und wenn nun Bradley uns zeiget, daß die kleine jähr- liche Bewegung in den Fixsternen nicht in ihnen selbst vorgehe, sondern der Anschein davon durch jene Ursache veranlasset werde, so wird es uns, der gemeine Ver- stand mag sagen, was er will, wenigstens ungemein wahrscheinlich, daß die Sache sich wirklich also verhalte.
Die Optik und die Astronomie sind voll von Sätzen, die zum Beweise dienen, daß es so oft die raisonni- rende Vernunft sey, die die Urtheile des Gemeinver- standes berichtige, wo dieser es selbst nicht durch die Vergleichung seiner Empfindungen thun kann. Ohne Geometrie und Arithmetik würde nimmermehr die ver- nünftige Astronomie eine Wissenschaft geworden seyn. Hier hat sich Hr. Beattie sehr geirret.
Die entwickelnde und raisonnirende Vernunft leh- ret es, und hat es gelehret, daß die subjektivische Noth- wendigkeit in den sinnlichen Urtheilen des Gemeinver- standes, in so vielen Fällen nur eine angenommene Ge- wohnheitsnothwendigkeit sey, und zu Vorurtheilen führe, und sie hat es gezeiget, wie ihre Aussprüche zu verbes- sern sind, und uns davon überzeuget. Ohne Geometrie würden wir nicht einmal die Natur des Sehens kennen, und nach diesem Sinn in allen Fällen unrichtig urtheilen, in denen wir ihn nicht richtig zu gebrauchen, aus der An- führung und Uebung erlernet haben. Der Jäger ur- theilet auf der See, und der Schiffer auf dem Lande sehr schlecht über die Entfernungen nach dem Augenmaaß.
Die raisonnirende Vernunft hat auch oft die Mittel an die Hand gegeben, die Prüfung des Gemeinverstan- des zu erleichtern. Sie kann auch schneller die Urtheile des letztern berichtigen, als er selbst durch die Verglei- chung der Erfahrungen zu thun im Stande ist. Herr Beattie giebt ein schönes Beyspiel, wie der Menschen- verstand sich selbst helfe, das aber zugleich auch lehret, wie wichtig die Hülfe sey, die von der Vernunft kommt.
Jch
VIII. Verſuch. Von der Beziehung
und wenn nun Bradley uns zeiget, daß die kleine jaͤhr- liche Bewegung in den Fixſternen nicht in ihnen ſelbſt vorgehe, ſondern der Anſchein davon durch jene Urſache veranlaſſet werde, ſo wird es uns, der gemeine Ver- ſtand mag ſagen, was er will, wenigſtens ungemein wahrſcheinlich, daß die Sache ſich wirklich alſo verhalte.
Die Optik und die Aſtronomie ſind voll von Saͤtzen, die zum Beweiſe dienen, daß es ſo oft die raiſonni- rende Vernunft ſey, die die Urtheile des Gemeinver- ſtandes berichtige, wo dieſer es ſelbſt nicht durch die Vergleichung ſeiner Empfindungen thun kann. Ohne Geometrie und Arithmetik wuͤrde nimmermehr die ver- nuͤnftige Aſtronomie eine Wiſſenſchaft geworden ſeyn. Hier hat ſich Hr. Beattie ſehr geirret.
Die entwickelnde und raiſonnirende Vernunft leh- ret es, und hat es gelehret, daß die ſubjektiviſche Noth- wendigkeit in den ſinnlichen Urtheilen des Gemeinver- ſtandes, in ſo vielen Faͤllen nur eine angenommene Ge- wohnheitsnothwendigkeit ſey, und zu Vorurtheilen fuͤhre, und ſie hat es gezeiget, wie ihre Ausſpruͤche zu verbeſ- ſern ſind, und uns davon uͤberzeuget. Ohne Geometrie wuͤrden wir nicht einmal die Natur des Sehens kennen, und nach dieſem Sinn in allen Faͤllen unrichtig urtheilen, in denen wir ihn nicht richtig zu gebrauchen, aus der An- fuͤhrung und Uebung erlernet haben. Der Jaͤger ur- theilet auf der See, und der Schiffer auf dem Lande ſehr ſchlecht uͤber die Entfernungen nach dem Augenmaaß.
Die raiſonnirende Vernunft hat auch oft die Mittel an die Hand gegeben, die Pruͤfung des Gemeinverſtan- des zu erleichtern. Sie kann auch ſchneller die Urtheile des letztern berichtigen, als er ſelbſt durch die Verglei- chung der Erfahrungen zu thun im Stande iſt. Herr Beattie giebt ein ſchoͤnes Beyſpiel, wie der Menſchen- verſtand ſich ſelbſt helfe, das aber zugleich auch lehret, wie wichtig die Huͤlfe ſey, die von der Vernunft kommt.
Jch
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VIII. Verſuch. Von der Beziehung
und wenn nun Bradley uns zeiget, daß die kleine jaͤhr-
liche Bewegung in den Fixſternen nicht in ihnen ſelbſt
vorgehe, ſondern der Anſchein davon durch jene Urſache
veranlaſſet werde, ſo wird es uns, der gemeine Ver-
ſtand mag ſagen, was er will, wenigſtens ungemein
wahrſcheinlich, daß die Sache ſich wirklich alſo verhalte.
Die Optik und die Aſtronomie ſind voll von Saͤtzen,
die zum Beweiſe dienen, daß es ſo oft die raiſonni-
rende Vernunft ſey, die die Urtheile des Gemeinver-
ſtandes berichtige, wo dieſer es ſelbſt nicht durch die
Vergleichung ſeiner Empfindungen thun kann. Ohne
Geometrie und Arithmetik wuͤrde nimmermehr die ver-
nuͤnftige Aſtronomie eine Wiſſenſchaft geworden ſeyn.
Hier hat ſich Hr. Beattie ſehr geirret.
Die entwickelnde und raiſonnirende Vernunft leh-
ret es, und hat es gelehret, daß die ſubjektiviſche Noth-
wendigkeit in den ſinnlichen Urtheilen des Gemeinver-
ſtandes, in ſo vielen Faͤllen nur eine angenommene Ge-
wohnheitsnothwendigkeit ſey, und zu Vorurtheilen fuͤhre,
und ſie hat es gezeiget, wie ihre Ausſpruͤche zu verbeſ-
ſern ſind, und uns davon uͤberzeuget. Ohne Geometrie
wuͤrden wir nicht einmal die Natur des Sehens kennen,
und nach dieſem Sinn in allen Faͤllen unrichtig urtheilen,
in denen wir ihn nicht richtig zu gebrauchen, aus der An-
fuͤhrung und Uebung erlernet haben. Der Jaͤger ur-
theilet auf der See, und der Schiffer auf dem Lande ſehr
ſchlecht uͤber die Entfernungen nach dem Augenmaaß.
Die raiſonnirende Vernunft hat auch oft die Mittel
an die Hand gegeben, die Pruͤfung des Gemeinverſtan-
des zu erleichtern. Sie kann auch ſchneller die Urtheile
des letztern berichtigen, als er ſelbſt durch die Verglei-
chung der Erfahrungen zu thun im Stande iſt. Herr
Beattie giebt ein ſchoͤnes Beyſpiel, wie der Menſchen-
verſtand ſich ſelbſt helfe, das aber zugleich auch lehret,
wie wichtig die Huͤlfe ſey, die von der Vernunft kommt.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/642>, abgerufen am 22.12.2024.
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