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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kra
Klarheit, Richtigkeit, Vollständigkeit, Wahrheit
antreffen, die uns nichts mangelhaftes in den Sa-
chen sehen läßt, so sind wir damit zu frieden. Aber
ein grösserer und unerwarteter Grad dieser Eigen-
schaften thut mehr; er erwekt das Gefühl des Ver-
gnügens. Unser Hang nach Vollkommenheit wird
dadurch nicht blos befriediget, sondern erhöhet,
und aus dieser Erhöhung entsteht eigentlich die Em-
pfindung. Wenn wir eine Zeitlang, um eine Ge-
gend zu übersehen den Anbruch des Tages erwartet
haben, um jeden vor uns liegenden Gegenstand zu
erkennen; so werden wir durch ein hinlängliches, ob
schon noch etwas dämmerndes Tageslicht befriedi-
get: aber besonderes Ergötzen, und Vergnügen
entsteht alsdenn, wenn auf die mäßige Klarheit
auf einmal ein heller Sonnenschein einbricht, der
einige Gegenstände in mehr als gewöhnlicher Klar-
heit zeiget, und die ganze Gegend in wolgeordnete
Massen des hellen Lichts und des Schattens einthei-
let. Dieses zeiget uns die ganze Gegend in ihrer
vollen Pracht.

Also muß zwar in Gegenständen unsrer Erkennt-
niß, welche die schönen Künste behandeln ein gemei-
ner Grad der Vollkommenheit überall herrschen, da-
mit uns nichts anstößig sey; alles falsche, unrichtige,
unvollständige, dunkele muß vermieden werden.
Dadurch aber wird noch keine merkliche Empfindung
in uns erwekt, sondern bloße Befriedigung. Um
diese höher zu treiben, müssen die vornehmsten Ge-
genstände durch vorstechende Vollkommenheit, Klar-
heit, durch die äusserste Richtigkeit, durch lebhaft
treffende Wahrheit, sich von dem übrigen unterschei-
den. Alsdenn können wir sagen, daß dieses Werk
durch ästhetische Vollkommenheit auf uns würke.
Diese Erreichung des höhern Grades der Vollkom-
menheit ist eigentlich das, worauf die Künste, in
Gegenständen der Erkenntnis zu arbeiten haben,
weil der Künstler sich dadurch von den blos gemei-
nen Lehrern unterscheidet.

Es verdienet hier angemerkt zu werden, daß in
den Werken des Geschmaks das Vollkommene ausser
dem besondern unmittelbaren Zwek, den der Künstler
dadurch zu erreichen sucht, den allgemeinen Nutzen
hat, den natürlichen Hang des Menschen nach Voll-
kommenheit nicht nur zu unterhalten, sondern auch
merklich zu verstärken, oder zu erhöhen. Reden,
Gedichte und andre für den Verstand gemachte
Werke, darinn das Wahre und Vollkommene einen
[Spaltenumbruch]

Kra
hohen Grad hat, können wir nicht ohne Nutzen
lesen, wenn gleich ihr Jnhalt völlig ausser unserm
Jntresse liegt; denn sie unterhalten und erhöhen,
den heilsamen Hang nach Vollkommenheit in uns.
Und hieraus erhellet, wie ein Werk der Kunst, einen
von seinem Jnhalt selbst unabhänglichen Werth ha-
ben könne.

Hier ist der Ort nicht zu zeigen, wie der Künstler
den hohen Grad des Vollkommenen erreichen könne;
es ist genug ihn zu erinnern, daß er ihn suchen soll,
und überhaupt Künstler und Liebhaber auf die An-
merkung zu führen, daß Gegenstände unsrer Er-
kenntnis in den Werken des Geschmaks nur von
solchen Künstlern, die vorzüglichen Verstand und
Scharfsinnigkeit haben, glüklich können behandelt
werden.

Aber dieses müssen wir noch anmerken, daß von
den drey Arten der ästhetischen Kraft, die, welche
in der Vollkommenheit liegt, dem Werthe nach die
Vorzüglichste scheinet. Freylich ist dem Menschen
der Hang nach dem Schönen und Guten nothwen-
dig, vor allen Dingen aber, muß er einen starken
Hang nach Vollkommenheit und Wahrheit haben.
Der feinste Geschmak am Schönen mit dem besten
Herzen verbunden, macht den großen Mann noch
nicht aus. Der große Verstand, oder eine starke
Beurtheilung ist die Grundlage der wahren Größe
des Menschen.

Die zweyte Art der ästhetischen Kraft liegt in dem
Schönen. Was wir unter diesem Namen verste-
hen, ist an seinem Orte nachzusehen. (*) Es ist
ein Gegenstand der sinnlichen und confusen Erkennt-
nis, und erwekt unmittelbar und auf eine fast uner-
klärliche Weise, Vergnügen. Vornehmlich liegt
es in den Gegenständen des Gesichts und des Ge-
hörs; es sey, daß sie sich unmittelbar, oder durch
die Einbildungskraft uns darstellen: überhaupt aber
hat es in allen Dingen statt, in denen eine Anordnung,
es sey nach Zeit, oder Raum ist; weil in der An-
ordnung Annehmlichkeit statt hat. So kann die
Fabel einer sonst unbedeutenden Handlung auf eine
so vortheilhafte Weise angeordnet seyn, daß sie da-
durch allein schon gefällt.

Das Schöne würkt auch in dem gemeinesten
Grad Wolgefallen an der Sache. Und weil die
Werke der schönen Künste ihrer Natur nach, sowol
im Ganzen, als in ihrem einzelen Theilen sich uns
in wolgefälliger Gestalt darstellen müssen, so muß

jedes
(*) S.
Schön.
G g g g 2

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Kra
Klarheit, Richtigkeit, Vollſtaͤndigkeit, Wahrheit
antreffen, die uns nichts mangelhaftes in den Sa-
chen ſehen laͤßt, ſo ſind wir damit zu frieden. Aber
ein groͤſſerer und unerwarteter Grad dieſer Eigen-
ſchaften thut mehr; er erwekt das Gefuͤhl des Ver-
gnuͤgens. Unſer Hang nach Vollkommenheit wird
dadurch nicht blos befriediget, ſondern erhoͤhet,
und aus dieſer Erhoͤhung entſteht eigentlich die Em-
pfindung. Wenn wir eine Zeitlang, um eine Ge-
gend zu uͤberſehen den Anbruch des Tages erwartet
haben, um jeden vor uns liegenden Gegenſtand zu
erkennen; ſo werden wir durch ein hinlaͤngliches, ob
ſchon noch etwas daͤmmerndes Tageslicht befriedi-
get: aber beſonderes Ergoͤtzen, und Vergnuͤgen
entſteht alsdenn, wenn auf die maͤßige Klarheit
auf einmal ein heller Sonnenſchein einbricht, der
einige Gegenſtaͤnde in mehr als gewoͤhnlicher Klar-
heit zeiget, und die ganze Gegend in wolgeordnete
Maſſen des hellen Lichts und des Schattens einthei-
let. Dieſes zeiget uns die ganze Gegend in ihrer
vollen Pracht.

Alſo muß zwar in Gegenſtaͤnden unſrer Erkennt-
niß, welche die ſchoͤnen Kuͤnſte behandeln ein gemei-
ner Grad der Vollkommenheit uͤberall herrſchen, da-
mit uns nichts anſtoͤßig ſey; alles falſche, unrichtige,
unvollſtaͤndige, dunkele muß vermieden werden.
Dadurch aber wird noch keine merkliche Empfindung
in uns erwekt, ſondern bloße Befriedigung. Um
dieſe hoͤher zu treiben, muͤſſen die vornehmſten Ge-
genſtaͤnde durch vorſtechende Vollkommenheit, Klar-
heit, durch die aͤuſſerſte Richtigkeit, durch lebhaft
treffende Wahrheit, ſich von dem uͤbrigen unterſchei-
den. Alsdenn koͤnnen wir ſagen, daß dieſes Werk
durch aͤſthetiſche Vollkommenheit auf uns wuͤrke.
Dieſe Erreichung des hoͤhern Grades der Vollkom-
menheit iſt eigentlich das, worauf die Kuͤnſte, in
Gegenſtaͤnden der Erkenntnis zu arbeiten haben,
weil der Kuͤnſtler ſich dadurch von den blos gemei-
nen Lehrern unterſcheidet.

Es verdienet hier angemerkt zu werden, daß in
den Werken des Geſchmaks das Vollkommene auſſer
dem beſondern unmittelbaren Zwek, den der Kuͤnſtler
dadurch zu erreichen ſucht, den allgemeinen Nutzen
hat, den natuͤrlichen Hang des Menſchen nach Voll-
kommenheit nicht nur zu unterhalten, ſondern auch
merklich zu verſtaͤrken, oder zu erhoͤhen. Reden,
Gedichte und andre fuͤr den Verſtand gemachte
Werke, darinn das Wahre und Vollkommene einen
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Kra
hohen Grad hat, koͤnnen wir nicht ohne Nutzen
leſen, wenn gleich ihr Jnhalt voͤllig auſſer unſerm
Jntreſſe liegt; denn ſie unterhalten und erhoͤhen,
den heilſamen Hang nach Vollkommenheit in uns.
Und hieraus erhellet, wie ein Werk der Kunſt, einen
von ſeinem Jnhalt ſelbſt unabhaͤnglichen Werth ha-
ben koͤnne.

Hier iſt der Ort nicht zu zeigen, wie der Kuͤnſtler
den hohen Grad des Vollkommenen erreichen koͤnne;
es iſt genug ihn zu erinnern, daß er ihn ſuchen ſoll,
und uͤberhaupt Kuͤnſtler und Liebhaber auf die An-
merkung zu fuͤhren, daß Gegenſtaͤnde unſrer Er-
kenntnis in den Werken des Geſchmaks nur von
ſolchen Kuͤnſtlern, die vorzuͤglichen Verſtand und
Scharfſinnigkeit haben, gluͤklich koͤnnen behandelt
werden.

Aber dieſes muͤſſen wir noch anmerken, daß von
den drey Arten der aͤſthetiſchen Kraft, die, welche
in der Vollkommenheit liegt, dem Werthe nach die
Vorzuͤglichſte ſcheinet. Freylich iſt dem Menſchen
der Hang nach dem Schoͤnen und Guten nothwen-
dig, vor allen Dingen aber, muß er einen ſtarken
Hang nach Vollkommenheit und Wahrheit haben.
Der feinſte Geſchmak am Schoͤnen mit dem beſten
Herzen verbunden, macht den großen Mann noch
nicht aus. Der große Verſtand, oder eine ſtarke
Beurtheilung iſt die Grundlage der wahren Groͤße
des Menſchen.

Die zweyte Art der aͤſthetiſchen Kraft liegt in dem
Schoͤnen. Was wir unter dieſem Namen verſte-
hen, iſt an ſeinem Orte nachzuſehen. (*) Es iſt
ein Gegenſtand der ſinnlichen und confuſen Erkennt-
nis, und erwekt unmittelbar und auf eine faſt uner-
klaͤrliche Weiſe, Vergnuͤgen. Vornehmlich liegt
es in den Gegenſtaͤnden des Geſichts und des Ge-
hoͤrs; es ſey, daß ſie ſich unmittelbar, oder durch
die Einbildungskraft uns darſtellen: uͤberhaupt aber
hat es in allen Dingen ſtatt, in denen eine Anordnung,
es ſey nach Zeit, oder Raum iſt; weil in der An-
ordnung Annehmlichkeit ſtatt hat. So kann die
Fabel einer ſonſt unbedeutenden Handlung auf eine
ſo vortheilhafte Weiſe angeordnet ſeyn, daß ſie da-
durch allein ſchon gefaͤllt.

Das Schoͤne wuͤrkt auch in dem gemeineſten
Grad Wolgefallen an der Sache. Und weil die
Werke der ſchoͤnen Kuͤnſte ihrer Natur nach, ſowol
im Ganzen, als in ihrem einzelen Theilen ſich uns
in wolgefaͤlliger Geſtalt darſtellen muͤſſen, ſo muß

jedes
(*) S.
Schoͤn.
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[603/0038] Kra Kra Klarheit, Richtigkeit, Vollſtaͤndigkeit, Wahrheit antreffen, die uns nichts mangelhaftes in den Sa- chen ſehen laͤßt, ſo ſind wir damit zu frieden. Aber ein groͤſſerer und unerwarteter Grad dieſer Eigen- ſchaften thut mehr; er erwekt das Gefuͤhl des Ver- gnuͤgens. Unſer Hang nach Vollkommenheit wird dadurch nicht blos befriediget, ſondern erhoͤhet, und aus dieſer Erhoͤhung entſteht eigentlich die Em- pfindung. Wenn wir eine Zeitlang, um eine Ge- gend zu uͤberſehen den Anbruch des Tages erwartet haben, um jeden vor uns liegenden Gegenſtand zu erkennen; ſo werden wir durch ein hinlaͤngliches, ob ſchon noch etwas daͤmmerndes Tageslicht befriedi- get: aber beſonderes Ergoͤtzen, und Vergnuͤgen entſteht alsdenn, wenn auf die maͤßige Klarheit auf einmal ein heller Sonnenſchein einbricht, der einige Gegenſtaͤnde in mehr als gewoͤhnlicher Klar- heit zeiget, und die ganze Gegend in wolgeordnete Maſſen des hellen Lichts und des Schattens einthei- let. Dieſes zeiget uns die ganze Gegend in ihrer vollen Pracht. Alſo muß zwar in Gegenſtaͤnden unſrer Erkennt- niß, welche die ſchoͤnen Kuͤnſte behandeln ein gemei- ner Grad der Vollkommenheit uͤberall herrſchen, da- mit uns nichts anſtoͤßig ſey; alles falſche, unrichtige, unvollſtaͤndige, dunkele muß vermieden werden. Dadurch aber wird noch keine merkliche Empfindung in uns erwekt, ſondern bloße Befriedigung. Um dieſe hoͤher zu treiben, muͤſſen die vornehmſten Ge- genſtaͤnde durch vorſtechende Vollkommenheit, Klar- heit, durch die aͤuſſerſte Richtigkeit, durch lebhaft treffende Wahrheit, ſich von dem uͤbrigen unterſchei- den. Alsdenn koͤnnen wir ſagen, daß dieſes Werk durch aͤſthetiſche Vollkommenheit auf uns wuͤrke. Dieſe Erreichung des hoͤhern Grades der Vollkom- menheit iſt eigentlich das, worauf die Kuͤnſte, in Gegenſtaͤnden der Erkenntnis zu arbeiten haben, weil der Kuͤnſtler ſich dadurch von den blos gemei- nen Lehrern unterſcheidet. Es verdienet hier angemerkt zu werden, daß in den Werken des Geſchmaks das Vollkommene auſſer dem beſondern unmittelbaren Zwek, den der Kuͤnſtler dadurch zu erreichen ſucht, den allgemeinen Nutzen hat, den natuͤrlichen Hang des Menſchen nach Voll- kommenheit nicht nur zu unterhalten, ſondern auch merklich zu verſtaͤrken, oder zu erhoͤhen. Reden, Gedichte und andre fuͤr den Verſtand gemachte Werke, darinn das Wahre und Vollkommene einen hohen Grad hat, koͤnnen wir nicht ohne Nutzen leſen, wenn gleich ihr Jnhalt voͤllig auſſer unſerm Jntreſſe liegt; denn ſie unterhalten und erhoͤhen, den heilſamen Hang nach Vollkommenheit in uns. Und hieraus erhellet, wie ein Werk der Kunſt, einen von ſeinem Jnhalt ſelbſt unabhaͤnglichen Werth ha- ben koͤnne. Hier iſt der Ort nicht zu zeigen, wie der Kuͤnſtler den hohen Grad des Vollkommenen erreichen koͤnne; es iſt genug ihn zu erinnern, daß er ihn ſuchen ſoll, und uͤberhaupt Kuͤnſtler und Liebhaber auf die An- merkung zu fuͤhren, daß Gegenſtaͤnde unſrer Er- kenntnis in den Werken des Geſchmaks nur von ſolchen Kuͤnſtlern, die vorzuͤglichen Verſtand und Scharfſinnigkeit haben, gluͤklich koͤnnen behandelt werden. Aber dieſes muͤſſen wir noch anmerken, daß von den drey Arten der aͤſthetiſchen Kraft, die, welche in der Vollkommenheit liegt, dem Werthe nach die Vorzuͤglichſte ſcheinet. Freylich iſt dem Menſchen der Hang nach dem Schoͤnen und Guten nothwen- dig, vor allen Dingen aber, muß er einen ſtarken Hang nach Vollkommenheit und Wahrheit haben. Der feinſte Geſchmak am Schoͤnen mit dem beſten Herzen verbunden, macht den großen Mann noch nicht aus. Der große Verſtand, oder eine ſtarke Beurtheilung iſt die Grundlage der wahren Groͤße des Menſchen. Die zweyte Art der aͤſthetiſchen Kraft liegt in dem Schoͤnen. Was wir unter dieſem Namen verſte- hen, iſt an ſeinem Orte nachzuſehen. (*) Es iſt ein Gegenſtand der ſinnlichen und confuſen Erkennt- nis, und erwekt unmittelbar und auf eine faſt uner- klaͤrliche Weiſe, Vergnuͤgen. Vornehmlich liegt es in den Gegenſtaͤnden des Geſichts und des Ge- hoͤrs; es ſey, daß ſie ſich unmittelbar, oder durch die Einbildungskraft uns darſtellen: uͤberhaupt aber hat es in allen Dingen ſtatt, in denen eine Anordnung, es ſey nach Zeit, oder Raum iſt; weil in der An- ordnung Annehmlichkeit ſtatt hat. So kann die Fabel einer ſonſt unbedeutenden Handlung auf eine ſo vortheilhafte Weiſe angeordnet ſeyn, daß ſie da- durch allein ſchon gefaͤllt. Das Schoͤne wuͤrkt auch in dem gemeineſten Grad Wolgefallen an der Sache. Und weil die Werke der ſchoͤnen Kuͤnſte ihrer Natur nach, ſowol im Ganzen, als in ihrem einzelen Theilen ſich uns in wolgefaͤlliger Geſtalt darſtellen muͤſſen, ſo muß jedes (*) S. Schoͤn. G g g g 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/38>, abgerufen am 03.05.2024.