Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

V. Versuch. Ueber den Urspr. unserer
Mensch sah und hörte, der Baum, der Himmel, der
Gesang des Vogels, das Rauschen der Quelle, müßte
ihn, sobald er es gewahr nahm, zu dem Gedanken ge-
bracht haben: Siehe, das ist auch ein Stück von
dir,
und dieß Urtheil wäre egoistisch gewesen.

Kann eine solche Voraussetzung als möglich ange-
nommen werden? Sollte wohl der ganze Jnbegriff
aller Empfindungen zu Einer Existenz vereiniget, und
in Eine Vorstellung zusammengebracht werden können,
ehe sich schon unterschiedene und abgesonderte Haufen von
selbst gebildet hatten? Und ehe eine solche Sonderung
geschehen war, wie hätte die Jdee von einem wirklichen
Dinge, und von unserm Jch als einem Dinge entstehen
sollen? Die Vereinigung aller Empfindungen zu Ei-
ner ganzen, wenn sie schon unterschieden werden, kann
darum nicht als möglich angenommen werden, weil auch
unsere gestärkte Vorstellungskraft nicht vermögend ist,
solche auch nur bey allen äußern Empfindungen allein
zu beschaffen. Will man sich aber etwan vorstellen, es
sey in dem ersten dunkeln Zustande, wo völlige Nacht
war, ein Theil der Gefühle nach dem andern aufgehel-
let, bemerket und unterschieden worden, und also jedes
in dieser Folge auf das Ganze wie eine Beschaffenheit
auf ihr Subjekt bezogen, so wird theils wiederum etwas
voraus gesetzet, was über alle Maßen unwahrscheinlich
ist, theils aber wird der Ursprung des egoistischen Ur-
theils dadurch nicht begreiflich gemacht.

Jst es wahrscheinlich, daß die Aufhellung und Ab-
sonderung der Empfindungen auf diese Art geschehen sey,
daß Eine Empfindung allein vorher gänzlich unterschie-
den worden, ehe noch die übrigen angefangen, sich aus-
einander zu setzen? oder gieng es nicht in der Seele so
vor sich, wie es in der Körperwelt geschicht, wenn das
Tageslicht allmählig die Dunkelheit vertreibet, so nem-
lich, daß das Licht über eine ganze Menge von Gegen-

ständen

V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer
Menſch ſah und hoͤrte, der Baum, der Himmel, der
Geſang des Vogels, das Rauſchen der Quelle, muͤßte
ihn, ſobald er es gewahr nahm, zu dem Gedanken ge-
bracht haben: Siehe, das iſt auch ein Stuͤck von
dir,
und dieß Urtheil waͤre egoiſtiſch geweſen.

Kann eine ſolche Vorausſetzung als moͤglich ange-
nommen werden? Sollte wohl der ganze Jnbegriff
aller Empfindungen zu Einer Exiſtenz vereiniget, und
in Eine Vorſtellung zuſammengebracht werden koͤnnen,
ehe ſich ſchon unterſchiedene und abgeſonderte Haufen von
ſelbſt gebildet hatten? Und ehe eine ſolche Sonderung
geſchehen war, wie haͤtte die Jdee von einem wirklichen
Dinge, und von unſerm Jch als einem Dinge entſtehen
ſollen? Die Vereinigung aller Empfindungen zu Ei-
ner ganzen, wenn ſie ſchon unterſchieden werden, kann
darum nicht als moͤglich angenommen werden, weil auch
unſere geſtaͤrkte Vorſtellungskraft nicht vermoͤgend iſt,
ſolche auch nur bey allen aͤußern Empfindungen allein
zu beſchaffen. Will man ſich aber etwan vorſtellen, es
ſey in dem erſten dunkeln Zuſtande, wo voͤllige Nacht
war, ein Theil der Gefuͤhle nach dem andern aufgehel-
let, bemerket und unterſchieden worden, und alſo jedes
in dieſer Folge auf das Ganze wie eine Beſchaffenheit
auf ihr Subjekt bezogen, ſo wird theils wiederum etwas
voraus geſetzet, was uͤber alle Maßen unwahrſcheinlich
iſt, theils aber wird der Urſprung des egoiſtiſchen Ur-
theils dadurch nicht begreiflich gemacht.

Jſt es wahrſcheinlich, daß die Aufhellung und Ab-
ſonderung der Empfindungen auf dieſe Art geſchehen ſey,
daß Eine Empfindung allein vorher gaͤnzlich unterſchie-
den worden, ehe noch die uͤbrigen angefangen, ſich aus-
einander zu ſetzen? oder gieng es nicht in der Seele ſo
vor ſich, wie es in der Koͤrperwelt geſchicht, wenn das
Tageslicht allmaͤhlig die Dunkelheit vertreibet, ſo nem-
lich, daß das Licht uͤber eine ganze Menge von Gegen-

ſtaͤnden
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0472" n="412"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">V.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber den Ur&#x017F;pr. un&#x017F;erer</hi></fw><lb/>
Men&#x017F;ch &#x017F;ah und ho&#x0364;rte, der Baum, der Himmel, der<lb/>
Ge&#x017F;ang des Vogels, das Rau&#x017F;chen der Quelle, mu&#x0364;ßte<lb/>
ihn, &#x017F;obald er es gewahr nahm, zu dem Gedanken ge-<lb/>
bracht haben: Siehe, <hi rendition="#fr">das i&#x017F;t auch ein Stu&#x0364;ck von<lb/>
dir,</hi> und dieß Urtheil wa&#x0364;re egoi&#x017F;ti&#x017F;ch gewe&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Kann eine &#x017F;olche Voraus&#x017F;etzung als mo&#x0364;glich ange-<lb/>
nommen werden? Sollte wohl der ganze Jnbegriff<lb/>
aller Empfindungen zu <hi rendition="#fr">Einer</hi> Exi&#x017F;tenz vereiniget, und<lb/>
in Eine Vor&#x017F;tellung zu&#x017F;ammengebracht werden ko&#x0364;nnen,<lb/>
ehe &#x017F;ich &#x017F;chon unter&#x017F;chiedene und abge&#x017F;onderte Haufen von<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t gebildet hatten? Und ehe eine &#x017F;olche Sonderung<lb/>
ge&#x017F;chehen war, wie ha&#x0364;tte die Jdee von einem wirklichen<lb/>
Dinge, und von un&#x017F;erm Jch als einem Dinge ent&#x017F;tehen<lb/>
&#x017F;ollen? Die Vereinigung <hi rendition="#fr">aller</hi> Empfindungen zu Ei-<lb/>
ner ganzen, wenn &#x017F;ie &#x017F;chon unter&#x017F;chieden werden, kann<lb/>
darum nicht als mo&#x0364;glich angenommen werden, weil auch<lb/>
un&#x017F;ere ge&#x017F;ta&#x0364;rkte Vor&#x017F;tellungskraft nicht vermo&#x0364;gend i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;olche auch nur bey <hi rendition="#fr">allen a&#x0364;ußern</hi> Empfindungen allein<lb/>
zu be&#x017F;chaffen. Will man &#x017F;ich aber etwan vor&#x017F;tellen, es<lb/>
&#x017F;ey in dem er&#x017F;ten dunkeln Zu&#x017F;tande, wo vo&#x0364;llige Nacht<lb/>
war, ein Theil der Gefu&#x0364;hle nach dem andern aufgehel-<lb/>
let, bemerket und unter&#x017F;chieden worden, und al&#x017F;o jedes<lb/>
in die&#x017F;er Folge auf das Ganze wie eine Be&#x017F;chaffenheit<lb/>
auf ihr Subjekt bezogen, &#x017F;o wird theils wiederum etwas<lb/>
voraus ge&#x017F;etzet, was u&#x0364;ber alle Maßen unwahr&#x017F;cheinlich<lb/>
i&#x017F;t, theils aber wird der Ur&#x017F;prung des egoi&#x017F;ti&#x017F;chen Ur-<lb/>
theils dadurch nicht begreiflich gemacht.</p><lb/>
          <p>J&#x017F;t es wahr&#x017F;cheinlich, daß die Aufhellung und Ab-<lb/>
&#x017F;onderung der Empfindungen auf die&#x017F;e Art ge&#x017F;chehen &#x017F;ey,<lb/>
daß Eine Empfindung allein vorher ga&#x0364;nzlich unter&#x017F;chie-<lb/>
den worden, ehe noch die u&#x0364;brigen angefangen, &#x017F;ich aus-<lb/>
einander zu &#x017F;etzen? oder gieng es nicht in der Seele &#x017F;o<lb/>
vor &#x017F;ich, wie es in der Ko&#x0364;rperwelt ge&#x017F;chicht, wenn das<lb/>
Tageslicht allma&#x0364;hlig die Dunkelheit vertreibet, &#x017F;o nem-<lb/>
lich, daß das Licht u&#x0364;ber eine ganze Menge von Gegen-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ta&#x0364;nden</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[412/0472] V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer Menſch ſah und hoͤrte, der Baum, der Himmel, der Geſang des Vogels, das Rauſchen der Quelle, muͤßte ihn, ſobald er es gewahr nahm, zu dem Gedanken ge- bracht haben: Siehe, das iſt auch ein Stuͤck von dir, und dieß Urtheil waͤre egoiſtiſch geweſen. Kann eine ſolche Vorausſetzung als moͤglich ange- nommen werden? Sollte wohl der ganze Jnbegriff aller Empfindungen zu Einer Exiſtenz vereiniget, und in Eine Vorſtellung zuſammengebracht werden koͤnnen, ehe ſich ſchon unterſchiedene und abgeſonderte Haufen von ſelbſt gebildet hatten? Und ehe eine ſolche Sonderung geſchehen war, wie haͤtte die Jdee von einem wirklichen Dinge, und von unſerm Jch als einem Dinge entſtehen ſollen? Die Vereinigung aller Empfindungen zu Ei- ner ganzen, wenn ſie ſchon unterſchieden werden, kann darum nicht als moͤglich angenommen werden, weil auch unſere geſtaͤrkte Vorſtellungskraft nicht vermoͤgend iſt, ſolche auch nur bey allen aͤußern Empfindungen allein zu beſchaffen. Will man ſich aber etwan vorſtellen, es ſey in dem erſten dunkeln Zuſtande, wo voͤllige Nacht war, ein Theil der Gefuͤhle nach dem andern aufgehel- let, bemerket und unterſchieden worden, und alſo jedes in dieſer Folge auf das Ganze wie eine Beſchaffenheit auf ihr Subjekt bezogen, ſo wird theils wiederum etwas voraus geſetzet, was uͤber alle Maßen unwahrſcheinlich iſt, theils aber wird der Urſprung des egoiſtiſchen Ur- theils dadurch nicht begreiflich gemacht. Jſt es wahrſcheinlich, daß die Aufhellung und Ab- ſonderung der Empfindungen auf dieſe Art geſchehen ſey, daß Eine Empfindung allein vorher gaͤnzlich unterſchie- den worden, ehe noch die uͤbrigen angefangen, ſich aus- einander zu ſetzen? oder gieng es nicht in der Seele ſo vor ſich, wie es in der Koͤrperwelt geſchicht, wenn das Tageslicht allmaͤhlig die Dunkelheit vertreibet, ſo nem- lich, daß das Licht uͤber eine ganze Menge von Gegen- ſtaͤnden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/472
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/472>, abgerufen am 22.12.2024.