Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Ged durch eine ernstliche Bemühung die wichtigsten Wahr-heiten der Philosophie sich bekannt zu machen, durch eine genaue Beobachtung der Menschen und Sitten, hinlänglichen Vorrath von Gedanken anschaffen. Wer nicht fähig ist, wichtige Gedanken in seinem Verstand hervor zu bringen, der hat keinen Stoff zur Bearbeitung für die Künste. Denn dasjenige, was der Mühe nicht werth geachtet wird, ohne ästhetischen Schmuk erkennt zu werden, ist auch des Aufwandes der Auszierung nicht werth. Wer, als ein Thor, könnte ein schlechtes und unnützes Gefäß in Gold fassen lassen? Bey einem rechtschaffenen Künstler müssen Ver- Nach eben diesen Grundsätzen müssen wir alle Man muß es sich bey Beurtheilung der Werke Ged schöne Ausdruk in folgenden Versen den Virgil selbstgehindert, das Falsche in den Gedanken zu sehen? Die Sybille sagt zum Aeneas, als er eine Reise nach dem Tartarus vornimmt Tros Anchidiades, facilis descensus Averni, Der ganze Gedanke ist grundfalsch. Jn den Wor- Sehet ihr ein historisches Gemälde, so suchet zu Auf eben diese Art müssen auch die Gedichte, be- Schmuks
[Spaltenumbruch] Ged durch eine ernſtliche Bemuͤhung die wichtigſten Wahr-heiten der Philoſophie ſich bekannt zu machen, durch eine genaue Beobachtung der Menſchen und Sitten, hinlaͤnglichen Vorrath von Gedanken anſchaffen. Wer nicht faͤhig iſt, wichtige Gedanken in ſeinem Verſtand hervor zu bringen, der hat keinen Stoff zur Bearbeitung fuͤr die Kuͤnſte. Denn dasjenige, was der Muͤhe nicht werth geachtet wird, ohne aͤſthetiſchen Schmuk erkennt zu werden, iſt auch des Aufwandes der Auszierung nicht werth. Wer, als ein Thor, koͤnnte ein ſchlechtes und unnuͤtzes Gefaͤß in Gold faſſen laſſen? Bey einem rechtſchaffenen Kuͤnſtler muͤſſen Ver- Nach eben dieſen Grundſaͤtzen muͤſſen wir alle Man muß es ſich bey Beurtheilung der Werke Ged ſchoͤne Ausdruk in folgenden Verſen den Virgil ſelbſtgehindert, das Falſche in den Gedanken zu ſehen? Die Sybille ſagt zum Aeneas, als er eine Reiſe nach dem Tartarus vornimmt Tros Anchidiades, facilis deſcenſus Averni, Der ganze Gedanke iſt grundfalſch. Jn den Wor- Sehet ihr ein hiſtoriſches Gemaͤlde, ſo ſuchet zu Auf eben dieſe Art muͤſſen auch die Gedichte, be- Schmuks
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Ged
Ged
durch eine ernſtliche Bemuͤhung die wichtigſten Wahr-
heiten der Philoſophie ſich bekannt zu machen, durch
eine genaue Beobachtung der Menſchen und Sitten,
hinlaͤnglichen Vorrath von Gedanken anſchaffen.
Wer nicht faͤhig iſt, wichtige Gedanken in ſeinem
Verſtand hervor zu bringen, der hat keinen Stoff
zur Bearbeitung fuͤr die Kuͤnſte. Denn dasjenige,
was der Muͤhe nicht werth geachtet wird, ohne
aͤſthetiſchen Schmuk erkennt zu werden, iſt auch des
Aufwandes der Auszierung nicht werth. Wer,
als ein Thor, koͤnnte ein ſchlechtes und unnuͤtzes
Gefaͤß in Gold faſſen laſſen?
Bey einem rechtſchaffenen Kuͤnſtler muͤſſen Ver-
ſtand und geſunde Vernunft die Gaben ſeyn, mit
denen ſich Witz und feiner Geſchmak vereinigen.
Ohne jene wird er ein bloßer Zeitvertreiber oder Lu-
ſtigmacher. Nur eine gruͤndliche, große Art zu
denken, mit Talenten die zum Geſchmak gehoͤren,
verbunden, machen den großen Kuͤnſtler aus (*).
Ohne den großen Verſtand, ohne die wichtigen Ge-
danken, die Homer als ein Kenner und Beobachter
der Menſchen geſammelt, und in ſeinen unſterbli-
chen Geſaͤngen vorgetragen hat, wuͤrde er mit allem
Feuer der Dichtkunſt, mit allem Wolklang ſeiner
Verſe, mit allen wolgemahlten Bildern, niemal der
Dichter der vernuͤnftigen Alten geworden ſeyn.
(*) S.
Dichter.
Nach eben dieſen Grundſaͤtzen muͤſſen wir alle
Werke der Kunſt beurtheilen, wenn wir nicht
bloße Spiele des Witzes und der Einbildungskraft
fuͤr wichtige Werke ausgeben wollen. Ein gruͤnd-
licher Beurtheiler der Kunſt laͤßt ſich niemal durch
die bloße Kunſt blenden. Er zieht dem Werk
erſt das Kleid der Kunſt ab, um die Gedanken na-
kend zu ſehen. Jn dieſer Geſtalt beurtheilet er ihre
Wahrheit, ihre Wichtigkeit. Findet er bey dieſer
Betrachtung nichts wichtiges oder großes, ſo ſetzet
er das Werk in die Claſſe der angenehmen Klei-
nigkeiten.
Man muß es ſich bey Beurtheilung der Werke
der Kunſt zur Hauptmarime machen, jeden Gedan-
ken in ſeiner nakenden Geſtalt zu pruͤfen. Der
Kuͤnſtler, der dieſes verſaͤumt, laͤuft Gefahr ofte
nichts zu ſagen; denn der Schmuk blendet. Man
glaubet ofte mit dem Jrion, die Juno in ſeinen Armen
zu haben, und hat nur ein leeres Phantom. Selbſt
große Kuͤnſtler laſſen ſich bisweilen durch den aͤuſ-
ſerlichen Glanz verfuͤhren, den Gedanken mehr
Werth beyzulegen, als ſie haben. Hat nicht der
ſchoͤne Ausdruk in folgenden Verſen den Virgil ſelbſt
gehindert, das Falſche in den Gedanken zu ſehen?
Die Sybille ſagt zum Aeneas, als er eine Reiſe
nach dem Tartarus vornimmt
Tros Anchidiades, facilis deſcenſus Averni,
Noctes atque diu patet atri janua Ditis:
Sed revocare gradum ſuperasque evadere ad auras
Hoc opus, hic labor eſt.
Der ganze Gedanke iſt grundfalſch. Jn den Wor-
ten facilis deſcenſus averni, Noctes &c. wird der
Tod oder das Sterben verſtanden. Aeneas aber
will bey lebendigem Leib herunter, und da iſt das
Herunterfahren und Heraufſteigen gleich leicht oder
ſchweer. So bald man einer Vorſtellung ihr Kleid
ausgezogen, kann man ein zuverlaͤßiges Urtheil von
dem Werth der Gedanken faͤllen.
Sehet ihr ein hiſtoriſches Gemaͤlde, ſo ſuchet zu
vergeſſen, daß es ein Gemaͤhld iſt; vergeßt den
Mahler, deſſen zauberiſche Kunſt durch Licht und
Schatten Koͤrper hervorgebracht hat, wo keine ſind.
Stellt euch vor wuͤrkliche Menſchen zu ſehen, und
gebet alsdenn auf die Handlungen dieſer Menſchen
Achtung. Sehet zu, ob ſie wichtig ſeyen, ob die
Perſonen in ihren Geſichtern, Gebehrden und Bewe-
gungen, Gedanken und Empfindungen anzeigen;
ob ihr die Sprache ihrer Mienen und Gebehrden
verſtehet, und ob ſie euch etwas merkwuͤrdiges ſagen.
Findet ihr es nicht der Muͤhe werth, dieſen in eurer
Einbildung wuͤrklichen Menſchen zuzuſehen, ſo hat
der Mahler ſchlecht gedacht. Hoͤrt ihr ein Tonſtuͤk,
ſo ſuchet zu vergeſſen, daß ihr Toͤne von einem
lebloſen Jnſtrument hoͤret, die nicht anders, als
durch eine große Fertigkeit der Finger oder der Lip-
pen hervorgebracht werden koͤnnen. Stellet euch
vor, ihr hoͤret einen Menſchen in einer unbekannten
Sprache reden, und gebet Achtung, ob ſeine Toͤne
Empfindung ausdruͤken; ob ſie Ruhe des Gemuͤthes,
oder Unruhe, ſanfte oder heftige Leidenſchaften,
froͤhliche oder traurige anzeigen; ob dieſe, den ein-
zeln Worten nach unverſtaͤndliche Sprache, den Cha-
rakter eines Redenden ausdruͤkt, ob er edel oder ge-
mein, ob er als ein vernuͤnftiger, oder als ein
wahnſinniger ſpricht. Koͤnnet ihr nichts dergleichen
entdeken, ſo beklaget den Meiſter, daß er mit ſo
viel Kunſt keine Gedanken verbunden hat.
Auf eben dieſe Art muͤſſen auch die Gedichte, be-
ſonders die lyriſchen, beurtheilet werden. Nur die
Ode hat einen Werth, die, nachdem ſie alles
Schmuks
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