Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Versuch. Ueber das Gefühl,
fühle, den Empfindungen entgegen gesetzt, sind solche,
wo bloß eine Veränderung oder ein Eindruck in uns und
auf uns gefühlet wird, ohne daß wir das Objekt durch
diesen Eindruck erkennen, welches solche bewirket hat.
Empfinden zeiget auf einen Gegenstand hin, den wir
mittelst des sinnlichen Eindrucks in uns fühlen, und
gleichsam vorfinden. Dazu kommt noch ein anderer
Nebenzug, der die Bedeutungen dieser Wörter unter-
scheidet. Jn dem Empfinden einer Sache begrei-
fen wir zugleich mit, daß wir sie gewahrnehmen, ap-
percipiren, erkennen oder von andern unterscheiden.
Das Wort Gefühl scheinet von einem allgemeinern Um-
fange zu seyn, und auch das dunkelste Gefühl einzu-
schließen, wo derselbige Aktus des Fühlens vorhanden
ist, ohne daß wir das Gefühlte unterscheiden. Jn man-
cher Hinsicht kann man beide Ausdrücke, Fühlen und
Empfinden, als Synonyme gebrauchen, beide für den
Aktus des Fühlens. Das schwächste und dunkelste Füh-
len heißt auch bey vielen, ohne Rücksicht auf eine Apper-
ception, ein dunkles Empfinden. Es kommt nicht
auf Namen an; eine gewisse Unbestimmtheit in der
Bedeutung der Worte hat vielleicht gar ihr Angeneh-
mes. Aber fast jeder Psycholog beschweret sich, daß
man mit den Mißverständnissen beynahe so viel zu schaf-
fen habe, als mit der Dunkelheit der Sachen selbst.

Das Fühlen, das Percipiren, das Gewahr-
werden
erfolget so schnell auf einander, daß es in Ei-
nem unzertheilten Augenblick sich in der Seele vor unse-
rer Beobachtung zusammendränget. Es mag auch viel-
leicht neben einander zugleich in uns vorhanden seyn, wie
die mehreren gleichzeitigen Töne, welche eine gespannte
Saite auf einmal angiebt. Aber wie es sich auch ver-
hält, so giebt es doch Fälle, wo Eine oder die andere
dieser Aeußerungen vor den übrigen hervorsticht, und
auszeichnend erkannt werden kann. Aus solchen Fällen

sieht

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
fuͤhle, den Empfindungen entgegen geſetzt, ſind ſolche,
wo bloß eine Veraͤnderung oder ein Eindruck in uns und
auf uns gefuͤhlet wird, ohne daß wir das Objekt durch
dieſen Eindruck erkennen, welches ſolche bewirket hat.
Empfinden zeiget auf einen Gegenſtand hin, den wir
mittelſt des ſinnlichen Eindrucks in uns fuͤhlen, und
gleichſam vorfinden. Dazu kommt noch ein anderer
Nebenzug, der die Bedeutungen dieſer Woͤrter unter-
ſcheidet. Jn dem Empfinden einer Sache begrei-
fen wir zugleich mit, daß wir ſie gewahrnehmen, ap-
percipiren, erkennen oder von andern unterſcheiden.
Das Wort Gefuͤhl ſcheinet von einem allgemeinern Um-
fange zu ſeyn, und auch das dunkelſte Gefuͤhl einzu-
ſchließen, wo derſelbige Aktus des Fuͤhlens vorhanden
iſt, ohne daß wir das Gefuͤhlte unterſcheiden. Jn man-
cher Hinſicht kann man beide Ausdruͤcke, Fuͤhlen und
Empfinden, als Synonyme gebrauchen, beide fuͤr den
Aktus des Fuͤhlens. Das ſchwaͤchſte und dunkelſte Fuͤh-
len heißt auch bey vielen, ohne Ruͤckſicht auf eine Apper-
ception, ein dunkles Empfinden. Es kommt nicht
auf Namen an; eine gewiſſe Unbeſtimmtheit in der
Bedeutung der Worte hat vielleicht gar ihr Angeneh-
mes. Aber faſt jeder Pſycholog beſchweret ſich, daß
man mit den Mißverſtaͤndniſſen beynahe ſo viel zu ſchaf-
fen habe, als mit der Dunkelheit der Sachen ſelbſt.

Das Fuͤhlen, das Percipiren, das Gewahr-
werden
erfolget ſo ſchnell auf einander, daß es in Ei-
nem unzertheilten Augenblick ſich in der Seele vor unſe-
rer Beobachtung zuſammendraͤnget. Es mag auch viel-
leicht neben einander zugleich in uns vorhanden ſeyn, wie
die mehreren gleichzeitigen Toͤne, welche eine geſpannte
Saite auf einmal angiebt. Aber wie es ſich auch ver-
haͤlt, ſo giebt es doch Faͤlle, wo Eine oder die andere
dieſer Aeußerungen vor den uͤbrigen hervorſticht, und
auszeichnend erkannt werden kann. Aus ſolchen Faͤllen

ſieht
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0228" n="168"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Gefu&#x0364;hl,</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">fu&#x0364;hle,</hi> den Empfindungen entgegen ge&#x017F;etzt, &#x017F;ind &#x017F;olche,<lb/>
wo bloß eine Vera&#x0364;nderung oder ein Eindruck in uns und<lb/>
auf uns gefu&#x0364;hlet wird, ohne daß wir das Objekt durch<lb/>
die&#x017F;en Eindruck erkennen, welches &#x017F;olche bewirket hat.<lb/><hi rendition="#fr">Empfinden</hi> zeiget auf einen Gegen&#x017F;tand hin, den wir<lb/>
mittel&#x017F;t des &#x017F;innlichen Eindrucks in uns fu&#x0364;hlen, und<lb/>
gleich&#x017F;am vorfinden. Dazu kommt noch ein anderer<lb/>
Nebenzug, der die Bedeutungen die&#x017F;er Wo&#x0364;rter unter-<lb/>
&#x017F;cheidet. Jn dem <hi rendition="#fr">Empfinden einer Sache</hi> begrei-<lb/>
fen wir zugleich mit, daß wir &#x017F;ie gewahrnehmen, ap-<lb/>
percipiren, erkennen oder von andern unter&#x017F;cheiden.<lb/>
Das Wort Gefu&#x0364;hl &#x017F;cheinet von einem allgemeinern Um-<lb/>
fange zu &#x017F;eyn, und auch das dunkel&#x017F;te Gefu&#x0364;hl einzu-<lb/>
&#x017F;chließen, wo der&#x017F;elbige Aktus des Fu&#x0364;hlens vorhanden<lb/>
i&#x017F;t, ohne daß wir das Gefu&#x0364;hlte unter&#x017F;cheiden. Jn man-<lb/>
cher Hin&#x017F;icht kann man beide Ausdru&#x0364;cke, <hi rendition="#fr">Fu&#x0364;hlen</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">Empfinden,</hi> als Synonyme gebrauchen, beide fu&#x0364;r den<lb/>
Aktus des Fu&#x0364;hlens. Das &#x017F;chwa&#x0364;ch&#x017F;te und dunkel&#x017F;te Fu&#x0364;h-<lb/>
len heißt auch bey vielen, ohne Ru&#x0364;ck&#x017F;icht auf eine Apper-<lb/>
ception, ein <hi rendition="#fr">dunkles</hi> Empfinden. Es kommt nicht<lb/>
auf Namen an; eine gewi&#x017F;&#x017F;e Unbe&#x017F;timmtheit in der<lb/>
Bedeutung der Worte hat vielleicht gar ihr Angeneh-<lb/>
mes. Aber fa&#x017F;t jeder P&#x017F;ycholog be&#x017F;chweret &#x017F;ich, daß<lb/>
man mit den Mißver&#x017F;ta&#x0364;ndni&#x017F;&#x017F;en beynahe &#x017F;o viel zu &#x017F;chaf-<lb/>
fen habe, als mit der Dunkelheit der Sachen &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Das <hi rendition="#fr">Fu&#x0364;hlen,</hi> das <hi rendition="#fr">Percipiren,</hi> das <hi rendition="#fr">Gewahr-<lb/>
werden</hi> erfolget &#x017F;o &#x017F;chnell auf einander, daß es in Ei-<lb/>
nem unzertheilten Augenblick &#x017F;ich in der Seele vor un&#x017F;e-<lb/>
rer Beobachtung zu&#x017F;ammendra&#x0364;nget. Es mag auch viel-<lb/>
leicht neben einander zugleich in uns vorhanden &#x017F;eyn, wie<lb/>
die mehreren gleichzeitigen To&#x0364;ne, welche eine ge&#x017F;pannte<lb/>
Saite auf einmal angiebt. Aber wie es &#x017F;ich auch ver-<lb/>
ha&#x0364;lt, &#x017F;o giebt es doch Fa&#x0364;lle, wo Eine oder die andere<lb/>
die&#x017F;er Aeußerungen vor den u&#x0364;brigen hervor&#x017F;ticht, und<lb/>
auszeichnend erkannt werden kann. Aus &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ieht</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0228] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, fuͤhle, den Empfindungen entgegen geſetzt, ſind ſolche, wo bloß eine Veraͤnderung oder ein Eindruck in uns und auf uns gefuͤhlet wird, ohne daß wir das Objekt durch dieſen Eindruck erkennen, welches ſolche bewirket hat. Empfinden zeiget auf einen Gegenſtand hin, den wir mittelſt des ſinnlichen Eindrucks in uns fuͤhlen, und gleichſam vorfinden. Dazu kommt noch ein anderer Nebenzug, der die Bedeutungen dieſer Woͤrter unter- ſcheidet. Jn dem Empfinden einer Sache begrei- fen wir zugleich mit, daß wir ſie gewahrnehmen, ap- percipiren, erkennen oder von andern unterſcheiden. Das Wort Gefuͤhl ſcheinet von einem allgemeinern Um- fange zu ſeyn, und auch das dunkelſte Gefuͤhl einzu- ſchließen, wo derſelbige Aktus des Fuͤhlens vorhanden iſt, ohne daß wir das Gefuͤhlte unterſcheiden. Jn man- cher Hinſicht kann man beide Ausdruͤcke, Fuͤhlen und Empfinden, als Synonyme gebrauchen, beide fuͤr den Aktus des Fuͤhlens. Das ſchwaͤchſte und dunkelſte Fuͤh- len heißt auch bey vielen, ohne Ruͤckſicht auf eine Apper- ception, ein dunkles Empfinden. Es kommt nicht auf Namen an; eine gewiſſe Unbeſtimmtheit in der Bedeutung der Worte hat vielleicht gar ihr Angeneh- mes. Aber faſt jeder Pſycholog beſchweret ſich, daß man mit den Mißverſtaͤndniſſen beynahe ſo viel zu ſchaf- fen habe, als mit der Dunkelheit der Sachen ſelbſt. Das Fuͤhlen, das Percipiren, das Gewahr- werden erfolget ſo ſchnell auf einander, daß es in Ei- nem unzertheilten Augenblick ſich in der Seele vor unſe- rer Beobachtung zuſammendraͤnget. Es mag auch viel- leicht neben einander zugleich in uns vorhanden ſeyn, wie die mehreren gleichzeitigen Toͤne, welche eine geſpannte Saite auf einmal angiebt. Aber wie es ſich auch ver- haͤlt, ſo giebt es doch Faͤlle, wo Eine oder die andere dieſer Aeußerungen vor den uͤbrigen hervorſticht, und auszeichnend erkannt werden kann. Aus ſolchen Faͤllen ſieht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/228
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/228>, abgerufen am 18.05.2024.