Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Gli
liche Theorie der Gleichnisse verlangt, der wird in
Breitingers critischer Abhandlung von der Natur,
den Absichten und dem Gebrauch der Gleichnisse einen
reichen Vorrath hiezu dienlicher Anmerkungen fin-
den. Von dem Werthe der zum Gleichnis zu wäh-
lenden Bilder selbst, und ihren verschiedenen Wür-
kungen, wird in dem Artikel Vergleichung das Noth-
wendigste vorkommen.

Glied.
(Schöne Künste.)

Ein kleiner unabsonderlicher, aber für sich merkbarer,
Theil eines Ganzen; oder ein solcher Theil, der zwar
durch seine eigene Form sich von andern unterschei-
det, aber ausser seinem Zusammenhange mit dem
Ganzen, oder für sich, nichts bestimmtes ausmacht.
Ein Ganzes kann Theile von verschiedener Art haben.
Denn es können einige so beschaffen seyn, daß sie
vom Ganzen abgerissen, für sich noch ein Ganzes
ausmachen. So ist ein einzeles Haus ein Theil
einer Stadt, ein Zimmer ein Theil eines Hauses,
eine Periode ein Theil der Rede. Wenn aber der
abgerissene Theil für sich nichts Vollendetes aus-
macht, so ist er ein Glied des Ganzen. Von die-
ser Art ist ein Finger, eine Hand, die erst alsdann
etwas bestimmtes sind, wenn sie in der Verbindung
mit dem Ganzen stehen. So ist eine Sylbe ein Glied
eines Worts; und der Theil der Rede, der keinen
vollendeten Sinn hat, sondern nur einen Theil dessel-
ben enthält, ist ein Glied der Periode. Jn dem Ge-
sang ist eine Periode, die sich mit einer Cadenz
schließt, ein für sich bestehender Theil, die einzeln
Tonfüße und kleinere Einschnitte, sind Glieder dessel-
ben. Jm Tanz ist eine ganze Figur ein Haupttheil,
einzele Schritte aber sind die Glieder desselben.

Vermittelst der Glieder unterscheiden sich die
Theile eines Ganzen von einander, und erweken da-
durch die Empfindung des Mannigfaltigen in Einem,
und der Verhältnisse der Theile. Gegenstände, wel-
che die Sinnen und die Phantasie beschäftigen, kön-
nen ohne diese Mannigfaltigkeit der Theile und
Glieder nicht gefallen, weil sie ausser dem nichts an
sich haben, das unsre Aufmerksamkeit reitzen könnte.
Das durchaus Einförmige, das wie eine gerade Linie
keine würklichen, sondern blos eingebildete Theile hat,
kann nicht gefallen. Ein dunkles Gefühl der Noth-
wendigkeit der Glieder in dergleichen Gegenständen,
hat sie ohne Vorsatz und Ueberlegung in alle mensch-
[Spaltenumbruch]

Gli
liche Werke gebracht, die Gegenstände des Geschmaks
seyn können. Jn der Sprache, in den Gesängen
und Tänzen der unwissendesten Völker, sind Glieder
von mancherley Art entstanden; denn jeder Mensch
fühlt, daß ein Gegenstand, der durchaus einerley
ist, die Aufmerksamkeit nicht fest halten, folglich
nicht lange gefallen könne.

Hieraus läßt sich begreifen, wie aus geschikter
Zusammenfügung größerer und kleinerer Glieder
von verschiedener Art, in der Sprache, in dem Ge-
sang, in Bewegung, in körperlichen Formen, ein
wol geordnetes Ganzes entstehe, in welchem, wie
in dem menschlichen Körper, Harmonie, Ordnung,
Mannigfaltigkeit und angenehme Verhältnisse statt
haben. Man muß es als eine Folge dieser Anmer-
kung ansehen, daß die Alten die Form des mensch-
lichen Körpers, als das vollkommenste Muster der
Gebäude, angegeben haben; denn sonst begreift man
nicht, was für Gemeinschaft diese beyden Dinge mit
einander haben.

Da aus der vollkommenen Zusammenordnung der
Glieder des Körpers ein so schönes Ganzes entsteht,
so kann man die Vollkommenheit dieser Form zum
allgemeinen Muster aller Schönheit angeben. Die
Harmonie der Sprach und des Gesanges entsteht
aus ihren Gliedern eben so, wie die Harmonie der Fi-
gur aus den ihrigen. Aber der Ursprung der Schön-
heit, aus der Harmonie der Glieder, läßt sich un-
endlich leichter empfinden, als beschreiben. Der,
welcher in allen Arten das Schöne der Phantasie
erreichen will, muß die vollkommene Zusammense-
tzung der menschlichen Gestalt aus ihren Gliedern,
die höchste uns bekannte Schönheit, so oft und so
gründlich gefühlt haben, daß seine Einbildungskraft
durch den allgemeinen darin herrschenden Geschmak
geleitet wird. Wenn einer der alten griechischen
Meister, welche die höchste Schönheit der Formen
überall erreicht haben, oder wenn Raphael unter
den Neuern, seine Empfindungen hierüber der Welt
mitgetheilt hätten, so wären wir vielleicht im Stan-
de, die beste Zusammenfügung der Glieder zu be-
schreiben. Jtzt können wir nur wenige Worte über
diese geheimnisvolle Materie stammeln.

Die Glieder eines vollkommenen Ganzen müssen
von mannigfaltiger Größe und von eben so mannig-
faltiger Gestalt seyn; sie müssen von einander un-
terschieden und doch so unzertrennlich an einander
verbunden seyn, daß man nirgend kann stille stehen;

man

[Spaltenumbruch]

Gli
liche Theorie der Gleichniſſe verlangt, der wird in
Breitingers critiſcher Abhandlung von der Natur,
den Abſichten und dem Gebrauch der Gleichniſſe einen
reichen Vorrath hiezu dienlicher Anmerkungen fin-
den. Von dem Werthe der zum Gleichnis zu waͤh-
lenden Bilder ſelbſt, und ihren verſchiedenen Wuͤr-
kungen, wird in dem Artikel Vergleichung das Noth-
wendigſte vorkommen.

Glied.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Ein kleiner unabſonderlicher, aber fuͤr ſich merkbarer,
Theil eines Ganzen; oder ein ſolcher Theil, der zwar
durch ſeine eigene Form ſich von andern unterſchei-
det, aber auſſer ſeinem Zuſammenhange mit dem
Ganzen, oder fuͤr ſich, nichts beſtimmtes ausmacht.
Ein Ganzes kann Theile von verſchiedener Art haben.
Denn es koͤnnen einige ſo beſchaffen ſeyn, daß ſie
vom Ganzen abgeriſſen, fuͤr ſich noch ein Ganzes
ausmachen. So iſt ein einzeles Haus ein Theil
einer Stadt, ein Zimmer ein Theil eines Hauſes,
eine Periode ein Theil der Rede. Wenn aber der
abgeriſſene Theil fuͤr ſich nichts Vollendetes aus-
macht, ſo iſt er ein Glied des Ganzen. Von die-
ſer Art iſt ein Finger, eine Hand, die erſt alsdann
etwas beſtimmtes ſind, wenn ſie in der Verbindung
mit dem Ganzen ſtehen. So iſt eine Sylbe ein Glied
eines Worts; und der Theil der Rede, der keinen
vollendeten Sinn hat, ſondern nur einen Theil deſſel-
ben enthaͤlt, iſt ein Glied der Periode. Jn dem Ge-
ſang iſt eine Periode, die ſich mit einer Cadenz
ſchließt, ein fuͤr ſich beſtehender Theil, die einzeln
Tonfuͤße und kleinere Einſchnitte, ſind Glieder deſſel-
ben. Jm Tanz iſt eine ganze Figur ein Haupttheil,
einzele Schritte aber ſind die Glieder deſſelben.

Vermittelſt der Glieder unterſcheiden ſich die
Theile eines Ganzen von einander, und erweken da-
durch die Empfindung des Mannigfaltigen in Einem,
und der Verhaͤltniſſe der Theile. Gegenſtaͤnde, wel-
che die Sinnen und die Phantaſie beſchaͤftigen, koͤn-
nen ohne dieſe Mannigfaltigkeit der Theile und
Glieder nicht gefallen, weil ſie auſſer dem nichts an
ſich haben, das unſre Aufmerkſamkeit reitzen koͤnnte.
Das durchaus Einfoͤrmige, das wie eine gerade Linie
keine wuͤrklichen, ſondern blos eingebildete Theile hat,
kann nicht gefallen. Ein dunkles Gefuͤhl der Noth-
wendigkeit der Glieder in dergleichen Gegenſtaͤnden,
hat ſie ohne Vorſatz und Ueberlegung in alle menſch-
[Spaltenumbruch]

Gli
liche Werke gebracht, die Gegenſtaͤnde des Geſchmaks
ſeyn koͤnnen. Jn der Sprache, in den Geſaͤngen
und Taͤnzen der unwiſſendeſten Voͤlker, ſind Glieder
von mancherley Art entſtanden; denn jeder Menſch
fuͤhlt, daß ein Gegenſtand, der durchaus einerley
iſt, die Aufmerkſamkeit nicht feſt halten, folglich
nicht lange gefallen koͤnne.

Hieraus laͤßt ſich begreifen, wie aus geſchikter
Zuſammenfuͤgung groͤßerer und kleinerer Glieder
von verſchiedener Art, in der Sprache, in dem Ge-
ſang, in Bewegung, in koͤrperlichen Formen, ein
wol geordnetes Ganzes entſtehe, in welchem, wie
in dem menſchlichen Koͤrper, Harmonie, Ordnung,
Mannigfaltigkeit und angenehme Verhaͤltniſſe ſtatt
haben. Man muß es als eine Folge dieſer Anmer-
kung anſehen, daß die Alten die Form des menſch-
lichen Koͤrpers, als das vollkommenſte Muſter der
Gebaͤude, angegeben haben; denn ſonſt begreift man
nicht, was fuͤr Gemeinſchaft dieſe beyden Dinge mit
einander haben.

Da aus der vollkommenen Zuſammenordnung der
Glieder des Koͤrpers ein ſo ſchoͤnes Ganzes entſteht,
ſo kann man die Vollkommenheit dieſer Form zum
allgemeinen Muſter aller Schoͤnheit angeben. Die
Harmonie der Sprach und des Geſanges entſteht
aus ihren Gliedern eben ſo, wie die Harmonie der Fi-
gur aus den ihrigen. Aber der Urſprung der Schoͤn-
heit, aus der Harmonie der Glieder, laͤßt ſich un-
endlich leichter empfinden, als beſchreiben. Der,
welcher in allen Arten das Schoͤne der Phantaſie
erreichen will, muß die vollkommene Zuſammenſe-
tzung der menſchlichen Geſtalt aus ihren Gliedern,
die hoͤchſte uns bekannte Schoͤnheit, ſo oft und ſo
gruͤndlich gefuͤhlt haben, daß ſeine Einbildungskraft
durch den allgemeinen darin herrſchenden Geſchmak
geleitet wird. Wenn einer der alten griechiſchen
Meiſter, welche die hoͤchſte Schoͤnheit der Formen
uͤberall erreicht haben, oder wenn Raphael unter
den Neuern, ſeine Empfindungen hieruͤber der Welt
mitgetheilt haͤtten, ſo waͤren wir vielleicht im Stan-
de, die beſte Zuſammenfuͤgung der Glieder zu be-
ſchreiben. Jtzt koͤnnen wir nur wenige Worte uͤber
dieſe geheimnisvolle Materie ſtammeln.

Die Glieder eines vollkommenen Ganzen muͤſſen
von mannigfaltiger Groͤße und von eben ſo mannig-
faltiger Geſtalt ſeyn; ſie muͤſſen von einander un-
terſchieden und doch ſo unzertrennlich an einander
verbunden ſeyn, daß man nirgend kann ſtille ſtehen;

man
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0499" n="487"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Gli</hi></fw><lb/>
liche Theorie der Gleichni&#x017F;&#x017F;e verlangt, der wird in<lb/>
Breitingers criti&#x017F;cher Abhandlung von der Natur,<lb/>
den Ab&#x017F;ichten und dem Gebrauch der Gleichni&#x017F;&#x017F;e einen<lb/>
reichen Vorrath hiezu dienlicher Anmerkungen fin-<lb/>
den. Von dem Werthe der zum Gleichnis zu wa&#x0364;h-<lb/>
lenden Bilder &#x017F;elb&#x017F;t, und ihren ver&#x017F;chiedenen Wu&#x0364;r-<lb/>
kungen, wird in dem Artikel <hi rendition="#fr">Vergleichung</hi> das Noth-<lb/>
wendig&#x017F;te vorkommen.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Glied.</hi><lb/>
(Scho&#x0364;ne Ku&#x0364;n&#x017F;te.)</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">E</hi>in kleiner unab&#x017F;onderlicher, aber fu&#x0364;r &#x017F;ich merkbarer,<lb/>
Theil eines Ganzen; oder ein &#x017F;olcher Theil, der zwar<lb/>
durch &#x017F;eine eigene Form &#x017F;ich von andern unter&#x017F;chei-<lb/>
det, aber au&#x017F;&#x017F;er &#x017F;einem Zu&#x017F;ammenhange mit dem<lb/>
Ganzen, oder fu&#x0364;r &#x017F;ich, nichts be&#x017F;timmtes ausmacht.<lb/>
Ein Ganzes kann Theile von ver&#x017F;chiedener Art haben.<lb/>
Denn es ko&#x0364;nnen einige &#x017F;o be&#x017F;chaffen &#x017F;eyn, daß &#x017F;ie<lb/>
vom Ganzen abgeri&#x017F;&#x017F;en, fu&#x0364;r &#x017F;ich noch ein Ganzes<lb/>
ausmachen. So i&#x017F;t ein einzeles Haus ein Theil<lb/>
einer Stadt, ein Zimmer ein Theil eines Hau&#x017F;es,<lb/>
eine Periode ein Theil der Rede. Wenn aber der<lb/>
abgeri&#x017F;&#x017F;ene Theil fu&#x0364;r &#x017F;ich nichts Vollendetes aus-<lb/>
macht, &#x017F;o i&#x017F;t er ein Glied des Ganzen. Von die-<lb/>
&#x017F;er Art i&#x017F;t ein Finger, eine Hand, die er&#x017F;t alsdann<lb/>
etwas be&#x017F;timmtes &#x017F;ind, wenn &#x017F;ie in der Verbindung<lb/>
mit dem Ganzen &#x017F;tehen. So i&#x017F;t eine Sylbe ein Glied<lb/>
eines Worts; und der Theil der Rede, der keinen<lb/>
vollendeten Sinn hat, &#x017F;ondern nur einen Theil de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben entha&#x0364;lt, i&#x017F;t ein Glied der Periode. Jn dem Ge-<lb/>
&#x017F;ang i&#x017F;t eine Periode, die &#x017F;ich mit einer Cadenz<lb/>
&#x017F;chließt, ein fu&#x0364;r &#x017F;ich be&#x017F;tehender Theil, die einzeln<lb/>
Tonfu&#x0364;ße und kleinere Ein&#x017F;chnitte, &#x017F;ind Glieder de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben. Jm Tanz i&#x017F;t eine ganze Figur ein Haupttheil,<lb/>
einzele Schritte aber &#x017F;ind die Glieder de&#x017F;&#x017F;elben.</p><lb/>
          <p>Vermittel&#x017F;t der Glieder unter&#x017F;cheiden &#x017F;ich die<lb/>
Theile eines Ganzen von einander, und erweken da-<lb/>
durch die Empfindung des Mannigfaltigen in <hi rendition="#fr">Einem,</hi><lb/>
und der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der Theile. Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde, wel-<lb/>
che die Sinnen und die Phanta&#x017F;ie be&#x017F;cha&#x0364;ftigen, ko&#x0364;n-<lb/>
nen ohne die&#x017F;e Mannigfaltigkeit der Theile und<lb/>
Glieder nicht gefallen, weil &#x017F;ie au&#x017F;&#x017F;er dem nichts an<lb/>
&#x017F;ich haben, das un&#x017F;re Aufmerk&#x017F;amkeit reitzen ko&#x0364;nnte.<lb/>
Das durchaus Einfo&#x0364;rmige, das wie eine gerade Linie<lb/>
keine wu&#x0364;rklichen, &#x017F;ondern blos eingebildete Theile hat,<lb/>
kann nicht gefallen. Ein dunkles Gefu&#x0364;hl der Noth-<lb/>
wendigkeit der Glieder in dergleichen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden,<lb/>
hat &#x017F;ie ohne Vor&#x017F;atz und Ueberlegung in alle men&#x017F;ch-<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Gli</hi></fw><lb/>
liche Werke gebracht, die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde des Ge&#x017F;chmaks<lb/>
&#x017F;eyn ko&#x0364;nnen. Jn der Sprache, in den Ge&#x017F;a&#x0364;ngen<lb/>
und Ta&#x0364;nzen der unwi&#x017F;&#x017F;ende&#x017F;ten Vo&#x0364;lker, &#x017F;ind Glieder<lb/>
von mancherley Art ent&#x017F;tanden; denn jeder Men&#x017F;ch<lb/>
fu&#x0364;hlt, daß ein Gegen&#x017F;tand, der durchaus einerley<lb/>
i&#x017F;t, die Aufmerk&#x017F;amkeit nicht fe&#x017F;t halten, folglich<lb/>
nicht lange gefallen ko&#x0364;nne.</p><lb/>
          <p>Hieraus la&#x0364;ßt &#x017F;ich begreifen, wie aus ge&#x017F;chikter<lb/>
Zu&#x017F;ammenfu&#x0364;gung gro&#x0364;ßerer und kleinerer Glieder<lb/>
von ver&#x017F;chiedener Art, in der Sprache, in dem Ge-<lb/>
&#x017F;ang, in Bewegung, in ko&#x0364;rperlichen Formen, ein<lb/>
wol geordnetes Ganzes ent&#x017F;tehe, in welchem, wie<lb/>
in dem men&#x017F;chlichen Ko&#x0364;rper, Harmonie, Ordnung,<lb/>
Mannigfaltigkeit und angenehme Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;tatt<lb/>
haben. Man muß es als eine Folge die&#x017F;er Anmer-<lb/>
kung an&#x017F;ehen, daß die Alten die Form des men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Ko&#x0364;rpers, als das vollkommen&#x017F;te Mu&#x017F;ter der<lb/>
Geba&#x0364;ude, angegeben haben; denn &#x017F;on&#x017F;t begreift man<lb/>
nicht, was fu&#x0364;r Gemein&#x017F;chaft die&#x017F;e beyden Dinge mit<lb/>
einander haben.</p><lb/>
          <p>Da aus der vollkommenen Zu&#x017F;ammenordnung der<lb/>
Glieder des Ko&#x0364;rpers ein &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;nes Ganzes ent&#x017F;teht,<lb/>
&#x017F;o kann man die Vollkommenheit die&#x017F;er Form zum<lb/>
allgemeinen Mu&#x017F;ter aller Scho&#x0364;nheit angeben. Die<lb/>
Harmonie der Sprach und des Ge&#x017F;anges ent&#x017F;teht<lb/>
aus ihren Gliedern eben &#x017F;o, wie die Harmonie der Fi-<lb/>
gur aus den ihrigen. Aber der Ur&#x017F;prung der Scho&#x0364;n-<lb/>
heit, aus der Harmonie der Glieder, la&#x0364;ßt &#x017F;ich un-<lb/>
endlich leichter empfinden, als be&#x017F;chreiben. Der,<lb/>
welcher in allen Arten das Scho&#x0364;ne der Phanta&#x017F;ie<lb/>
erreichen will, muß die vollkommene Zu&#x017F;ammen&#x017F;e-<lb/>
tzung der men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;talt aus ihren Gliedern,<lb/>
die ho&#x0364;ch&#x017F;te uns bekannte Scho&#x0364;nheit, &#x017F;o oft und &#x017F;o<lb/>
gru&#x0364;ndlich gefu&#x0364;hlt haben, daß &#x017F;eine Einbildungskraft<lb/>
durch den allgemeinen darin herr&#x017F;chenden Ge&#x017F;chmak<lb/>
geleitet wird. Wenn einer der alten griechi&#x017F;chen<lb/>
Mei&#x017F;ter, welche die ho&#x0364;ch&#x017F;te Scho&#x0364;nheit der Formen<lb/>
u&#x0364;berall erreicht haben, oder wenn Raphael unter<lb/>
den Neuern, &#x017F;eine Empfindungen hieru&#x0364;ber der Welt<lb/>
mitgetheilt ha&#x0364;tten, &#x017F;o wa&#x0364;ren wir vielleicht im Stan-<lb/>
de, die be&#x017F;te Zu&#x017F;ammenfu&#x0364;gung der Glieder zu be-<lb/>
&#x017F;chreiben. Jtzt ko&#x0364;nnen wir nur wenige Worte u&#x0364;ber<lb/>
die&#x017F;e geheimnisvolle Materie &#x017F;tammeln.</p><lb/>
          <p>Die Glieder eines vollkommenen Ganzen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
von mannigfaltiger Gro&#x0364;ße und von eben &#x017F;o mannig-<lb/>
faltiger Ge&#x017F;talt &#x017F;eyn; &#x017F;ie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en von einander un-<lb/>
ter&#x017F;chieden und doch &#x017F;o unzertrennlich an einander<lb/>
verbunden &#x017F;eyn, daß man nirgend kann &#x017F;tille &#x017F;tehen;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">man</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[487/0499] Gli Gli liche Theorie der Gleichniſſe verlangt, der wird in Breitingers critiſcher Abhandlung von der Natur, den Abſichten und dem Gebrauch der Gleichniſſe einen reichen Vorrath hiezu dienlicher Anmerkungen fin- den. Von dem Werthe der zum Gleichnis zu waͤh- lenden Bilder ſelbſt, und ihren verſchiedenen Wuͤr- kungen, wird in dem Artikel Vergleichung das Noth- wendigſte vorkommen. Glied. (Schoͤne Kuͤnſte.) Ein kleiner unabſonderlicher, aber fuͤr ſich merkbarer, Theil eines Ganzen; oder ein ſolcher Theil, der zwar durch ſeine eigene Form ſich von andern unterſchei- det, aber auſſer ſeinem Zuſammenhange mit dem Ganzen, oder fuͤr ſich, nichts beſtimmtes ausmacht. Ein Ganzes kann Theile von verſchiedener Art haben. Denn es koͤnnen einige ſo beſchaffen ſeyn, daß ſie vom Ganzen abgeriſſen, fuͤr ſich noch ein Ganzes ausmachen. So iſt ein einzeles Haus ein Theil einer Stadt, ein Zimmer ein Theil eines Hauſes, eine Periode ein Theil der Rede. Wenn aber der abgeriſſene Theil fuͤr ſich nichts Vollendetes aus- macht, ſo iſt er ein Glied des Ganzen. Von die- ſer Art iſt ein Finger, eine Hand, die erſt alsdann etwas beſtimmtes ſind, wenn ſie in der Verbindung mit dem Ganzen ſtehen. So iſt eine Sylbe ein Glied eines Worts; und der Theil der Rede, der keinen vollendeten Sinn hat, ſondern nur einen Theil deſſel- ben enthaͤlt, iſt ein Glied der Periode. Jn dem Ge- ſang iſt eine Periode, die ſich mit einer Cadenz ſchließt, ein fuͤr ſich beſtehender Theil, die einzeln Tonfuͤße und kleinere Einſchnitte, ſind Glieder deſſel- ben. Jm Tanz iſt eine ganze Figur ein Haupttheil, einzele Schritte aber ſind die Glieder deſſelben. Vermittelſt der Glieder unterſcheiden ſich die Theile eines Ganzen von einander, und erweken da- durch die Empfindung des Mannigfaltigen in Einem, und der Verhaͤltniſſe der Theile. Gegenſtaͤnde, wel- che die Sinnen und die Phantaſie beſchaͤftigen, koͤn- nen ohne dieſe Mannigfaltigkeit der Theile und Glieder nicht gefallen, weil ſie auſſer dem nichts an ſich haben, das unſre Aufmerkſamkeit reitzen koͤnnte. Das durchaus Einfoͤrmige, das wie eine gerade Linie keine wuͤrklichen, ſondern blos eingebildete Theile hat, kann nicht gefallen. Ein dunkles Gefuͤhl der Noth- wendigkeit der Glieder in dergleichen Gegenſtaͤnden, hat ſie ohne Vorſatz und Ueberlegung in alle menſch- liche Werke gebracht, die Gegenſtaͤnde des Geſchmaks ſeyn koͤnnen. Jn der Sprache, in den Geſaͤngen und Taͤnzen der unwiſſendeſten Voͤlker, ſind Glieder von mancherley Art entſtanden; denn jeder Menſch fuͤhlt, daß ein Gegenſtand, der durchaus einerley iſt, die Aufmerkſamkeit nicht feſt halten, folglich nicht lange gefallen koͤnne. Hieraus laͤßt ſich begreifen, wie aus geſchikter Zuſammenfuͤgung groͤßerer und kleinerer Glieder von verſchiedener Art, in der Sprache, in dem Ge- ſang, in Bewegung, in koͤrperlichen Formen, ein wol geordnetes Ganzes entſtehe, in welchem, wie in dem menſchlichen Koͤrper, Harmonie, Ordnung, Mannigfaltigkeit und angenehme Verhaͤltniſſe ſtatt haben. Man muß es als eine Folge dieſer Anmer- kung anſehen, daß die Alten die Form des menſch- lichen Koͤrpers, als das vollkommenſte Muſter der Gebaͤude, angegeben haben; denn ſonſt begreift man nicht, was fuͤr Gemeinſchaft dieſe beyden Dinge mit einander haben. Da aus der vollkommenen Zuſammenordnung der Glieder des Koͤrpers ein ſo ſchoͤnes Ganzes entſteht, ſo kann man die Vollkommenheit dieſer Form zum allgemeinen Muſter aller Schoͤnheit angeben. Die Harmonie der Sprach und des Geſanges entſteht aus ihren Gliedern eben ſo, wie die Harmonie der Fi- gur aus den ihrigen. Aber der Urſprung der Schoͤn- heit, aus der Harmonie der Glieder, laͤßt ſich un- endlich leichter empfinden, als beſchreiben. Der, welcher in allen Arten das Schoͤne der Phantaſie erreichen will, muß die vollkommene Zuſammenſe- tzung der menſchlichen Geſtalt aus ihren Gliedern, die hoͤchſte uns bekannte Schoͤnheit, ſo oft und ſo gruͤndlich gefuͤhlt haben, daß ſeine Einbildungskraft durch den allgemeinen darin herrſchenden Geſchmak geleitet wird. Wenn einer der alten griechiſchen Meiſter, welche die hoͤchſte Schoͤnheit der Formen uͤberall erreicht haben, oder wenn Raphael unter den Neuern, ſeine Empfindungen hieruͤber der Welt mitgetheilt haͤtten, ſo waͤren wir vielleicht im Stan- de, die beſte Zuſammenfuͤgung der Glieder zu be- ſchreiben. Jtzt koͤnnen wir nur wenige Worte uͤber dieſe geheimnisvolle Materie ſtammeln. Die Glieder eines vollkommenen Ganzen muͤſſen von mannigfaltiger Groͤße und von eben ſo mannig- faltiger Geſtalt ſeyn; ſie muͤſſen von einander un- terſchieden und doch ſo unzertrennlich an einander verbunden ſeyn, daß man nirgend kann ſtille ſtehen; man

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/499
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/499>, abgerufen am 14.05.2024.