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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

All
Deutung; nur muß der Künstler sich nicht einbil-
den, damit der Allegorie Genüge geleistet zu haben,
und sich übrigens mit jeder weiblichen Figur, die
dieses Zeichen trägt, begnügen. Diese kleinere,
ohne weitere Kraft redende Zeichen, sind in dem al-
legorischen Bilde um so viel nöthiger, da die zeich-
nenden Künste sonst, bey ihren kräftigsten Bildern,
uns oft in Ungewißheit lassen würden. Würde es
einem Künstler auch noch so sehr glüken, in dem
Bilde des Saturnus die Zeit auszudrüken, so wird
ihm noch überdem das Stundenglas, oder ein an-
deres Zeichen dieser Art, nicht unnütze seyn; weil
erst dieses uns gleichsam den Namen des Bildes
angiebt, dessen Eigenschaften hernach aus seinem
Charakter zu erkennen sind. Der Zeichner ist hier-
in ungemein viel eingeschränkter, als der Dichter.
Dieser bringt seine Allegorie in dem Zusammenhang
an, der leicht auf die Deutung derselben führet:
jener muß gar zu oft sein Bild allein hin setzen,
wo außer ihm nichts ist, das seine Deutung erleich-
tert. Darum muß er nothwendig auf Neben-
sachen sehen, die dieses thun. Nur muß er, wie
gesagt, sich damit nicht begnügen, sondern auf das
Große im Ausdruk arbeiten. Wenn das, was man
uns von der Geschiklichkeit der alten Mahler und
Bildhauer berichtet, wahr ist; so haben viele der-
selben den Geist gehabt, Bilder, wie wir sie hier
fodern, würklich zu machen; so muß ihnen in der
Allegorie, dem schweersten Theile der Kunst, nichts
unmöglich gewesen seyn. Konnte Euphranor
den Paris so mahlen, daß man in ihm den Schieds-
richter der Schönheit, den Entführer der Helena,
und zugleich den, der den Achilles erlegt hat, er-
kannte; [Spaltenumbruch] (+) so müßte wahrlich dem Euphranor
in der Allegorie nichts zu schweer gewesen seyn.
(*) S.
Autik.
Wir haben an einem andern Orte (*) unsre Mey-
nung über diese und ähnliche Nachrichten von der
Kunst der Alten gesagt. Aber es ist in Wahrheit
dem Genie mehr möglich, das der Verstand be-
greift, und deswegen nicht ohne Nutzen, daß neuere
Künstler durch das Beyspiel der alten, wenn es
auch übertrieben ist, gereizt werden. Kunstrichter
müssen es machen, wie der Philosoph Diogenes in
der Moral; sie können immer den Ton etwas zu
hoch angeben.

[Spaltenumbruch]
All

Es wäre zu wünschen, daß jemand alle allegori-
sche Bilder der Alten aus allen Schriften und Ca-
binetten zusammen suchte, und daraus eine bessere
Jconologie machte, als die Ripa gegeben hat.
Oft fehlt einem Künstler von Genie nichts, als daß
er wisse, was andern vor ihm schon möglich gewe-
sen. Hätten doch Leßing und Klotz, die so
manchen Schriftsteller durchsuchen, um einen eben
nicht sehr wichtigen Streit fortzusetzen, ihre Be-
mühung hierauf gewendet!

Den nächsten Rang nach den einzeln allegori-
schen Bildern nehmen die allegorischen Vorstellungen
ein, welche gewisse Lehren oder allgemeine Sätze
ausdrüken. Hier gilt der so gar oft zur Unzeit an-
geführte Ausspruch des Horaz:

Segnius irritant animos demissa per aurem
Quam quae sunt oculis subiecta fidelibus
--

Wenn übrigens ein allegorisches Gemähld eine
Wahrheit mit nicht mehr Kraft sagt, als es durch
den Ausdruk der Rede würde geschehen seyn, so hat
es den Vortheil der Lebhaftigkeit; weil wir hier
sehen, was wir dort blos im Verstande oder in
der Einbildungskraft, dem bloßen Schatten der Sin-
nen, vor uns haben. Kommt zu diesem Vortheil
der allegorischen Vorstellung noch die innerliche
Vollkommenheit derselben, so wird ihre Würkung
so stark, daß sie alle poetische Kraft weit übertrifft;
und hierin liegt eben der höchste Endzwek der
Kunst.

Es sey mir vergönnt, hier eine Anmerkung zu
machen, die vermuthlich noch an mehrern Orten
dieses Werks vorkommen, aber nicht zu oft wieder-
holt werden, kann. Es ist ein großer Mißbrauch
der Kunst, daß noch so sehr durchgehends ein voll-
kommener Pinsel mehr, als eine vollkommene Er-
findung gelobt wird. Dieses heißt Mittel ohne
Endzwek schätzen. Die meisten Kenner gleichen
dem Geizhals, der sich blos im Besitz eines Mit-
tels, das er niemals zu brauchen gedenket, selig
preist. Die glükliche Erfindung einer wichtigen
Allegorie giebt einem Gemählde einen größern
Werth, als es selbst von Titians Pinsel erlangen
würde, wenn dieser nicht mit höherm Verdienst
verbunden ist. Aber die Laufbahn, die nach diesem

Ruhme
(+) Euphranoris Alexander Paris est, in quo lau-
datur, quod omnia simul intelligantur, iudex Dearum,
[Spaltenumbruch] Amator Helenae et tamen Achillis intersector. Plin.
LXXXIV.
8.
E 3

[Spaltenumbruch]

All
Deutung; nur muß der Kuͤnſtler ſich nicht einbil-
den, damit der Allegorie Genuͤge geleiſtet zu haben,
und ſich uͤbrigens mit jeder weiblichen Figur, die
dieſes Zeichen traͤgt, begnuͤgen. Dieſe kleinere,
ohne weitere Kraft redende Zeichen, ſind in dem al-
legoriſchen Bilde um ſo viel noͤthiger, da die zeich-
nenden Kuͤnſte ſonſt, bey ihren kraͤftigſten Bildern,
uns oft in Ungewißheit laſſen wuͤrden. Wuͤrde es
einem Kuͤnſtler auch noch ſo ſehr gluͤken, in dem
Bilde des Saturnus die Zeit auszudruͤken, ſo wird
ihm noch uͤberdem das Stundenglas, oder ein an-
deres Zeichen dieſer Art, nicht unnuͤtze ſeyn; weil
erſt dieſes uns gleichſam den Namen des Bildes
angiebt, deſſen Eigenſchaften hernach aus ſeinem
Charakter zu erkennen ſind. Der Zeichner iſt hier-
in ungemein viel eingeſchraͤnkter, als der Dichter.
Dieſer bringt ſeine Allegorie in dem Zuſammenhang
an, der leicht auf die Deutung derſelben fuͤhret:
jener muß gar zu oft ſein Bild allein hin ſetzen,
wo außer ihm nichts iſt, das ſeine Deutung erleich-
tert. Darum muß er nothwendig auf Neben-
ſachen ſehen, die dieſes thun. Nur muß er, wie
geſagt, ſich damit nicht begnuͤgen, ſondern auf das
Große im Ausdruk arbeiten. Wenn das, was man
uns von der Geſchiklichkeit der alten Mahler und
Bildhauer berichtet, wahr iſt; ſo haben viele der-
ſelben den Geiſt gehabt, Bilder, wie wir ſie hier
fodern, wuͤrklich zu machen; ſo muß ihnen in der
Allegorie, dem ſchweerſten Theile der Kunſt, nichts
unmoͤglich geweſen ſeyn. Konnte Euphranor
den Paris ſo mahlen, daß man in ihm den Schieds-
richter der Schoͤnheit, den Entfuͤhrer der Helena,
und zugleich den, der den Achilles erlegt hat, er-
kannte; [Spaltenumbruch] (†) ſo muͤßte wahrlich dem Euphranor
in der Allegorie nichts zu ſchweer geweſen ſeyn.
(*) S.
Autik.
Wir haben an einem andern Orte (*) unſre Mey-
nung uͤber dieſe und aͤhnliche Nachrichten von der
Kunſt der Alten geſagt. Aber es iſt in Wahrheit
dem Genie mehr moͤglich, das der Verſtand be-
greift, und deswegen nicht ohne Nutzen, daß neuere
Kuͤnſtler durch das Beyſpiel der alten, wenn es
auch uͤbertrieben iſt, gereizt werden. Kunſtrichter
muͤſſen es machen, wie der Philoſoph Diogenes in
der Moral; ſie koͤnnen immer den Ton etwas zu
hoch angeben.

[Spaltenumbruch]
All

Es waͤre zu wuͤnſchen, daß jemand alle allegori-
ſche Bilder der Alten aus allen Schriften und Ca-
binetten zuſammen ſuchte, und daraus eine beſſere
Jconologie machte, als die Ripa gegeben hat.
Oft fehlt einem Kuͤnſtler von Genie nichts, als daß
er wiſſe, was andern vor ihm ſchon moͤglich gewe-
ſen. Haͤtten doch Leßing und Klotz, die ſo
manchen Schriftſteller durchſuchen, um einen eben
nicht ſehr wichtigen Streit fortzuſetzen, ihre Be-
muͤhung hierauf gewendet!

Den naͤchſten Rang nach den einzeln allegori-
ſchen Bildern nehmen die allegoriſchen Vorſtellungen
ein, welche gewiſſe Lehren oder allgemeine Saͤtze
ausdruͤken. Hier gilt der ſo gar oft zur Unzeit an-
gefuͤhrte Ausſpruch des Horaz:

Segnius irritant animos demiſſa per aurem
Quam quae ſunt oculis ſubiecta fidelibus

Wenn uͤbrigens ein allegoriſches Gemaͤhld eine
Wahrheit mit nicht mehr Kraft ſagt, als es durch
den Ausdruk der Rede wuͤrde geſchehen ſeyn, ſo hat
es den Vortheil der Lebhaftigkeit; weil wir hier
ſehen, was wir dort blos im Verſtande oder in
der Einbildungskraft, dem bloßen Schatten der Sin-
nen, vor uns haben. Kommt zu dieſem Vortheil
der allegoriſchen Vorſtellung noch die innerliche
Vollkommenheit derſelben, ſo wird ihre Wuͤrkung
ſo ſtark, daß ſie alle poetiſche Kraft weit uͤbertrifft;
und hierin liegt eben der hoͤchſte Endzwek der
Kunſt.

Es ſey mir vergoͤnnt, hier eine Anmerkung zu
machen, die vermuthlich noch an mehrern Orten
dieſes Werks vorkommen, aber nicht zu oft wieder-
holt werden, kann. Es iſt ein großer Mißbrauch
der Kunſt, daß noch ſo ſehr durchgehends ein voll-
kommener Pinſel mehr, als eine vollkommene Er-
findung gelobt wird. Dieſes heißt Mittel ohne
Endzwek ſchaͤtzen. Die meiſten Kenner gleichen
dem Geizhals, der ſich blos im Beſitz eines Mit-
tels, das er niemals zu brauchen gedenket, ſelig
preiſt. Die gluͤkliche Erfindung einer wichtigen
Allegorie giebt einem Gemaͤhlde einen groͤßern
Werth, als es ſelbſt von Titians Pinſel erlangen
wuͤrde, wenn dieſer nicht mit hoͤherm Verdienſt
verbunden iſt. Aber die Laufbahn, die nach dieſem

Ruhme
(†) Euphranoris Alexander Paris eſt, in quo lau-
datur, quod omnia ſimul intelligantur, iudex Dearum,
[Spaltenumbruch] Amator Helenae et tamen Achillis interſector. Plin.
LXXXIV.
8.
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[37/0049] All All Deutung; nur muß der Kuͤnſtler ſich nicht einbil- den, damit der Allegorie Genuͤge geleiſtet zu haben, und ſich uͤbrigens mit jeder weiblichen Figur, die dieſes Zeichen traͤgt, begnuͤgen. Dieſe kleinere, ohne weitere Kraft redende Zeichen, ſind in dem al- legoriſchen Bilde um ſo viel noͤthiger, da die zeich- nenden Kuͤnſte ſonſt, bey ihren kraͤftigſten Bildern, uns oft in Ungewißheit laſſen wuͤrden. Wuͤrde es einem Kuͤnſtler auch noch ſo ſehr gluͤken, in dem Bilde des Saturnus die Zeit auszudruͤken, ſo wird ihm noch uͤberdem das Stundenglas, oder ein an- deres Zeichen dieſer Art, nicht unnuͤtze ſeyn; weil erſt dieſes uns gleichſam den Namen des Bildes angiebt, deſſen Eigenſchaften hernach aus ſeinem Charakter zu erkennen ſind. Der Zeichner iſt hier- in ungemein viel eingeſchraͤnkter, als der Dichter. Dieſer bringt ſeine Allegorie in dem Zuſammenhang an, der leicht auf die Deutung derſelben fuͤhret: jener muß gar zu oft ſein Bild allein hin ſetzen, wo außer ihm nichts iſt, das ſeine Deutung erleich- tert. Darum muß er nothwendig auf Neben- ſachen ſehen, die dieſes thun. Nur muß er, wie geſagt, ſich damit nicht begnuͤgen, ſondern auf das Große im Ausdruk arbeiten. Wenn das, was man uns von der Geſchiklichkeit der alten Mahler und Bildhauer berichtet, wahr iſt; ſo haben viele der- ſelben den Geiſt gehabt, Bilder, wie wir ſie hier fodern, wuͤrklich zu machen; ſo muß ihnen in der Allegorie, dem ſchweerſten Theile der Kunſt, nichts unmoͤglich geweſen ſeyn. Konnte Euphranor den Paris ſo mahlen, daß man in ihm den Schieds- richter der Schoͤnheit, den Entfuͤhrer der Helena, und zugleich den, der den Achilles erlegt hat, er- kannte; (†) ſo muͤßte wahrlich dem Euphranor in der Allegorie nichts zu ſchweer geweſen ſeyn. Wir haben an einem andern Orte (*) unſre Mey- nung uͤber dieſe und aͤhnliche Nachrichten von der Kunſt der Alten geſagt. Aber es iſt in Wahrheit dem Genie mehr moͤglich, das der Verſtand be- greift, und deswegen nicht ohne Nutzen, daß neuere Kuͤnſtler durch das Beyſpiel der alten, wenn es auch uͤbertrieben iſt, gereizt werden. Kunſtrichter muͤſſen es machen, wie der Philoſoph Diogenes in der Moral; ſie koͤnnen immer den Ton etwas zu hoch angeben. (*) S. Autik. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß jemand alle allegori- ſche Bilder der Alten aus allen Schriften und Ca- binetten zuſammen ſuchte, und daraus eine beſſere Jconologie machte, als die Ripa gegeben hat. Oft fehlt einem Kuͤnſtler von Genie nichts, als daß er wiſſe, was andern vor ihm ſchon moͤglich gewe- ſen. Haͤtten doch Leßing und Klotz, die ſo manchen Schriftſteller durchſuchen, um einen eben nicht ſehr wichtigen Streit fortzuſetzen, ihre Be- muͤhung hierauf gewendet! Den naͤchſten Rang nach den einzeln allegori- ſchen Bildern nehmen die allegoriſchen Vorſtellungen ein, welche gewiſſe Lehren oder allgemeine Saͤtze ausdruͤken. Hier gilt der ſo gar oft zur Unzeit an- gefuͤhrte Ausſpruch des Horaz: Segnius irritant animos demiſſa per aurem Quam quae ſunt oculis ſubiecta fidelibus — Wenn uͤbrigens ein allegoriſches Gemaͤhld eine Wahrheit mit nicht mehr Kraft ſagt, als es durch den Ausdruk der Rede wuͤrde geſchehen ſeyn, ſo hat es den Vortheil der Lebhaftigkeit; weil wir hier ſehen, was wir dort blos im Verſtande oder in der Einbildungskraft, dem bloßen Schatten der Sin- nen, vor uns haben. Kommt zu dieſem Vortheil der allegoriſchen Vorſtellung noch die innerliche Vollkommenheit derſelben, ſo wird ihre Wuͤrkung ſo ſtark, daß ſie alle poetiſche Kraft weit uͤbertrifft; und hierin liegt eben der hoͤchſte Endzwek der Kunſt. Es ſey mir vergoͤnnt, hier eine Anmerkung zu machen, die vermuthlich noch an mehrern Orten dieſes Werks vorkommen, aber nicht zu oft wieder- holt werden, kann. Es iſt ein großer Mißbrauch der Kunſt, daß noch ſo ſehr durchgehends ein voll- kommener Pinſel mehr, als eine vollkommene Er- findung gelobt wird. Dieſes heißt Mittel ohne Endzwek ſchaͤtzen. Die meiſten Kenner gleichen dem Geizhals, der ſich blos im Beſitz eines Mit- tels, das er niemals zu brauchen gedenket, ſelig preiſt. Die gluͤkliche Erfindung einer wichtigen Allegorie giebt einem Gemaͤhlde einen groͤßern Werth, als es ſelbſt von Titians Pinſel erlangen wuͤrde, wenn dieſer nicht mit hoͤherm Verdienſt verbunden iſt. Aber die Laufbahn, die nach dieſem Ruhme (†) Euphranoris Alexander Paris eſt, in quo lau- datur, quod omnia ſimul intelligantur, iudex Dearum, Amator Helenae et tamen Achillis interſector. Plin. LXXXIV. 8. E 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/49>, abgerufen am 28.03.2024.