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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
dem innern thätigen Princip der Seele nachspüret; wie
weit hinein erstrecket sich alsdann ihre äußerliche Verschie-
denartigkeit, und wie tief geht sie in das Jnnere hin-
ein? Es ist Ein und dasselbige Wesen, die gemeinschaftli-
che Quelle, aus der alle Seelen-Thätigkeiten entspringen.
Wo und auf welche Art theilen sie sich in die verschiedene
Ausflüsse, welche die Beobachtung unsers Selbst uns ge-
wahrnehmen läßt?

Jst vielleicht ihre ganze Verschiedenheit bloß äußer-
lich?
Jst Empfinden, Denken, Vorstellungen
machen,
von welchen hier nur zunächst die Rede ist,
an sich eben dieselbige gleichartige Thätigkeit der Seele,
die nur andere Gestalten annimmt, je nachdem die Ge-
genstände
verschieden sind, auf welche man sie anwen-
det?

Oder bestehet ihre Verschiedenheit allein in der Ver-
schiedenheit der Werkzeuge, durch welche das innere
Princip der Seele arbeitet? wie bey den äußern Sinnen,
wo das Empfindungsvermögen dasselbige ist, aber doch
in mehrere äußere Sinne sich zertheilet, weil die Or-
gane verschieden sind, wodurch wir empfinden? Wenn
es so ist; so kann man die Hoffnung fast aufgeben, hier-
über zur Gewißheit zu kommen, da uns die innern Or-
gane der Seele, und ihre Verschiedenheiten unaufdeck-
bar verborgen sind.

Oder vorausgesetzt, daß es weder eine Verschieden-
heit in den Werkzeugen, noch eine Verschiedenheit der
Objekte, noch eine Verschiedenheit in anderen äußern
Beziehungen sey, was dieselbige Seelen-Thätigkeit dann
zu einem Empfinden, dann zu einem Vorstellen, dann
wiederum zu einem Denken machet, ist es denn etwa ein
innerer Unterschied in den Graden, ein Mehr oder
Weniger, von der jenes abhänget? Jst etwa eine Vor-
stellung
nichts anders, als eine mehr entwickelte und
stärkere Empfindung; und Denken nichts als ein er-

höhetes,

I. Verſuch. Ueber die Natur
dem innern thaͤtigen Princip der Seele nachſpuͤret; wie
weit hinein erſtrecket ſich alsdann ihre aͤußerliche Verſchie-
denartigkeit, und wie tief geht ſie in das Jnnere hin-
ein? Es iſt Ein und daſſelbige Weſen, die gemeinſchaftli-
che Quelle, aus der alle Seelen-Thaͤtigkeiten entſpringen.
Wo und auf welche Art theilen ſie ſich in die verſchiedene
Ausfluͤſſe, welche die Beobachtung unſers Selbſt uns ge-
wahrnehmen laͤßt?

Jſt vielleicht ihre ganze Verſchiedenheit bloß aͤußer-
lich?
Jſt Empfinden, Denken, Vorſtellungen
machen,
von welchen hier nur zunaͤchſt die Rede iſt,
an ſich eben dieſelbige gleichartige Thaͤtigkeit der Seele,
die nur andere Geſtalten annimmt, je nachdem die Ge-
genſtaͤnde
verſchieden ſind, auf welche man ſie anwen-
det?

Oder beſtehet ihre Verſchiedenheit allein in der Ver-
ſchiedenheit der Werkzeuge, durch welche das innere
Princip der Seele arbeitet? wie bey den aͤußern Sinnen,
wo das Empfindungsvermoͤgen daſſelbige iſt, aber doch
in mehrere aͤußere Sinne ſich zertheilet, weil die Or-
gane verſchieden ſind, wodurch wir empfinden? Wenn
es ſo iſt; ſo kann man die Hoffnung faſt aufgeben, hier-
uͤber zur Gewißheit zu kommen, da uns die innern Or-
gane der Seele, und ihre Verſchiedenheiten unaufdeck-
bar verborgen ſind.

Oder vorausgeſetzt, daß es weder eine Verſchieden-
heit in den Werkzeugen, noch eine Verſchiedenheit der
Objekte, noch eine Verſchiedenheit in anderen aͤußern
Beziehungen ſey, was dieſelbige Seelen-Thaͤtigkeit dann
zu einem Empfinden, dann zu einem Vorſtellen, dann
wiederum zu einem Denken machet, iſt es denn etwa ein
innerer Unterſchied in den Graden, ein Mehr oder
Weniger, von der jenes abhaͤnget? Jſt etwa eine Vor-
ſtellung
nichts anders, als eine mehr entwickelte und
ſtaͤrkere Empfindung; und Denken nichts als ein er-

hoͤhetes,
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[2/0062] I. Verſuch. Ueber die Natur dem innern thaͤtigen Princip der Seele nachſpuͤret; wie weit hinein erſtrecket ſich alsdann ihre aͤußerliche Verſchie- denartigkeit, und wie tief geht ſie in das Jnnere hin- ein? Es iſt Ein und daſſelbige Weſen, die gemeinſchaftli- che Quelle, aus der alle Seelen-Thaͤtigkeiten entſpringen. Wo und auf welche Art theilen ſie ſich in die verſchiedene Ausfluͤſſe, welche die Beobachtung unſers Selbſt uns ge- wahrnehmen laͤßt? Jſt vielleicht ihre ganze Verſchiedenheit bloß aͤußer- lich? Jſt Empfinden, Denken, Vorſtellungen machen, von welchen hier nur zunaͤchſt die Rede iſt, an ſich eben dieſelbige gleichartige Thaͤtigkeit der Seele, die nur andere Geſtalten annimmt, je nachdem die Ge- genſtaͤnde verſchieden ſind, auf welche man ſie anwen- det? Oder beſtehet ihre Verſchiedenheit allein in der Ver- ſchiedenheit der Werkzeuge, durch welche das innere Princip der Seele arbeitet? wie bey den aͤußern Sinnen, wo das Empfindungsvermoͤgen daſſelbige iſt, aber doch in mehrere aͤußere Sinne ſich zertheilet, weil die Or- gane verſchieden ſind, wodurch wir empfinden? Wenn es ſo iſt; ſo kann man die Hoffnung faſt aufgeben, hier- uͤber zur Gewißheit zu kommen, da uns die innern Or- gane der Seele, und ihre Verſchiedenheiten unaufdeck- bar verborgen ſind. Oder vorausgeſetzt, daß es weder eine Verſchieden- heit in den Werkzeugen, noch eine Verſchiedenheit der Objekte, noch eine Verſchiedenheit in anderen aͤußern Beziehungen ſey, was dieſelbige Seelen-Thaͤtigkeit dann zu einem Empfinden, dann zu einem Vorſtellen, dann wiederum zu einem Denken machet, iſt es denn etwa ein innerer Unterſchied in den Graden, ein Mehr oder Weniger, von der jenes abhaͤnget? Jſt etwa eine Vor- ſtellung nichts anders, als eine mehr entwickelte und ſtaͤrkere Empfindung; und Denken nichts als ein er- hoͤhetes,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/62>, abgerufen am 17.05.2024.