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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hel
pöe, oder Codrus in dem Trauerspiel des Kro-
neks, als ein Ungeheuer vorgekommen? Oder wer
wird sagen dürfen, daß der Prometheus beym Ae-
schylus eine abgeschmakte Person sey? Für einen
so feinen Kenner, als der Lord unstreitig war, war
es nicht genug überlegt, zu behaupten, Homer habe
aus Wahl und gutem Vorbedacht seine Helden nicht
ganz tugendhaft gemacht. Denn an das, was unsre
Moralisten Tugend nennen, hat Homer gewiß nicht
gedacht, folglich konnte er auch nicht aus Ueberlegung
die vollkommene Tugend verworfen haben.

Seneka hat den kühnen Gedanken gehabt, daß
ein vollkommen tugendhafter, dabey standhaft lei-
dender Mann, selbst für die Götter ein erhabener
Gegenstand sey. Wenn dieses auch übertrieben ist,
so können doch Menschen einen solchen Mann groß
und intressant finden, und also ein großes Vergnügen
daran haben, ihn handeln zu sehen. Jst es denn
eben so nothwendig, daß man in der Epopöe, oder
im Trauerspiel, immer durch die Heftigkeit der Lei-
denschaften erschüttert werde? Und rühret die Groß-
muth und eine herrschende Größe der Seele weniger,
als Zorn, oder Wuth, oder Verzweiflung?

Aber so viel ist gewiß, daß es unendlich schwee-
rer ist einen vollkommen tugendhaften Helden auf
einer so intressanten Seite zu zeigen, als einen durch
heftige Leidenschaften aufgebrachten; so wie ein
Zeichner viel leichter den Ausbruch großer Leiden-
schaften, als eine stille Größe der Seele ausdrü-
ken kann.

Heldengedicht.

Wenn gleich dieser Rame nach seiner eigentlichen
Bedeutung nur demjenigen epischen Gedichte zu-
kömmt, darin Heldenthaten erzählt werden, so kann
er doch überhaupt von der ganzen Gattung gebraucht
werden, weil das wahre Heldengedicht das vor-
nehmste der Gattung ist, aus dessen Nachahmung
die anderen Arten der Epopöe entstanden sind.

Der Charakter des Heldengedichts besteht über-
haupt darin, daß es in einem feyerlichen Ton eine
merkwürdige Handlung, oder Begebenheit, umständ-
lich erzählt, und das Merkwürdigste darin, es be-
treffe die Personen, oder andre Sachen, ausführlich
schildert und gleichsam vor Augen legt.

Man kann sich den natürlichen Ursprung und den
wahren Charakter dieses Gedichts am leichtesten vor-
stellen, wenn man auf das Achtung giebt, was man
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Hel
beym Lesen einer merkwürdigen Geschicht empfindet.
Der Mensch ist von Natur geneigt großen Begeben-
heiten nachzudenken; er verweilet mit Vergnügen
dabey, um alles, was ihn intressirt, so bestimmt
und so lebhaft zu fassen, als es ihm möglich ist.
Wenn die Handlung oder Begebenheit etwas weit-
läuftig und verwikelt ist, so sucht er das Wesent-
lichste davon sich in einer solchen Ordnung vorzu-
stellen, daß er das Ganze auf einmal am leichtesten
übersehen könne. Er ist mit der Erzählung des Ge-
schichtschreibers nicht zufrieden, sondern denkt Um-
stände hinzu, wie er sie zu sehen wünscht; und seine
Einbildungskraft leihet den Personen und Sachen
Gestalt und Farbe. Er selbst stellt sich dahin, wo
er die merkwürdigsten Personen ganz nahe zu sehen
glaubt, wo er Stellungen, Gebehrden und die Ge-
sichtszüge deutlich bemerken, den Ton der Stimme
hören und jedes Wort verstehen kann. Wo die Per-
sonen nicht reden, sucht er aus ihren Minen ihre
Gedanken zu erkennen; er setzet sich oft an ihre
Stelle, um jeden Eindruk, jede Empfindung, den
die Sachen auf sie machen, auch zu fühlen. Also
geräth er bey dem Fortgang der Handlung in alle
Leidenschaften und in alle Arten der Gemüthsfassung,
die die Umstände mit sich bringen; sich selbst vergißt
er einigermaaßen dabey, und ist ganz von dem einge-
nommen, was er sieht und hört.

Dieses ist das Betragen eines jeden empfindsamen
Menschen, so oft er sich einer merkwürdigen Bege-
benheit, die er erzählen gehört, oder selbst gesehen
hat, wieder erinnert, um die Eindrüke, die sie auf
ihn gemacht hat, noch einmal zu genießen. Wenn
er selbst den Verlauf der Sachen andern erzählet, so
nihmt sein Ton und sein Ausdruk das Gepräg sei-
ner Empfindung an, und er begnüget sich nicht, wie
der Geschichtschreiber, blos zu erzählen, sondern
versucht alles so zu schildern, wie er es zu sehen, und
so auszudrüken, wie er es zu hören, sich bemühet.
Aus diesem, jedem lebhaften Menschen natürlichen
Hange merkwürdige Begebenheiten mit seinen Zusä-
tzen, Schilderungen, und besonderer Anordnung
der Sachen zu erzählen, müssen wir den Ursprung
des Heldengedichts herleiten. Auch ohne Kunst
würde ein empfindsamer und dabey sehr beredter
Mensch unter dem Erzählen ein Heldengedicht ma-
chen; und so mögen die ältesten Heldengedichte der
Barden gewesen seyn: kömmt noch Ueberlegung und
Kunst hinzu, so bekömmt die Erzählung einen fei-

nern

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Hel
poͤe, oder Codrus in dem Trauerſpiel des Kro-
neks, als ein Ungeheuer vorgekommen? Oder wer
wird ſagen duͤrfen, daß der Prometheus beym Ae-
ſchylus eine abgeſchmakte Perſon ſey? Fuͤr einen
ſo feinen Kenner, als der Lord unſtreitig war, war
es nicht genug uͤberlegt, zu behaupten, Homer habe
aus Wahl und gutem Vorbedacht ſeine Helden nicht
ganz tugendhaft gemacht. Denn an das, was unſre
Moraliſten Tugend nennen, hat Homer gewiß nicht
gedacht, folglich konnte er auch nicht aus Ueberlegung
die vollkommene Tugend verworfen haben.

Seneka hat den kuͤhnen Gedanken gehabt, daß
ein vollkommen tugendhafter, dabey ſtandhaft lei-
dender Mann, ſelbſt fuͤr die Goͤtter ein erhabener
Gegenſtand ſey. Wenn dieſes auch uͤbertrieben iſt,
ſo koͤnnen doch Menſchen einen ſolchen Mann groß
und intreſſant finden, und alſo ein großes Vergnuͤgen
daran haben, ihn handeln zu ſehen. Jſt es denn
eben ſo nothwendig, daß man in der Epopoͤe, oder
im Trauerſpiel, immer durch die Heftigkeit der Lei-
denſchaften erſchuͤttert werde? Und ruͤhret die Groß-
muth und eine herrſchende Groͤße der Seele weniger,
als Zorn, oder Wuth, oder Verzweiflung?

Aber ſo viel iſt gewiß, daß es unendlich ſchwee-
rer iſt einen vollkommen tugendhaften Helden auf
einer ſo intreſſanten Seite zu zeigen, als einen durch
heftige Leidenſchaften aufgebrachten; ſo wie ein
Zeichner viel leichter den Ausbruch großer Leiden-
ſchaften, als eine ſtille Groͤße der Seele ausdruͤ-
ken kann.

Heldengedicht.

Wenn gleich dieſer Rame nach ſeiner eigentlichen
Bedeutung nur demjenigen epiſchen Gedichte zu-
koͤmmt, darin Heldenthaten erzaͤhlt werden, ſo kann
er doch uͤberhaupt von der ganzen Gattung gebraucht
werden, weil das wahre Heldengedicht das vor-
nehmſte der Gattung iſt, aus deſſen Nachahmung
die anderen Arten der Epopoͤe entſtanden ſind.

Der Charakter des Heldengedichts beſteht uͤber-
haupt darin, daß es in einem feyerlichen Ton eine
merkwuͤrdige Handlung, oder Begebenheit, umſtaͤnd-
lich erzaͤhlt, und das Merkwuͤrdigſte darin, es be-
treffe die Perſonen, oder andre Sachen, ausfuͤhrlich
ſchildert und gleichſam vor Augen legt.

Man kann ſich den natuͤrlichen Urſprung und den
wahren Charakter dieſes Gedichts am leichteſten vor-
ſtellen, wenn man auf das Achtung giebt, was man
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Hel
beym Leſen einer merkwuͤrdigen Geſchicht empfindet.
Der Menſch iſt von Natur geneigt großen Begeben-
heiten nachzudenken; er verweilet mit Vergnuͤgen
dabey, um alles, was ihn intreſſirt, ſo beſtimmt
und ſo lebhaft zu faſſen, als es ihm moͤglich iſt.
Wenn die Handlung oder Begebenheit etwas weit-
laͤuftig und verwikelt iſt, ſo ſucht er das Weſent-
lichſte davon ſich in einer ſolchen Ordnung vorzu-
ſtellen, daß er das Ganze auf einmal am leichteſten
uͤberſehen koͤnne. Er iſt mit der Erzaͤhlung des Ge-
ſchichtſchreibers nicht zufrieden, ſondern denkt Um-
ſtaͤnde hinzu, wie er ſie zu ſehen wuͤnſcht; und ſeine
Einbildungskraft leihet den Perſonen und Sachen
Geſtalt und Farbe. Er ſelbſt ſtellt ſich dahin, wo
er die merkwuͤrdigſten Perſonen ganz nahe zu ſehen
glaubt, wo er Stellungen, Gebehrden und die Ge-
ſichtszuͤge deutlich bemerken, den Ton der Stimme
hoͤren und jedes Wort verſtehen kann. Wo die Per-
ſonen nicht reden, ſucht er aus ihren Minen ihre
Gedanken zu erkennen; er ſetzet ſich oft an ihre
Stelle, um jeden Eindruk, jede Empfindung, den
die Sachen auf ſie machen, auch zu fuͤhlen. Alſo
geraͤth er bey dem Fortgang der Handlung in alle
Leidenſchaften und in alle Arten der Gemuͤthsfaſſung,
die die Umſtaͤnde mit ſich bringen; ſich ſelbſt vergißt
er einigermaaßen dabey, und iſt ganz von dem einge-
nommen, was er ſieht und hoͤrt.

Dieſes iſt das Betragen eines jeden empfindſamen
Menſchen, ſo oft er ſich einer merkwuͤrdigen Bege-
benheit, die er erzaͤhlen gehoͤrt, oder ſelbſt geſehen
hat, wieder erinnert, um die Eindruͤke, die ſie auf
ihn gemacht hat, noch einmal zu genießen. Wenn
er ſelbſt den Verlauf der Sachen andern erzaͤhlet, ſo
nihmt ſein Ton und ſein Ausdruk das Gepraͤg ſei-
ner Empfindung an, und er begnuͤget ſich nicht, wie
der Geſchichtſchreiber, blos zu erzaͤhlen, ſondern
verſucht alles ſo zu ſchildern, wie er es zu ſehen, und
ſo auszudruͤken, wie er es zu hoͤren, ſich bemuͤhet.
Aus dieſem, jedem lebhaften Menſchen natuͤrlichen
Hange merkwuͤrdige Begebenheiten mit ſeinen Zuſaͤ-
tzen, Schilderungen, und beſonderer Anordnung
der Sachen zu erzaͤhlen, muͤſſen wir den Urſprung
des Heldengedichts herleiten. Auch ohne Kunſt
wuͤrde ein empfindſamer und dabey ſehr beredter
Menſch unter dem Erzaͤhlen ein Heldengedicht ma-
chen; und ſo moͤgen die aͤlteſten Heldengedichte der
Barden geweſen ſeyn: koͤmmt noch Ueberlegung und
Kunſt hinzu, ſo bekoͤmmt die Erzaͤhlung einen fei-

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[526/0538] Hel Hel poͤe, oder Codrus in dem Trauerſpiel des Kro- neks, als ein Ungeheuer vorgekommen? Oder wer wird ſagen duͤrfen, daß der Prometheus beym Ae- ſchylus eine abgeſchmakte Perſon ſey? Fuͤr einen ſo feinen Kenner, als der Lord unſtreitig war, war es nicht genug uͤberlegt, zu behaupten, Homer habe aus Wahl und gutem Vorbedacht ſeine Helden nicht ganz tugendhaft gemacht. Denn an das, was unſre Moraliſten Tugend nennen, hat Homer gewiß nicht gedacht, folglich konnte er auch nicht aus Ueberlegung die vollkommene Tugend verworfen haben. Seneka hat den kuͤhnen Gedanken gehabt, daß ein vollkommen tugendhafter, dabey ſtandhaft lei- dender Mann, ſelbſt fuͤr die Goͤtter ein erhabener Gegenſtand ſey. Wenn dieſes auch uͤbertrieben iſt, ſo koͤnnen doch Menſchen einen ſolchen Mann groß und intreſſant finden, und alſo ein großes Vergnuͤgen daran haben, ihn handeln zu ſehen. Jſt es denn eben ſo nothwendig, daß man in der Epopoͤe, oder im Trauerſpiel, immer durch die Heftigkeit der Lei- denſchaften erſchuͤttert werde? Und ruͤhret die Groß- muth und eine herrſchende Groͤße der Seele weniger, als Zorn, oder Wuth, oder Verzweiflung? Aber ſo viel iſt gewiß, daß es unendlich ſchwee- rer iſt einen vollkommen tugendhaften Helden auf einer ſo intreſſanten Seite zu zeigen, als einen durch heftige Leidenſchaften aufgebrachten; ſo wie ein Zeichner viel leichter den Ausbruch großer Leiden- ſchaften, als eine ſtille Groͤße der Seele ausdruͤ- ken kann. Heldengedicht. Wenn gleich dieſer Rame nach ſeiner eigentlichen Bedeutung nur demjenigen epiſchen Gedichte zu- koͤmmt, darin Heldenthaten erzaͤhlt werden, ſo kann er doch uͤberhaupt von der ganzen Gattung gebraucht werden, weil das wahre Heldengedicht das vor- nehmſte der Gattung iſt, aus deſſen Nachahmung die anderen Arten der Epopoͤe entſtanden ſind. Der Charakter des Heldengedichts beſteht uͤber- haupt darin, daß es in einem feyerlichen Ton eine merkwuͤrdige Handlung, oder Begebenheit, umſtaͤnd- lich erzaͤhlt, und das Merkwuͤrdigſte darin, es be- treffe die Perſonen, oder andre Sachen, ausfuͤhrlich ſchildert und gleichſam vor Augen legt. Man kann ſich den natuͤrlichen Urſprung und den wahren Charakter dieſes Gedichts am leichteſten vor- ſtellen, wenn man auf das Achtung giebt, was man beym Leſen einer merkwuͤrdigen Geſchicht empfindet. Der Menſch iſt von Natur geneigt großen Begeben- heiten nachzudenken; er verweilet mit Vergnuͤgen dabey, um alles, was ihn intreſſirt, ſo beſtimmt und ſo lebhaft zu faſſen, als es ihm moͤglich iſt. Wenn die Handlung oder Begebenheit etwas weit- laͤuftig und verwikelt iſt, ſo ſucht er das Weſent- lichſte davon ſich in einer ſolchen Ordnung vorzu- ſtellen, daß er das Ganze auf einmal am leichteſten uͤberſehen koͤnne. Er iſt mit der Erzaͤhlung des Ge- ſchichtſchreibers nicht zufrieden, ſondern denkt Um- ſtaͤnde hinzu, wie er ſie zu ſehen wuͤnſcht; und ſeine Einbildungskraft leihet den Perſonen und Sachen Geſtalt und Farbe. Er ſelbſt ſtellt ſich dahin, wo er die merkwuͤrdigſten Perſonen ganz nahe zu ſehen glaubt, wo er Stellungen, Gebehrden und die Ge- ſichtszuͤge deutlich bemerken, den Ton der Stimme hoͤren und jedes Wort verſtehen kann. Wo die Per- ſonen nicht reden, ſucht er aus ihren Minen ihre Gedanken zu erkennen; er ſetzet ſich oft an ihre Stelle, um jeden Eindruk, jede Empfindung, den die Sachen auf ſie machen, auch zu fuͤhlen. Alſo geraͤth er bey dem Fortgang der Handlung in alle Leidenſchaften und in alle Arten der Gemuͤthsfaſſung, die die Umſtaͤnde mit ſich bringen; ſich ſelbſt vergißt er einigermaaßen dabey, und iſt ganz von dem einge- nommen, was er ſieht und hoͤrt. Dieſes iſt das Betragen eines jeden empfindſamen Menſchen, ſo oft er ſich einer merkwuͤrdigen Bege- benheit, die er erzaͤhlen gehoͤrt, oder ſelbſt geſehen hat, wieder erinnert, um die Eindruͤke, die ſie auf ihn gemacht hat, noch einmal zu genießen. Wenn er ſelbſt den Verlauf der Sachen andern erzaͤhlet, ſo nihmt ſein Ton und ſein Ausdruk das Gepraͤg ſei- ner Empfindung an, und er begnuͤget ſich nicht, wie der Geſchichtſchreiber, blos zu erzaͤhlen, ſondern verſucht alles ſo zu ſchildern, wie er es zu ſehen, und ſo auszudruͤken, wie er es zu hoͤren, ſich bemuͤhet. Aus dieſem, jedem lebhaften Menſchen natuͤrlichen Hange merkwuͤrdige Begebenheiten mit ſeinen Zuſaͤ- tzen, Schilderungen, und beſonderer Anordnung der Sachen zu erzaͤhlen, muͤſſen wir den Urſprung des Heldengedichts herleiten. Auch ohne Kunſt wuͤrde ein empfindſamer und dabey ſehr beredter Menſch unter dem Erzaͤhlen ein Heldengedicht ma- chen; und ſo moͤgen die aͤlteſten Heldengedichte der Barden geweſen ſeyn: koͤmmt noch Ueberlegung und Kunſt hinzu, ſo bekoͤmmt die Erzaͤhlung einen fei- nern

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/538>, abgerufen am 15.05.2024.