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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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4) Darf man wohl Bedenken tragen, anzunehmen,
dasselbige was die vorige Zergliederung bey einer Art
von Thätigkeiten gezeiget hat, dasselbe werde bey den
übrigen, die man Aeußerungen des Willens nennet, auf
eine ähnliche Weise Statt finden, und daß auch diese
letztere empfunden, und nachempfunden werden, und ih-
nen entsprechende Spuren in der Seele hinterlassen, wie
jene?

Es ist nicht die Analogie allein, worauf man sich
hier berufen kann, sondern auch die Jnduktion aus un-
mittelbaren Erfahrungen bestätiget es. Zwar ist es
nicht möglich, in allen einzelnen Fällen solches offenbar
vorzulegen. Bey dem größten Theile unserer Kraft-
äußerungen ist das, was dabey vorkommt, so stark in
einander gewickelt, und die verschiedenen Absätze in ih-
rem Entstehen sind so undeutlich und verworren, daß
man jeden für sich allein nicht gut bemerken kann. Aber
dieß wird auch zur Ueberzeugung nicht erfodert werden.
Wenn es aus Erfahrungen dargethan wird, daß es sich
so, wie es angegeben worden ist, in allen Fällen ver-
halte, worinn man etwas deutlich erkennen kann; wenn
nur kein einziger Fall angetroffen wird, aus dem sich
völlig erweisen läßt, daß es Ausnahmen gebe; und
wenn alsdenn noch hinzu kommt, daß die sonstigen
Kenntnisse von den nicht beobachteten und nicht vergli-
chenen einzelnen Fällen ihre analogische Natur mit den
übrigen bestätigen, oder ihr wenigstens nicht entgegen
sind; wenn alle diese Umstände, sage ich, beysammen
sind, so ist man völlig berechtiget, besondere Erfahrungs-
sätze, die aus einigen Beobachtungen gezogen worden,
nach der Analogie auf andere ähnliche auszudehnen. Es
ist freylich bey einer solchen Verallgemeinerung der Be-
obachtungssätze Behutsamkeit erforderlich, und besonders
alsdann, wenn es an einer oder mehrern der vorgedach-
ten Bedingungen noch fehlet. Die Analogie hat in der

Körper-
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der Vorſtellungen.

4) Darf man wohl Bedenken tragen, anzunehmen,
daſſelbige was die vorige Zergliederung bey einer Art
von Thaͤtigkeiten gezeiget hat, daſſelbe werde bey den
uͤbrigen, die man Aeußerungen des Willens nennet, auf
eine aͤhnliche Weiſe Statt finden, und daß auch dieſe
letztere empfunden, und nachempfunden werden, und ih-
nen entſprechende Spuren in der Seele hinterlaſſen, wie
jene?

Es iſt nicht die Analogie allein, worauf man ſich
hier berufen kann, ſondern auch die Jnduktion aus un-
mittelbaren Erfahrungen beſtaͤtiget es. Zwar iſt es
nicht moͤglich, in allen einzelnen Faͤllen ſolches offenbar
vorzulegen. Bey dem groͤßten Theile unſerer Kraft-
aͤußerungen iſt das, was dabey vorkommt, ſo ſtark in
einander gewickelt, und die verſchiedenen Abſaͤtze in ih-
rem Entſtehen ſind ſo undeutlich und verworren, daß
man jeden fuͤr ſich allein nicht gut bemerken kann. Aber
dieß wird auch zur Ueberzeugung nicht erfodert werden.
Wenn es aus Erfahrungen dargethan wird, daß es ſich
ſo, wie es angegeben worden iſt, in allen Faͤllen ver-
halte, worinn man etwas deutlich erkennen kann; wenn
nur kein einziger Fall angetroffen wird, aus dem ſich
voͤllig erweiſen laͤßt, daß es Ausnahmen gebe; und
wenn alsdenn noch hinzu kommt, daß die ſonſtigen
Kenntniſſe von den nicht beobachteten und nicht vergli-
chenen einzelnen Faͤllen ihre analogiſche Natur mit den
uͤbrigen beſtaͤtigen, oder ihr wenigſtens nicht entgegen
ſind; wenn alle dieſe Umſtaͤnde, ſage ich, beyſammen
ſind, ſo iſt man voͤllig berechtiget, beſondere Erfahrungs-
ſaͤtze, die aus einigen Beobachtungen gezogen worden,
nach der Analogie auf andere aͤhnliche auszudehnen. Es
iſt freylich bey einer ſolchen Verallgemeinerung der Be-
obachtungsſaͤtze Behutſamkeit erforderlich, und beſonders
alsdann, wenn es an einer oder mehrern der vorgedach-
ten Bedingungen noch fehlet. Die Analogie hat in der

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[51/0111] der Vorſtellungen. 4) Darf man wohl Bedenken tragen, anzunehmen, daſſelbige was die vorige Zergliederung bey einer Art von Thaͤtigkeiten gezeiget hat, daſſelbe werde bey den uͤbrigen, die man Aeußerungen des Willens nennet, auf eine aͤhnliche Weiſe Statt finden, und daß auch dieſe letztere empfunden, und nachempfunden werden, und ih- nen entſprechende Spuren in der Seele hinterlaſſen, wie jene? Es iſt nicht die Analogie allein, worauf man ſich hier berufen kann, ſondern auch die Jnduktion aus un- mittelbaren Erfahrungen beſtaͤtiget es. Zwar iſt es nicht moͤglich, in allen einzelnen Faͤllen ſolches offenbar vorzulegen. Bey dem groͤßten Theile unſerer Kraft- aͤußerungen iſt das, was dabey vorkommt, ſo ſtark in einander gewickelt, und die verſchiedenen Abſaͤtze in ih- rem Entſtehen ſind ſo undeutlich und verworren, daß man jeden fuͤr ſich allein nicht gut bemerken kann. Aber dieß wird auch zur Ueberzeugung nicht erfodert werden. Wenn es aus Erfahrungen dargethan wird, daß es ſich ſo, wie es angegeben worden iſt, in allen Faͤllen ver- halte, worinn man etwas deutlich erkennen kann; wenn nur kein einziger Fall angetroffen wird, aus dem ſich voͤllig erweiſen laͤßt, daß es Ausnahmen gebe; und wenn alsdenn noch hinzu kommt, daß die ſonſtigen Kenntniſſe von den nicht beobachteten und nicht vergli- chenen einzelnen Faͤllen ihre analogiſche Natur mit den uͤbrigen beſtaͤtigen, oder ihr wenigſtens nicht entgegen ſind; wenn alle dieſe Umſtaͤnde, ſage ich, beyſammen ſind, ſo iſt man voͤllig berechtiget, beſondere Erfahrungs- ſaͤtze, die aus einigen Beobachtungen gezogen worden, nach der Analogie auf andere aͤhnliche auszudehnen. Es iſt freylich bey einer ſolchen Verallgemeinerung der Be- obachtungsſaͤtze Behutſamkeit erforderlich, und beſonders alsdann, wenn es an einer oder mehrern der vorgedach- ten Bedingungen noch fehlet. Die Analogie hat in der Koͤrper- D 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/111>, abgerufen am 17.05.2024.