Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der sinnlich. Kenntn. u. d. vernünftigen.
nicht nach der Größe des Bildes im Auge, und es
ist gut, daß wir es nicht thun, weil unser Urtheil unrich-
tig seyn würde, wenn wir es thäten. Jn dem letztern
Fall weichen wir ebenfalls von dieser Richtschnur ab;
aber hier wäre es gut, wenn wir dabey blieben; alsdenn
würde unser Urtheil richtig seyn, wie es nun nicht ist.
Man sagt mir, daß die Empfindung des Gegenstan-
des in der größern Entfernung, die aus andern
Empfindungen erlangte Jdee von seiner sichtlichen Grö-
ße mit sich verbunden habe, und solche mir jetzt durch ei-
ne Jdeenassociation vorhalte. Das wäre recht gut, wenn
ich eine solche Größe mir alsdenn nur einbildete, wenn
ich sie nicht wirklich in dem Gegenstand sähe und em-
pfände,
oder doch fest und sicher zu sehen und zu em-
pfinden
glaubte. Der Hang, was mit einer gegenwär-
tigen Jmpression von einem Objekt zugleich in uns vor-
handen ist diesen letztern zuzuschreiben, ist zwar gewöhn-
lich und verursachet die bekannten mächtigen Wirkungen
der Jdeenassociation; aber es muß doch dem scharfsinni-
gen Selbstgefühl möglich seyn, diese vergesellschafteten
Einbildungen von dem, was wahrer gegenwärtiger Ein-
druck ist, zu unterscheiden. Den obgedachten Beyspie-

len
muß man doch am Ende auf allgemeine Regeln kom-
men, wornach die sichtliche Größe empfunden wird.
Diese sichtliche Größe in der Empfindung aber hängt
nicht allein von der Größe des optischen Winkels, oder
von der Größe des Bildes auf der N tzhaut ab, son-
dern auch von andern Zügen in der ganzen Empfindung,
von der Helligkeit und Dunkelheit, von der Entfernung.
Auch die Größe des Bildes im Auge richtet sich wohl
nicht allein nach der Größe des Winkels, unter wel-
chem die Strahlen von den äußersten Punkten in dem
Objekt am Auge zusammen laufen. Nach welchen Ge-
setzen wird also die scheinbare Gestalt des Himmels so
empfunden, wie wir sie sehen?
I. Band. E e

der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
nicht nach der Groͤße des Bildes im Auge, und es
iſt gut, daß wir es nicht thun, weil unſer Urtheil unrich-
tig ſeyn wuͤrde, wenn wir es thaͤten. Jn dem letztern
Fall weichen wir ebenfalls von dieſer Richtſchnur ab;
aber hier waͤre es gut, wenn wir dabey blieben; alsdenn
wuͤrde unſer Urtheil richtig ſeyn, wie es nun nicht iſt.
Man ſagt mir, daß die Empfindung des Gegenſtan-
des in der groͤßern Entfernung, die aus andern
Empfindungen erlangte Jdee von ſeiner ſichtlichen Groͤ-
ße mit ſich verbunden habe, und ſolche mir jetzt durch ei-
ne Jdeenaſſociation vorhalte. Das waͤre recht gut, wenn
ich eine ſolche Groͤße mir alsdenn nur einbildete, wenn
ich ſie nicht wirklich in dem Gegenſtand ſaͤhe und em-
pfaͤnde,
oder doch feſt und ſicher zu ſehen und zu em-
pfinden
glaubte. Der Hang, was mit einer gegenwaͤr-
tigen Jmpreſſion von einem Objekt zugleich in uns vor-
handen iſt dieſen letztern zuzuſchreiben, iſt zwar gewoͤhn-
lich und verurſachet die bekannten maͤchtigen Wirkungen
der Jdeenaſſociation; aber es muß doch dem ſcharfſinni-
gen Selbſtgefuͤhl moͤglich ſeyn, dieſe vergeſellſchafteten
Einbildungen von dem, was wahrer gegenwaͤrtiger Ein-
druck iſt, zu unterſcheiden. Den obgedachten Beyſpie-

len
muß man doch am Ende auf allgemeine Regeln kom-
men, wornach die ſichtliche Groͤße empfunden wird.
Dieſe ſichtliche Groͤße in der Empfindung aber haͤngt
nicht allein von der Groͤße des optiſchen Winkels, oder
von der Groͤße des Bildes auf der N tzhaut ab, ſon-
dern auch von andern Zuͤgen in der ganzen Empfindung,
von der Helligkeit und Dunkelheit, von der Entfernung.
Auch die Groͤße des Bildes im Auge richtet ſich wohl
nicht allein nach der Groͤße des Winkels, unter wel-
chem die Strahlen von den aͤußerſten Punkten in dem
Objekt am Auge zuſammen laufen. Nach welchen Ge-
ſetzen wird alſo die ſcheinbare Geſtalt des Himmels ſo
empfunden, wie wir ſie ſehen?
I. Band. E e
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0493" n="433"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der &#x017F;innlich. Kenntn. u. d. vernu&#x0364;nftigen.</hi></fw><lb/>
nicht nach der <hi rendition="#fr">Gro&#x0364;ße des Bildes im Auge,</hi> und es<lb/>
i&#x017F;t gut, daß wir es nicht thun, weil un&#x017F;er Urtheil unrich-<lb/>
tig &#x017F;eyn wu&#x0364;rde, wenn wir es tha&#x0364;ten. Jn dem letztern<lb/>
Fall weichen wir ebenfalls von die&#x017F;er Richt&#x017F;chnur ab;<lb/>
aber hier wa&#x0364;re es gut, wenn wir dabey blieben; alsdenn<lb/>
wu&#x0364;rde un&#x017F;er Urtheil richtig &#x017F;eyn, wie es nun nicht i&#x017F;t.<lb/>
Man &#x017F;agt mir, daß die <hi rendition="#fr">Empfindung</hi> des Gegen&#x017F;tan-<lb/>
des in der <hi rendition="#fr">gro&#x0364;ßern Entfernung,</hi> die aus <hi rendition="#fr">andern</hi><lb/>
Empfindungen erlangte Jdee von &#x017F;einer &#x017F;ichtlichen Gro&#x0364;-<lb/>
ße mit &#x017F;ich verbunden habe, und &#x017F;olche mir jetzt durch ei-<lb/>
ne Jdeena&#x017F;&#x017F;ociation vorhalte. Das wa&#x0364;re recht gut, wenn<lb/>
ich eine &#x017F;olche Gro&#x0364;ße mir alsdenn nur <hi rendition="#fr">einbildete,</hi> wenn<lb/>
ich &#x017F;ie nicht wirklich in dem Gegen&#x017F;tand <hi rendition="#fr">&#x017F;a&#x0364;he</hi> und <hi rendition="#fr">em-<lb/>
pfa&#x0364;nde,</hi> oder doch fe&#x017F;t und &#x017F;icher zu <hi rendition="#fr">&#x017F;ehen</hi> und zu <hi rendition="#fr">em-<lb/>
pfinden</hi> glaubte. Der Hang, was mit einer gegenwa&#x0364;r-<lb/>
tigen Jmpre&#x017F;&#x017F;ion von einem Objekt zugleich in uns vor-<lb/>
handen i&#x017F;t die&#x017F;en letztern zuzu&#x017F;chreiben, i&#x017F;t zwar gewo&#x0364;hn-<lb/>
lich und verur&#x017F;achet die bekannten ma&#x0364;chtigen Wirkungen<lb/>
der Jdeena&#x017F;&#x017F;ociation; aber es muß doch dem &#x017F;charf&#x017F;inni-<lb/>
gen Selb&#x017F;tgefu&#x0364;hl mo&#x0364;glich &#x017F;eyn, die&#x017F;e verge&#x017F;ell&#x017F;chafteten<lb/>
Einbildungen von dem, was wahrer gegenwa&#x0364;rtiger Ein-<lb/>
druck i&#x017F;t, zu unter&#x017F;cheiden. Den obgedachten Bey&#x017F;pie-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">len</fw><lb/><note xml:id="d2" prev="#d1" place="foot" n="**)">muß man doch am Ende auf allgemeine Regeln kom-<lb/>
men, wornach die <hi rendition="#fr">&#x017F;ichtliche Gro&#x0364;ße</hi> empfunden wird.<lb/>
Die&#x017F;e <hi rendition="#fr">&#x017F;ichtliche Gro&#x0364;ße</hi> in der Empfindung aber ha&#x0364;ngt<lb/>
nicht allein von der Gro&#x0364;ße des opti&#x017F;chen Winkels, oder<lb/>
von der Gro&#x0364;ße des Bildes auf der N tzhaut ab, &#x017F;on-<lb/>
dern auch von andern Zu&#x0364;gen in der ganzen Empfindung,<lb/>
von der Helligkeit und Dunkelheit, von der Entfernung.<lb/>
Auch die <hi rendition="#fr">Gro&#x0364;ße des Bildes im Auge</hi> richtet &#x017F;ich wohl<lb/>
nicht allein nach der Gro&#x0364;ße des Winkels, unter wel-<lb/>
chem die Strahlen von den a&#x0364;ußer&#x017F;ten Punkten in dem<lb/>
Objekt am Auge zu&#x017F;ammen laufen. Nach welchen Ge-<lb/>
&#x017F;etzen wird al&#x017F;o die &#x017F;cheinbare Ge&#x017F;talt des Himmels &#x017F;o<lb/>
empfunden, wie wir &#x017F;ie &#x017F;ehen?</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Band.</hi> E e</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[433/0493] der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen. nicht nach der Groͤße des Bildes im Auge, und es iſt gut, daß wir es nicht thun, weil unſer Urtheil unrich- tig ſeyn wuͤrde, wenn wir es thaͤten. Jn dem letztern Fall weichen wir ebenfalls von dieſer Richtſchnur ab; aber hier waͤre es gut, wenn wir dabey blieben; alsdenn wuͤrde unſer Urtheil richtig ſeyn, wie es nun nicht iſt. Man ſagt mir, daß die Empfindung des Gegenſtan- des in der groͤßern Entfernung, die aus andern Empfindungen erlangte Jdee von ſeiner ſichtlichen Groͤ- ße mit ſich verbunden habe, und ſolche mir jetzt durch ei- ne Jdeenaſſociation vorhalte. Das waͤre recht gut, wenn ich eine ſolche Groͤße mir alsdenn nur einbildete, wenn ich ſie nicht wirklich in dem Gegenſtand ſaͤhe und em- pfaͤnde, oder doch feſt und ſicher zu ſehen und zu em- pfinden glaubte. Der Hang, was mit einer gegenwaͤr- tigen Jmpreſſion von einem Objekt zugleich in uns vor- handen iſt dieſen letztern zuzuſchreiben, iſt zwar gewoͤhn- lich und verurſachet die bekannten maͤchtigen Wirkungen der Jdeenaſſociation; aber es muß doch dem ſcharfſinni- gen Selbſtgefuͤhl moͤglich ſeyn, dieſe vergeſellſchafteten Einbildungen von dem, was wahrer gegenwaͤrtiger Ein- druck iſt, zu unterſcheiden. Den obgedachten Beyſpie- len **) **) muß man doch am Ende auf allgemeine Regeln kom- men, wornach die ſichtliche Groͤße empfunden wird. Dieſe ſichtliche Groͤße in der Empfindung aber haͤngt nicht allein von der Groͤße des optiſchen Winkels, oder von der Groͤße des Bildes auf der N tzhaut ab, ſon- dern auch von andern Zuͤgen in der ganzen Empfindung, von der Helligkeit und Dunkelheit, von der Entfernung. Auch die Groͤße des Bildes im Auge richtet ſich wohl nicht allein nach der Groͤße des Winkels, unter wel- chem die Strahlen von den aͤußerſten Punkten in dem Objekt am Auge zuſammen laufen. Nach welchen Ge- ſetzen wird alſo die ſcheinbare Geſtalt des Himmels ſo empfunden, wie wir ſie ſehen? I. Band. E e

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/493
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/493>, abgerufen am 22.12.2024.