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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kop Kra
sten Antiken verbunden werden; weil die Alten be-
sonders auch in diesem Theile bewundrungswürdig
sind. Unter den Neuern aber müssen vorzüglich
Raphael und für das reizende und sanftleidenschaft-
liche in den Kopfstellungen Guido, studirt und nach-
gezeichnet werden.

Nach dem Bericht des Plinius hat ein gewisser
Cimon von Cleonä zuerst diesen wichtigen Theil des
Ausdruks ausgeübet. (*)

Kraft.
(Schöne Künste.)

Wir schreiben jedem Gegenstand des Geschmaks
eine ästhetische Kraft zu, in so fern er vermögend
ist eine Empfindung in uns hervorzubringen. Was
in körperlichen Dingen Geschmak und Geruch ist,
das ist die ästhetische Kraft in den Gegenständen
die die Künste den innern Sinnen darbiethen.
Eine edle That, hat die Kraft uns zu rühren, und
ein von der untergehenden Sonne schön bemahlter
Himmel hat die Kraft ein sanftes Ergötzen in uns
hervorzubringen. Also sind die verschiedenen ästhe-
tischen Kräfte die Mittel die der Künstler braucht
auf die Gemüther zu würken, und nichts ist ihm
nöthiger, als die Kenntnis dieser Kräfte die den
Gegenständen, die er uns vorlegt, eigen sind.

Aus dem, was schon anderswo über die Natur
der Empfindung angemerkt worden ist (*), erhellet,
daß der Gegenstand eine ästhetische Kraft hat, wenn
er vermögend ist unsre Aufmerksamkeit von der
Betrachtung seiner Beschaffenheit abzulenken und
sie auf die Würkung zu richten, die der Gegen-
stand auf uns, vornehmlich auf unsern innern Zu-
stand macht.

Diese Kraft kommt entweder von der Beschaf-
fenheit des Gegenstandes, und seinem unverän-
derlichen Verhältnis gegen die Natur unsrer Vor-
stellungskraft, oder sie beruhet nur auf zufälligen
Umständen. So haben die meisten Speisen einen
unveränderlichen natürlichen Geschmak, der sie uns
angenehm macht: hingegen hat das Wasser gar
keinen Geschmak; aber bey merklichem Durst ist es
höchst angenehm. Jene von der Beschaffenheit des
Gegenstandes herkommende Kräfte kann man we-
sentliche,
die andern aber zufällige ästhetische Kräfte
nennen. Die zufälligen Kräfte der ästhetischen Ge-
genstände können nicht alle bestimmt werden, weil
es nicht wol möglich ist alle zufälligen Umstände
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Kra
aufzuzählen, die uns eine Sache, für die wir na-
türlicher Weise gleichgültig sind, intressant machen
können: die gewöhnlichsten zufälligen Kräfte sind
das Neue, das Unerwartete, das Ausserordentliche,
das Große, und das Wunderbare. Aber die we-
sentlichen Kräfte können nur von dreyerley Gattung
seyn; sie entstehen aus Vollkommenheit, aus Schön-
heit
und aus Güte, oder aus den, diesen entgegen-
gesetzten Eigenschaften. Denn alles, was uns
durch eine unveränderliche, oder wesentliche Wür-
kung gefallen soll, muß unsern Verstand, oder un-
sern Geschmak, oder unsre Neigungen befriedigen;
und alles, was nothwendig mißfallen soll, muß
das Gegentheil thun. Was den Verstand befrie-
diget, kann unter der allgemeinen Benennung des
Vollkommenen begriffen werden, und so kann man
überhaupt schön nennen, was dem natürlichen Ge-
schmak, und gut was den natürlichen Neigungen des
Herzens angemessen ist. Man könnte füglich dem
Vollkommenen, Schönen und Guten anziehende,
oder antreibende, und den entgegengesetzten Eigen-
schaften zurüktreibende Kräfte zu schreiben.

Die gute Würkung, die jedes Werk der schönen
Künste auf die Gemüther der Menschen hat, kommt
also von den verschiedenen in denselben liegenden
antreibenden, oder zurükstossenden Kräften her, wo-
durch wir zu jedem Guten angehalten und von je-
dem Bösen abgeschrekt werden: Und die genaue
Kenntnis dieser ästhetischen Kräfte ist ein wichtiger
Theil dessen, was der Künstler zu wissen hat. Da-
rum wollen wir uns etwas näher in die Betrach-
tung derselben einlassen.

Die erste Quelle der ästhetischen Kraft ist also
Vollkommenheit. Wir haben der Entwiklung die-
ses Begriffs einen eigenen Artikel gewiedmet, aus
welchem erhellet, daß zu dieser Quelle ausser dem,
was man im ersten Sinne Vollkommenheit nennet,
auch Wahrheit, Richtigkeit und Deutlichkeit gehöre.
Worin jede dieser Eigenschaften bestehe, findet sich
am gehörigen Orte hinlänglich bestimmt. Dieses
setzen wir voraus, um hier blos die Kraft der Voll-
kommenheit in nähere Betrachtung zu ziehen. Also
entsteht hier die Frage: Was kann natürlicher Weise
die Vollkommenheit, die wir in den verschiedenen
Gegenständen des Geschmaks entdeken, in uns wür-
ken? Ein gemeiner Grad derselben befriediget.
Wenn alles, was wir sehen und hören durchaus so
ist, wie wir es erwarten, wenn wir überall die

Klahr-
(*) Cimen
Cleonaeus
catagra-
pha inve-
nit; hoc est
obliquas
imagines
at varie
sormare
vultus;
respicien-
tes, suspi-
cientes,
despicien-
tesque.
Plin. Hist.
Nat. L.
XXXV.
s.
8.
(*) S. Be-
geisterung
S. 137. u.
Empfind.
S 312.

[Spaltenumbruch]

Kop Kra
ſten Antiken verbunden werden; weil die Alten be-
ſonders auch in dieſem Theile bewundrungswuͤrdig
ſind. Unter den Neuern aber muͤſſen vorzuͤglich
Raphael und fuͤr das reizende und ſanftleidenſchaft-
liche in den Kopfſtellungen Guido, ſtudirt und nach-
gezeichnet werden.

Nach dem Bericht des Plinius hat ein gewiſſer
Cimon von Cleonaͤ zuerſt dieſen wichtigen Theil des
Ausdruks ausgeuͤbet. (*)

Kraft.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Wir ſchreiben jedem Gegenſtand des Geſchmaks
eine aͤſthetiſche Kraft zu, in ſo fern er vermoͤgend
iſt eine Empfindung in uns hervorzubringen. Was
in koͤrperlichen Dingen Geſchmak und Geruch iſt,
das iſt die aͤſthetiſche Kraft in den Gegenſtaͤnden
die die Kuͤnſte den innern Sinnen darbiethen.
Eine edle That, hat die Kraft uns zu ruͤhren, und
ein von der untergehenden Sonne ſchoͤn bemahlter
Himmel hat die Kraft ein ſanftes Ergoͤtzen in uns
hervorzubringen. Alſo ſind die verſchiedenen aͤſthe-
tiſchen Kraͤfte die Mittel die der Kuͤnſtler braucht
auf die Gemuͤther zu wuͤrken, und nichts iſt ihm
noͤthiger, als die Kenntnis dieſer Kraͤfte die den
Gegenſtaͤnden, die er uns vorlegt, eigen ſind.

Aus dem, was ſchon anderswo uͤber die Natur
der Empfindung angemerkt worden iſt (*), erhellet,
daß der Gegenſtand eine aͤſthetiſche Kraft hat, wenn
er vermoͤgend iſt unſre Aufmerkſamkeit von der
Betrachtung ſeiner Beſchaffenheit abzulenken und
ſie auf die Wuͤrkung zu richten, die der Gegen-
ſtand auf uns, vornehmlich auf unſern innern Zu-
ſtand macht.

Dieſe Kraft kommt entweder von der Beſchaf-
fenheit des Gegenſtandes, und ſeinem unveraͤn-
derlichen Verhaͤltnis gegen die Natur unſrer Vor-
ſtellungskraft, oder ſie beruhet nur auf zufaͤlligen
Umſtaͤnden. So haben die meiſten Speiſen einen
unveraͤnderlichen natuͤrlichen Geſchmak, der ſie uns
angenehm macht: hingegen hat das Waſſer gar
keinen Geſchmak; aber bey merklichem Durſt iſt es
hoͤchſt angenehm. Jene von der Beſchaffenheit des
Gegenſtandes herkommende Kraͤfte kann man we-
ſentliche,
die andern aber zufaͤllige aͤſthetiſche Kraͤfte
nennen. Die zufaͤlligen Kraͤfte der aͤſthetiſchen Ge-
genſtaͤnde koͤnnen nicht alle beſtimmt werden, weil
es nicht wol moͤglich iſt alle zufaͤlligen Umſtaͤnde
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Kra
aufzuzaͤhlen, die uns eine Sache, fuͤr die wir na-
tuͤrlicher Weiſe gleichguͤltig ſind, intreſſant machen
koͤnnen: die gewoͤhnlichſten zufaͤlligen Kraͤfte ſind
das Neue, das Unerwartete, das Auſſerordentliche,
das Große, und das Wunderbare. Aber die we-
ſentlichen Kraͤfte koͤnnen nur von dreyerley Gattung
ſeyn; ſie entſtehen aus Vollkommenheit, aus Schoͤn-
heit
und aus Guͤte, oder aus den, dieſen entgegen-
geſetzten Eigenſchaften. Denn alles, was uns
durch eine unveraͤnderliche, oder weſentliche Wuͤr-
kung gefallen ſoll, muß unſern Verſtand, oder un-
ſern Geſchmak, oder unſre Neigungen befriedigen;
und alles, was nothwendig mißfallen ſoll, muß
das Gegentheil thun. Was den Verſtand befrie-
diget, kann unter der allgemeinen Benennung des
Vollkommenen begriffen werden, und ſo kann man
uͤberhaupt ſchoͤn nennen, was dem natuͤrlichen Ge-
ſchmak, und gut was den natuͤrlichen Neigungen des
Herzens angemeſſen iſt. Man koͤnnte fuͤglich dem
Vollkommenen, Schoͤnen und Guten anziehende,
oder antreibende, und den entgegengeſetzten Eigen-
ſchaften zuruͤktreibende Kraͤfte zu ſchreiben.

Die gute Wuͤrkung, die jedes Werk der ſchoͤnen
Kuͤnſte auf die Gemuͤther der Menſchen hat, kommt
alſo von den verſchiedenen in denſelben liegenden
antreibenden, oder zuruͤkſtoſſenden Kraͤften her, wo-
durch wir zu jedem Guten angehalten und von je-
dem Boͤſen abgeſchrekt werden: Und die genaue
Kenntnis dieſer aͤſthetiſchen Kraͤfte iſt ein wichtiger
Theil deſſen, was der Kuͤnſtler zu wiſſen hat. Da-
rum wollen wir uns etwas naͤher in die Betrach-
tung derſelben einlaſſen.

Die erſte Quelle der aͤſthetiſchen Kraft iſt alſo
Vollkommenheit. Wir haben der Entwiklung die-
ſes Begriffs einen eigenen Artikel gewiedmet, aus
welchem erhellet, daß zu dieſer Quelle auſſer dem,
was man im erſten Sinne Vollkommenheit nennet,
auch Wahrheit, Richtigkeit und Deutlichkeit gehoͤre.
Worin jede dieſer Eigenſchaften beſtehe, findet ſich
am gehoͤrigen Orte hinlaͤnglich beſtimmt. Dieſes
ſetzen wir voraus, um hier blos die Kraft der Voll-
kommenheit in naͤhere Betrachtung zu ziehen. Alſo
entſteht hier die Frage: Was kann natuͤrlicher Weiſe
die Vollkommenheit, die wir in den verſchiedenen
Gegenſtaͤnden des Geſchmaks entdeken, in uns wuͤr-
ken? Ein gemeiner Grad derſelben befriediget.
Wenn alles, was wir ſehen und hoͤren durchaus ſo
iſt, wie wir es erwarten, wenn wir uͤberall die

Klahr-
(*) Cimen
Cleonæus
catagra-
pha inve-
nit; hoc eſt
obliquas
imagines
at varie
ſormare
vultus;
respicien-
tes, ſuspi-
cientes,
deſpicien-
tesque.
Plin. Hiſt.
Nat. L.
XXXV.
ſ.
8.
(*) S. Be-
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S. 137. u.
Empfind.
S 312.
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[602/0037] Kop Kra Kra ſten Antiken verbunden werden; weil die Alten be- ſonders auch in dieſem Theile bewundrungswuͤrdig ſind. Unter den Neuern aber muͤſſen vorzuͤglich Raphael und fuͤr das reizende und ſanftleidenſchaft- liche in den Kopfſtellungen Guido, ſtudirt und nach- gezeichnet werden. Nach dem Bericht des Plinius hat ein gewiſſer Cimon von Cleonaͤ zuerſt dieſen wichtigen Theil des Ausdruks ausgeuͤbet. (*) Kraft. (Schoͤne Kuͤnſte.) Wir ſchreiben jedem Gegenſtand des Geſchmaks eine aͤſthetiſche Kraft zu, in ſo fern er vermoͤgend iſt eine Empfindung in uns hervorzubringen. Was in koͤrperlichen Dingen Geſchmak und Geruch iſt, das iſt die aͤſthetiſche Kraft in den Gegenſtaͤnden die die Kuͤnſte den innern Sinnen darbiethen. Eine edle That, hat die Kraft uns zu ruͤhren, und ein von der untergehenden Sonne ſchoͤn bemahlter Himmel hat die Kraft ein ſanftes Ergoͤtzen in uns hervorzubringen. Alſo ſind die verſchiedenen aͤſthe- tiſchen Kraͤfte die Mittel die der Kuͤnſtler braucht auf die Gemuͤther zu wuͤrken, und nichts iſt ihm noͤthiger, als die Kenntnis dieſer Kraͤfte die den Gegenſtaͤnden, die er uns vorlegt, eigen ſind. Aus dem, was ſchon anderswo uͤber die Natur der Empfindung angemerkt worden iſt (*), erhellet, daß der Gegenſtand eine aͤſthetiſche Kraft hat, wenn er vermoͤgend iſt unſre Aufmerkſamkeit von der Betrachtung ſeiner Beſchaffenheit abzulenken und ſie auf die Wuͤrkung zu richten, die der Gegen- ſtand auf uns, vornehmlich auf unſern innern Zu- ſtand macht. Dieſe Kraft kommt entweder von der Beſchaf- fenheit des Gegenſtandes, und ſeinem unveraͤn- derlichen Verhaͤltnis gegen die Natur unſrer Vor- ſtellungskraft, oder ſie beruhet nur auf zufaͤlligen Umſtaͤnden. So haben die meiſten Speiſen einen unveraͤnderlichen natuͤrlichen Geſchmak, der ſie uns angenehm macht: hingegen hat das Waſſer gar keinen Geſchmak; aber bey merklichem Durſt iſt es hoͤchſt angenehm. Jene von der Beſchaffenheit des Gegenſtandes herkommende Kraͤfte kann man we- ſentliche, die andern aber zufaͤllige aͤſthetiſche Kraͤfte nennen. Die zufaͤlligen Kraͤfte der aͤſthetiſchen Ge- genſtaͤnde koͤnnen nicht alle beſtimmt werden, weil es nicht wol moͤglich iſt alle zufaͤlligen Umſtaͤnde aufzuzaͤhlen, die uns eine Sache, fuͤr die wir na- tuͤrlicher Weiſe gleichguͤltig ſind, intreſſant machen koͤnnen: die gewoͤhnlichſten zufaͤlligen Kraͤfte ſind das Neue, das Unerwartete, das Auſſerordentliche, das Große, und das Wunderbare. Aber die we- ſentlichen Kraͤfte koͤnnen nur von dreyerley Gattung ſeyn; ſie entſtehen aus Vollkommenheit, aus Schoͤn- heit und aus Guͤte, oder aus den, dieſen entgegen- geſetzten Eigenſchaften. Denn alles, was uns durch eine unveraͤnderliche, oder weſentliche Wuͤr- kung gefallen ſoll, muß unſern Verſtand, oder un- ſern Geſchmak, oder unſre Neigungen befriedigen; und alles, was nothwendig mißfallen ſoll, muß das Gegentheil thun. Was den Verſtand befrie- diget, kann unter der allgemeinen Benennung des Vollkommenen begriffen werden, und ſo kann man uͤberhaupt ſchoͤn nennen, was dem natuͤrlichen Ge- ſchmak, und gut was den natuͤrlichen Neigungen des Herzens angemeſſen iſt. Man koͤnnte fuͤglich dem Vollkommenen, Schoͤnen und Guten anziehende, oder antreibende, und den entgegengeſetzten Eigen- ſchaften zuruͤktreibende Kraͤfte zu ſchreiben. Die gute Wuͤrkung, die jedes Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte auf die Gemuͤther der Menſchen hat, kommt alſo von den verſchiedenen in denſelben liegenden antreibenden, oder zuruͤkſtoſſenden Kraͤften her, wo- durch wir zu jedem Guten angehalten und von je- dem Boͤſen abgeſchrekt werden: Und die genaue Kenntnis dieſer aͤſthetiſchen Kraͤfte iſt ein wichtiger Theil deſſen, was der Kuͤnſtler zu wiſſen hat. Da- rum wollen wir uns etwas naͤher in die Betrach- tung derſelben einlaſſen. Die erſte Quelle der aͤſthetiſchen Kraft iſt alſo Vollkommenheit. Wir haben der Entwiklung die- ſes Begriffs einen eigenen Artikel gewiedmet, aus welchem erhellet, daß zu dieſer Quelle auſſer dem, was man im erſten Sinne Vollkommenheit nennet, auch Wahrheit, Richtigkeit und Deutlichkeit gehoͤre. Worin jede dieſer Eigenſchaften beſtehe, findet ſich am gehoͤrigen Orte hinlaͤnglich beſtimmt. Dieſes ſetzen wir voraus, um hier blos die Kraft der Voll- kommenheit in naͤhere Betrachtung zu ziehen. Alſo entſteht hier die Frage: Was kann natuͤrlicher Weiſe die Vollkommenheit, die wir in den verſchiedenen Gegenſtaͤnden des Geſchmaks entdeken, in uns wuͤr- ken? Ein gemeiner Grad derſelben befriediget. Wenn alles, was wir ſehen und hoͤren durchaus ſo iſt, wie wir es erwarten, wenn wir uͤberall die Klahr- (*) Cimen Cleonæus catagra- pha inve- nit; hoc eſt obliquas imagines at varie ſormare vultus; respicien- tes, ſuspi- cientes, deſpicien- tesque. Plin. Hiſt. Nat. L. XXXV. ſ. 8. (*) S. Be- geiſterung S. 137. u. Empfind. S 312.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 602. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/37>, abgerufen am 21.11.2024.