieſelben Toͤne hat, der Geſang der obern Stim- men dennoch ganz frey durch vielerley Tonarten mo- dulirt, wovon man in Haͤndels Alerandersfeſt zwey fuͤrtreffliche Beyſpiele findet (†). Dieſes iſt aber ſehr kuͤnſtlich, und erfodert eine große Fertigkeit in Behandlung der Harmonie. Roußeau macht uͤber die gebundenen Baͤße die richtige Anmerkung, daß ſie den Tonſtuͤken einen ſehr pathetiſchen Charakter geben. Sie ſind deßwe- gen in Kirchenmuſik, uͤber kurze Spruͤche, die in den Hauptſtimmen immer mit veraͤndertem Ge- fang wiederholt werden, mit großem Vortheil zu brauchen. Gedanken. (Schoͤne Kuͤnſte.) Heißt uͤberhaupt jede Vorſtellung, in welcher einige Deutlichkeit iſt, vermoͤge welcher man ſie durch Zei- chen bekannt machen kann. Wenn man insbeſon- der in Abſicht auf die ſchoͤnen Kuͤnſte von Gedanken ſpricht, ſo verſteht man dadurch die Vorſtellungen, welche der Kuͤnſtler durch ſein Werk hervorzubringen ſucht, in ſo fern ſie von der Art, wie ſie erregt werden, oder ſich darſtellen, unterſchieden ſind. Die Gedanken in den Werken der Kunſt ſind dasjenige, was von einem Werk uͤbrig bleibet, wenn der aͤſthe- tiſche Schmuk davon genommen wird. So ſind die Gedanken des Dichters das, was uͤbrig bleibet, wenn der Bau des Verſes, der Ton und einige blos zum Schmuk und zur Ausbildung, oder zur Ver- ſtaͤrkung dienende Begriffe weggelaſſen werden. Die Gedanken ſind demnach die Materie oder der Stoff, der von der Kunſt bearbeitet und auf eine ihrem Zwek gemaͤße Weiſe vorgetragen wird. Das Aeſthetiſche ſelbſt iſt das Zufaͤllige der Gedanken, das Kleid worin ſie gezeiget werden, oder die Form in welche ſie der Kuͤnſtler bildet. Derowegen ſind ſie das erſte, worauf in jedem Werk der Kunſt zu ſehen iſt. Sie ſind der Geiſt und die Seele des Werks, und wenn ſie ſchlecht ſind, ſo kann das ganze Werk keinen großen Werth haben; ſondern gleicht jenem Pallaſte von Eis, der zwar die richtigſte Form eines brauchbaren Gebaͤudes hat, aber ſeiner Materie halber unnuͤtz iſt, und zu dem Gebrauch, den ſeine Form anzeiget, nicht dienen kann. Zu jedem vollkommenen Werk der Kunſt werden alſo zuerſt gute, das iſt, richtige und nach der Be- ſchaffenheit des Werks intreſſante Gedanken erfodert. Was Horaz blos von den redenden Kuͤnſten ſagt: Scribendi fons eſt ſapere, kann auf alle Kuͤnſte angewendet werden: Fingendi fons eſt ſapere. Ge- danken aber ſind Fruͤchte der Vernunft. Mithin iſt die weſentliche Grundeigenſchaft eines Kuͤnſtlers, Be- urtheilungskraft und Vernunft. Denn ohne dieſe ſtellet er uns bloße Formen dar, die einen Schein, aber kein wuͤrkliches Weſen haben; pulchra facies cerebrum non habens. Ein bloßer Kuͤnſtler, der nicht zugleich ein Philoſoph iſt, das iſt, ein vernuͤnf- tiger Mann, der wichtige und uns intreſſante Ge- danken zu bilden vermag, gleicht einem Koch, der zwar allerhand Arten von ſchmakhaftem Gewuͤrz im Vorrath haͤtte, aber keine nahrhafte Speiſen, die er damit zu rechte machen koͤnnte. Wie der Koch eine Speiſe haben muß, die er durch ſeine Kunſt zurichtet und ſchmakhaft macht, ſo muß der Kuͤnſtler Gedanken, das iſt, Vorſtellun- gen, die dem Geiſte Nahrung geben, in Bereitſchaft haben, und ſie durch die Kunſt angenehm oder kraͤf- tig machen. Dieſen Begriff von der Kunſt muͤſſen die Kuͤnſtler beſtaͤndig vor Augen haben, damit ſie, durch (†) Das eine in dem Tutti, deſſen Worte anfan- gen: The Many rend the ſkies with loud applau- ſe; das andre in dem Tutti: Breack his band of ſleep aſunder.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/443>, abgerufen am 22.11.2024.