Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Gli man muß durch einen unwiderstehlichen, aber sanf-ten Zwang genöthiget werden, von einem zum an- dern zu gehen, und im Ganzen muß kein Theil als einzeln erscheinen. Man muß Theile bemerken, und wenn man sie einzeln fassen will, müssen sie sich in der Maße des Ganzen verliehren. Alles muß so in einander geschlungen seyn, daß die Vorstellungskraft nirgendwo würklich ruhen, oder stille stehen kann, als bey der Betrachtung des Ganzen. Aber in den Verbindungen selbst muß eben die Mannigfaltigkeit herrschen, als in den Gliedern. Sie müssen immer enge, kaum fühlbar, und doch von merklicher Wür- kung, aber von verschiedenen Graden seyn. Nach dergleichen Gesetzen giebt der Redner seinen Glieder. (Baukunst.) Sind die kleinern Theile, aus deren Zusammense- Die Glieder sind für die Gesimse beynahe, was die Gli verständigen und einen guten Geschmak besitzendenBaumeisters. Die Glieder sind in Ansehung ihrer Form von [Abbildung]
Hier-
[Spaltenumbruch] Gli man muß durch einen unwiderſtehlichen, aber ſanf-ten Zwang genoͤthiget werden, von einem zum an- dern zu gehen, und im Ganzen muß kein Theil als einzeln erſcheinen. Man muß Theile bemerken, und wenn man ſie einzeln faſſen will, muͤſſen ſie ſich in der Maße des Ganzen verliehren. Alles muß ſo in einander geſchlungen ſeyn, daß die Vorſtellungskraft nirgendwo wuͤrklich ruhen, oder ſtille ſtehen kann, als bey der Betrachtung des Ganzen. Aber in den Verbindungen ſelbſt muß eben die Mannigfaltigkeit herrſchen, als in den Gliedern. Sie muͤſſen immer enge, kaum fuͤhlbar, und doch von merklicher Wuͤr- kung, aber von verſchiedenen Graden ſeyn. Nach dergleichen Geſetzen giebt der Redner ſeinen Glieder. (Baukunſt.) Sind die kleinern Theile, aus deren Zuſammenſe- Die Glieder ſind fuͤr die Geſimſe beynahe, was die Gli verſtaͤndigen und einen guten Geſchmak beſitzendenBaumeiſters. Die Glieder ſind in Anſehung ihrer Form von [Abbildung]
Hier-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0500" n="488"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Gli</hi></fw><lb/> man muß durch einen unwiderſtehlichen, aber ſanf-<lb/> ten Zwang genoͤthiget werden, von einem zum an-<lb/> dern zu gehen, und im Ganzen muß kein Theil als<lb/> einzeln erſcheinen. Man muß Theile bemerken, und<lb/> wenn man ſie einzeln faſſen will, muͤſſen ſie ſich in<lb/> der Maße des Ganzen verliehren. Alles muß ſo in<lb/> einander geſchlungen ſeyn, daß die Vorſtellungskraft<lb/> nirgendwo wuͤrklich ruhen, oder ſtille ſtehen kann,<lb/> als bey der Betrachtung des Ganzen. Aber in den<lb/> Verbindungen ſelbſt muß eben die Mannigfaltigkeit<lb/> herrſchen, als in den Gliedern. Sie muͤſſen immer<lb/> enge, kaum fuͤhlbar, und doch von merklicher Wuͤr-<lb/> kung, aber von verſchiedenen Graden ſeyn.</p><lb/> <p>Nach dergleichen Geſetzen giebt der Redner ſeinen<lb/> Perioden einen harmoniſchen Klang, wodurch das<lb/> Ohr ſo gereizt wird, wie das Aug durch die ſchoͤne<lb/> Form. Der Tonſetzer ſchlinget ſo ſeine Toͤne in<lb/> einen, auch ohne Ruͤkſicht auf den Ausdruk, ſchoͤnen<lb/> Geſang. Der Taͤnzer ſetzet aus ſeinen Elementen<lb/> die ſchoͤne Bewegung zuſammen, und nach eben den-<lb/> ſelben bringt der zeichnende und bildende Kuͤnſtler<lb/> nicht nur ſeine Formen hervor, ſondern auch die<lb/> Schoͤnheit der Zuſammenſetzung, und die Harmonie<lb/> der Farben entſtehen aus derſelben Quelle.</p> </div><lb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Glieder.</hi><lb/> (Baukunſt.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">S</hi>ind die kleinern Theile, aus deren Zuſammenſe-<lb/> tzung die zur Verzierung der Gebaͤude und der we-<lb/> ſentlichen Theile derſelben gehoͤrigen Haupttheile, be-<lb/> ſonders die Geſimſe, entſtehen. Die verſchiedenen klei-<lb/> nern und groͤſſern Theile, woraus der im Artikel<lb/> Attiſch abgezeichnete Saͤulenfuß zuſammengeſetzt iſt,<lb/> ſind Glieder deſſelben.</p><lb/> <p>Die Glieder ſind fuͤr die Geſimſe beynahe, was die<lb/> Buchſtaben fuͤr die Woͤrter ſind: und wie aus wenig<lb/> Buchſtaben eine unzaͤhlbare Menge von Woͤrtern<lb/> kann zuſammengeſetzt werden, ſo entſtehet aus der<lb/> verſchiedenen Zuſammenſetzung der Glieder eine große<lb/> Mannigfaltigkeit der Geſimſe, Fuͤße und Kraͤnze,<lb/> wodurch ſo wol die verſchiedenen Ordnungen ſich von<lb/> einander unterſcheiden, als auch die Gebaͤude uͤber-<lb/> haupt ihren Charakter des Reichthums oder der<lb/> Einfalt bekommen. Es iſt nichts leichters, als un-<lb/> zaͤhlige Arten von Kraͤnzen und Geſimſen zu erfin-<lb/> den; aber ſie in jedem Falle ſo zu erfinden, wie ſie<lb/> ſich fuͤr das Gebaͤude und den beſondern Theil deſ-<lb/> ſelben am beſten ſchiken, iſt das Werk eines ganz<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Gli</hi></fw><lb/> verſtaͤndigen und einen guten Geſchmak beſitzenden<lb/> Baumeiſters.</p><lb/> <p>Die Glieder ſind in Anſehung ihrer Form von<lb/> zweyerley Gattung, naͤmlich platt oder gebogen;<lb/> und dieſe letztere ſind entweder einwaͤrts oder aus-<lb/> waͤrts, das iſt hol oder bauchigt, oder halb auswaͤrts<lb/> und halb einwaͤrts gebogen. Sie bekommen ſowol<lb/> nach der Verſchiedenheit der Form, als nach der<lb/> Groͤße verſchiedene Namen. Jn Anſehung der<lb/> Groͤße werden ſie in große, mittlere und kleine Glie-<lb/> der eingetheilt. Die welche den ſechſten Theil eines<lb/> Models und daruͤber hoch oder breit ſind, machen<lb/> die Claſſe der großen Glieder aus; die, deren Hoͤhe<lb/> vom zwoͤlften bis auf den ſechſten Theil des Mo-<lb/> dels ſteigen kann, gehoͤren zu den mittlern; und die<lb/> noch niedriger oder ſchmaͤler ſind, als der zwoͤlfte<lb/> Theil des Models betraͤgt, ſind die kleinen. Die ge-<lb/> braͤuchlichſten Glieder ſind in folgenden Zeichnungen<lb/> abgebildet.</p><lb/> <figure/><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Hier-</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [488/0500]
Gli
Gli
man muß durch einen unwiderſtehlichen, aber ſanf-
ten Zwang genoͤthiget werden, von einem zum an-
dern zu gehen, und im Ganzen muß kein Theil als
einzeln erſcheinen. Man muß Theile bemerken, und
wenn man ſie einzeln faſſen will, muͤſſen ſie ſich in
der Maße des Ganzen verliehren. Alles muß ſo in
einander geſchlungen ſeyn, daß die Vorſtellungskraft
nirgendwo wuͤrklich ruhen, oder ſtille ſtehen kann,
als bey der Betrachtung des Ganzen. Aber in den
Verbindungen ſelbſt muß eben die Mannigfaltigkeit
herrſchen, als in den Gliedern. Sie muͤſſen immer
enge, kaum fuͤhlbar, und doch von merklicher Wuͤr-
kung, aber von verſchiedenen Graden ſeyn.
Nach dergleichen Geſetzen giebt der Redner ſeinen
Perioden einen harmoniſchen Klang, wodurch das
Ohr ſo gereizt wird, wie das Aug durch die ſchoͤne
Form. Der Tonſetzer ſchlinget ſo ſeine Toͤne in
einen, auch ohne Ruͤkſicht auf den Ausdruk, ſchoͤnen
Geſang. Der Taͤnzer ſetzet aus ſeinen Elementen
die ſchoͤne Bewegung zuſammen, und nach eben den-
ſelben bringt der zeichnende und bildende Kuͤnſtler
nicht nur ſeine Formen hervor, ſondern auch die
Schoͤnheit der Zuſammenſetzung, und die Harmonie
der Farben entſtehen aus derſelben Quelle.
Glieder.
(Baukunſt.)
Sind die kleinern Theile, aus deren Zuſammenſe-
tzung die zur Verzierung der Gebaͤude und der we-
ſentlichen Theile derſelben gehoͤrigen Haupttheile, be-
ſonders die Geſimſe, entſtehen. Die verſchiedenen klei-
nern und groͤſſern Theile, woraus der im Artikel
Attiſch abgezeichnete Saͤulenfuß zuſammengeſetzt iſt,
ſind Glieder deſſelben.
Die Glieder ſind fuͤr die Geſimſe beynahe, was die
Buchſtaben fuͤr die Woͤrter ſind: und wie aus wenig
Buchſtaben eine unzaͤhlbare Menge von Woͤrtern
kann zuſammengeſetzt werden, ſo entſtehet aus der
verſchiedenen Zuſammenſetzung der Glieder eine große
Mannigfaltigkeit der Geſimſe, Fuͤße und Kraͤnze,
wodurch ſo wol die verſchiedenen Ordnungen ſich von
einander unterſcheiden, als auch die Gebaͤude uͤber-
haupt ihren Charakter des Reichthums oder der
Einfalt bekommen. Es iſt nichts leichters, als un-
zaͤhlige Arten von Kraͤnzen und Geſimſen zu erfin-
den; aber ſie in jedem Falle ſo zu erfinden, wie ſie
ſich fuͤr das Gebaͤude und den beſondern Theil deſ-
ſelben am beſten ſchiken, iſt das Werk eines ganz
verſtaͤndigen und einen guten Geſchmak beſitzenden
Baumeiſters.
Die Glieder ſind in Anſehung ihrer Form von
zweyerley Gattung, naͤmlich platt oder gebogen;
und dieſe letztere ſind entweder einwaͤrts oder aus-
waͤrts, das iſt hol oder bauchigt, oder halb auswaͤrts
und halb einwaͤrts gebogen. Sie bekommen ſowol
nach der Verſchiedenheit der Form, als nach der
Groͤße verſchiedene Namen. Jn Anſehung der
Groͤße werden ſie in große, mittlere und kleine Glie-
der eingetheilt. Die welche den ſechſten Theil eines
Models und daruͤber hoch oder breit ſind, machen
die Claſſe der großen Glieder aus; die, deren Hoͤhe
vom zwoͤlften bis auf den ſechſten Theil des Mo-
dels ſteigen kann, gehoͤren zu den mittlern; und die
noch niedriger oder ſchmaͤler ſind, als der zwoͤlfte
Theil des Models betraͤgt, ſind die kleinen. Die ge-
braͤuchlichſten Glieder ſind in folgenden Zeichnungen
abgebildet.
[Abbildung]
Hier-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |