Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Versuch. Ueber den Unterschied
setzet wird, sondern führet auch noch auf eine besondere
Schwierigkeit, die Condillac *) schon bemerket hat,
und auf welche in den neuern Erklärungen von dem Ur-
sprung unserer Gesichtsurtheile, nicht Rücksicht genug
genommen wird. Freylich sind die reinen Empfin-
dungsurtheile weit seltener, als man es gemeiniglich
glaubet; aber man hat doch auch ihre Zahl zu sehr ein-
geschränket, und aus einer Jdeenassociation oder aus
einem Raisonnement manches hergeholet, was nach
meiner Meinung zu den unmittelbaren Erfahrungen ge-
höret. Sollte nicht der Grundsatz, "daß dasjenige,
"dessen ich mir deutlich und stark in meinem gegenwärti-
"gen Gefühl bewußt bin, auch wirklich darinn enthalten
"ist, ein festes Axiom seyn, welches keinen Ausnahmen
"unterworfen ist?" Wenn es nicht ist, so können wir
wenigstens bey solchen Arten von Beobachtungen, von
ihrer Zuverlässigkeit nicht versichert seyn, und nicht wis-
sen, ob das was wir gegenwärtig zu empfinden glau-
ben, nicht eine Phantasie aus fremden Empfindungen
her sey?

Ein Mensch, der vier Fuß von mir abstehet, und sich
nun noch einmal so weit entfernet, wird eben so groß ge-
sehen,
als vorher; und der Mond scheinet am Horizont
größer als in der Höhe **). Jn jenem Fall urtheilen wir

nicht
*) Traite des sensations.
**) Robert Smith hat in so weit (in seiner von dem
Hr. Hofr. Kästner umgearbeiteten Optik. S. 57.) dieß
Phänomen erkläret, daß es nunmehr gewiß ist, es
habe dieselbige Ursache, die dem Himmel das Ansehen
eines länglichen elliptischen Gewölbes giebt, indem
wir den Mond für so groß ansehen, als das Stück die-
ses Gewölbes, das von ihm bedecket wird. Aber man
kann von neuen fragen, was denn von dieser Gestalt
des Himmels der Grund sey, und nach welchem Gesetz
des Sehens dieß letztere Bild entstehen müsse? Dann
muß

VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
ſetzet wird, ſondern fuͤhret auch noch auf eine beſondere
Schwierigkeit, die Condillac *) ſchon bemerket hat,
und auf welche in den neuern Erklaͤrungen von dem Ur-
ſprung unſerer Geſichtsurtheile, nicht Ruͤckſicht genug
genommen wird. Freylich ſind die reinen Empfin-
dungsurtheile weit ſeltener, als man es gemeiniglich
glaubet; aber man hat doch auch ihre Zahl zu ſehr ein-
geſchraͤnket, und aus einer Jdeenaſſociation oder aus
einem Raiſonnement manches hergeholet, was nach
meiner Meinung zu den unmittelbaren Erfahrungen ge-
hoͤret. Sollte nicht der Grundſatz, „daß dasjenige,
„deſſen ich mir deutlich und ſtark in meinem gegenwaͤrti-
„gen Gefuͤhl bewußt bin, auch wirklich darinn enthalten
„iſt, ein feſtes Axiom ſeyn, welches keinen Ausnahmen
„unterworfen iſt?“ Wenn es nicht iſt, ſo koͤnnen wir
wenigſtens bey ſolchen Arten von Beobachtungen, von
ihrer Zuverlaͤſſigkeit nicht verſichert ſeyn, und nicht wiſ-
ſen, ob das was wir gegenwaͤrtig zu empfinden glau-
ben, nicht eine Phantaſie aus fremden Empfindungen
her ſey?

Ein Menſch, der vier Fuß von mir abſtehet, und ſich
nun noch einmal ſo weit entfernet, wird eben ſo groß ge-
ſehen,
als vorher; und der Mond ſcheinet am Horizont
groͤßer als in der Hoͤhe **). Jn jenem Fall urtheilen wir

nicht
*) Traité des ſenſations.
**) Robert Smith hat in ſo weit (in ſeiner von dem
Hr. Hofr. Kaͤſtner umgearbeiteten Optik. S. 57.) dieß
Phaͤnomen erklaͤret, daß es nunmehr gewiß iſt, es
habe dieſelbige Urſache, die dem Himmel das Anſehen
eines laͤnglichen elliptiſchen Gewoͤlbes giebt, indem
wir den Mond fuͤr ſo groß anſehen, als das Stuͤck die-
ſes Gewoͤlbes, das von ihm bedecket wird. Aber man
kann von neuen fragen, was denn von dieſer Geſtalt
des Himmels der Grund ſey, und nach welchem Geſetz
des Sehens dieß letztere Bild entſtehen muͤſſe? Dann
muß
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0492" n="432"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber den Unter&#x017F;chied</hi></fw><lb/>
&#x017F;etzet wird, &#x017F;ondern fu&#x0364;hret auch noch auf eine be&#x017F;ondere<lb/>
Schwierigkeit, die <hi rendition="#fr">Condillac</hi> <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Traité des &#x017F;en&#x017F;ations.</hi></note> &#x017F;chon bemerket hat,<lb/>
und auf welche in den neuern Erkla&#x0364;rungen von dem Ur-<lb/>
&#x017F;prung un&#x017F;erer Ge&#x017F;ichtsurtheile, nicht Ru&#x0364;ck&#x017F;icht genug<lb/>
genommen wird. Freylich &#x017F;ind die <hi rendition="#fr">reinen</hi> Empfin-<lb/>
dungsurtheile weit &#x017F;eltener, als man es gemeiniglich<lb/>
glaubet; aber man hat doch auch ihre Zahl zu &#x017F;ehr ein-<lb/>
ge&#x017F;chra&#x0364;nket, und aus einer <hi rendition="#fr">Jdeena&#x017F;&#x017F;ociation</hi> oder aus<lb/>
einem <hi rendition="#fr">Rai&#x017F;onnement</hi> manches hergeholet, was nach<lb/>
meiner Meinung zu den unmittelbaren Erfahrungen ge-<lb/>
ho&#x0364;ret. Sollte nicht der Grund&#x017F;atz, &#x201E;daß dasjenige,<lb/>
&#x201E;de&#x017F;&#x017F;en ich mir deutlich und &#x017F;tark in meinem gegenwa&#x0364;rti-<lb/>
&#x201E;gen Gefu&#x0364;hl bewußt bin, auch wirklich darinn enthalten<lb/>
&#x201E;i&#x017F;t, ein fe&#x017F;tes Axiom &#x017F;eyn, welches keinen Ausnahmen<lb/>
&#x201E;unterworfen i&#x017F;t?&#x201C; Wenn es nicht i&#x017F;t, &#x017F;o ko&#x0364;nnen wir<lb/>
wenig&#x017F;tens bey &#x017F;olchen Arten von Beobachtungen, von<lb/>
ihrer Zuverla&#x0364;&#x017F;&#x017F;igkeit nicht ver&#x017F;ichert &#x017F;eyn, und nicht wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, ob das was wir gegenwa&#x0364;rtig <hi rendition="#fr">zu empfinden</hi> glau-<lb/>
ben, nicht eine <hi rendition="#fr">Phanta&#x017F;ie</hi> aus fremden Empfindungen<lb/>
her &#x017F;ey?</p><lb/>
            <p>Ein Men&#x017F;ch, der vier Fuß von mir ab&#x017F;tehet, und &#x017F;ich<lb/>
nun noch einmal &#x017F;o weit entfernet, wird eben &#x017F;o groß <hi rendition="#fr">ge-<lb/>
&#x017F;ehen,</hi> als vorher; und der Mond &#x017F;cheinet am Horizont<lb/>
gro&#x0364;ßer als in der Ho&#x0364;he <note xml:id="d1" next="#d2" place="foot" n="**)"><hi rendition="#fr">Robert Smith</hi> hat in &#x017F;o weit (in &#x017F;einer von dem<lb/>
Hr. Hofr. <hi rendition="#fr">Ka&#x0364;&#x017F;tner</hi> umgearbeiteten <hi rendition="#fr">Optik.</hi> S. 57.) dieß<lb/>
Pha&#x0364;nomen erkla&#x0364;ret, daß es nunmehr gewiß i&#x017F;t, es<lb/>
habe die&#x017F;elbige Ur&#x017F;ache, die dem Himmel das An&#x017F;ehen<lb/>
eines <hi rendition="#fr">la&#x0364;nglichen ellipti&#x017F;chen Gewo&#x0364;lbes</hi> giebt, indem<lb/>
wir den Mond fu&#x0364;r &#x017F;o groß an&#x017F;ehen, als das Stu&#x0364;ck die-<lb/>
&#x017F;es Gewo&#x0364;lbes, das von ihm bedecket wird. Aber man<lb/>
kann von neuen fragen, was denn von die&#x017F;er Ge&#x017F;talt<lb/>
des Himmels der Grund &#x017F;ey, und nach welchem Ge&#x017F;etz<lb/>
des Sehens dieß letztere Bild ent&#x017F;tehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e? Dann<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">muß</fw></note>. Jn jenem Fall urtheilen wir<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[432/0492] VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied ſetzet wird, ſondern fuͤhret auch noch auf eine beſondere Schwierigkeit, die Condillac *) ſchon bemerket hat, und auf welche in den neuern Erklaͤrungen von dem Ur- ſprung unſerer Geſichtsurtheile, nicht Ruͤckſicht genug genommen wird. Freylich ſind die reinen Empfin- dungsurtheile weit ſeltener, als man es gemeiniglich glaubet; aber man hat doch auch ihre Zahl zu ſehr ein- geſchraͤnket, und aus einer Jdeenaſſociation oder aus einem Raiſonnement manches hergeholet, was nach meiner Meinung zu den unmittelbaren Erfahrungen ge- hoͤret. Sollte nicht der Grundſatz, „daß dasjenige, „deſſen ich mir deutlich und ſtark in meinem gegenwaͤrti- „gen Gefuͤhl bewußt bin, auch wirklich darinn enthalten „iſt, ein feſtes Axiom ſeyn, welches keinen Ausnahmen „unterworfen iſt?“ Wenn es nicht iſt, ſo koͤnnen wir wenigſtens bey ſolchen Arten von Beobachtungen, von ihrer Zuverlaͤſſigkeit nicht verſichert ſeyn, und nicht wiſ- ſen, ob das was wir gegenwaͤrtig zu empfinden glau- ben, nicht eine Phantaſie aus fremden Empfindungen her ſey? Ein Menſch, der vier Fuß von mir abſtehet, und ſich nun noch einmal ſo weit entfernet, wird eben ſo groß ge- ſehen, als vorher; und der Mond ſcheinet am Horizont groͤßer als in der Hoͤhe **). Jn jenem Fall urtheilen wir nicht *) Traité des ſenſations. **) Robert Smith hat in ſo weit (in ſeiner von dem Hr. Hofr. Kaͤſtner umgearbeiteten Optik. S. 57.) dieß Phaͤnomen erklaͤret, daß es nunmehr gewiß iſt, es habe dieſelbige Urſache, die dem Himmel das Anſehen eines laͤnglichen elliptiſchen Gewoͤlbes giebt, indem wir den Mond fuͤr ſo groß anſehen, als das Stuͤck die- ſes Gewoͤlbes, das von ihm bedecket wird. Aber man kann von neuen fragen, was denn von dieſer Geſtalt des Himmels der Grund ſey, und nach welchem Geſetz des Sehens dieß letztere Bild entſtehen muͤſſe? Dann muß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/492
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/492>, abgerufen am 22.12.2024.