Eilfter Versuch. Ueber die Grundkraft der menschlichen Seele und den Charakter der Menschheit.
I. Ob wir eine Vorstellung von der Grundkraft der menschlichen Seele haben können, und welche?
1) Was eine solche Grundkraft seyn soll? 2) Jst eine Vorstellung von ihr möglich? 3) Jst das Gefühl die Grundkraft der Seele?
1.
Nicht Hypothesen, sondern Beobachtungen geben uns von der Seele, sie sey nun sonsten was sie wolle, ein immaterielles Wesen, oder das Gehirn, oder das beseelte Gehirn, oder welches Wort hier vielleicht das beßte ist, weil es am wenigsten saget, die Entelechia des Menschen, diesen Begrif. Sie ist ein Wesen, welches mittelst gewisser Werkzeuge in dem Körper von andern Dingen verändert wird, fühlet, dann selbstthätig etwas in sich und außer sich hervorbringet, und von dem, was sie leidet und thut, Spuren in sich auf- behält, die sie hervorziehet, und bearbeitet. Sie ist immer dasselbige Wesen, sie mag fühlen, vorstellen, den- ken, bewegen, oder wollen; und wenn wir ihr nach der Verschiedenheit dieser Aeußerungen verschiedene Vermö- gen zuschreiben, so heißt dieß nur so viel; es kann das- selbige Wesen bald an der Einen bald an der andern Sei- te sich äußern, je nachdem seine Kraft eine andere Rich-
tung
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
Eilfter Verſuch. Ueber die Grundkraft der menſchlichen Seele und den Charakter der Menſchheit.
I. Ob wir eine Vorſtellung von der Grundkraft der menſchlichen Seele haben koͤnnen, und welche?
1) Was eine ſolche Grundkraft ſeyn ſoll? 2) Jſt eine Vorſtellung von ihr moͤglich? 3) Jſt das Gefuͤhl die Grundkraft der Seele?
1.
Nicht Hypotheſen, ſondern Beobachtungen geben uns von der Seele, ſie ſey nun ſonſten was ſie wolle, ein immaterielles Weſen, oder das Gehirn, oder das beſeelte Gehirn, oder welches Wort hier vielleicht das beßte iſt, weil es am wenigſten ſaget, die Entelechia des Menſchen, dieſen Begrif. Sie iſt ein Weſen, welches mittelſt gewiſſer Werkzeuge in dem Koͤrper von andern Dingen veraͤndert wird, fuͤhlet, dann ſelbſtthaͤtig etwas in ſich und außer ſich hervorbringet, und von dem, was ſie leidet und thut, Spuren in ſich auf- behaͤlt, die ſie hervorziehet, und bearbeitet. Sie iſt immer daſſelbige Weſen, ſie mag fuͤhlen, vorſtellen, den- ken, bewegen, oder wollen; und wenn wir ihr nach der Verſchiedenheit dieſer Aeußerungen verſchiedene Vermoͤ- gen zuſchreiben, ſo heißt dieß nur ſo viel; es kann daſ- ſelbige Weſen bald an der Einen bald an der andern Sei- te ſich aͤußern, je nachdem ſeine Kraft eine andere Rich-
tung
<TEI><text><body><pbfacs="#f0790"n="730"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XI.</hi> Verſuch. Ueber die Grundkraft</hi></fw><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Eilfter Verſuch</hi>.<lb/>
Ueber die Grundkraft der menſchlichen Seele<lb/>
und den Charakter der Menſchheit.</hi></head><lb/><divn="2"><head><hirendition="#aq">I.</hi><lb/>
Ob wir eine Vorſtellung von der Grundkraft<lb/>
der menſchlichen Seele haben koͤnnen,<lb/>
und welche?</head><lb/><argument><p><list><item>1) <hirendition="#fr">Was eine ſolche Grundkraft ſeyn ſoll?</hi></item><lb/><item>2) <hirendition="#fr">Jſt eine Vorſtellung von ihr moͤglich?</hi></item><lb/><item>3) <hirendition="#fr">Jſt das Gefuͤhl die Grundkraft der<lb/>
Seele?</hi></item></list></p></argument><lb/><divn="3"><head>1.</head><lb/><p><hirendition="#in">N</hi>icht Hypotheſen, ſondern Beobachtungen geben<lb/>
uns von der <hirendition="#fr">Seele,</hi>ſie ſey nun ſonſten was ſie<lb/>
wolle, ein immaterielles Weſen, oder das <hirendition="#fr">Gehirn,</hi><lb/>
oder das <hirendition="#fr">beſeelte Gehirn,</hi> oder welches Wort hier<lb/>
vielleicht das beßte iſt, weil es am wenigſten ſaget, die<lb/><hirendition="#fr">Entelechia</hi> des Menſchen, dieſen Begrif. Sie iſt<lb/>
ein Weſen, welches mittelſt gewiſſer Werkzeuge in dem<lb/>
Koͤrper von andern Dingen veraͤndert wird, fuͤhlet, dann<lb/>ſelbſtthaͤtig etwas in ſich und außer ſich hervorbringet,<lb/>
und von dem, was ſie leidet und thut, Spuren in ſich auf-<lb/>
behaͤlt, die ſie hervorziehet, und bearbeitet. Sie iſt<lb/>
immer daſſelbige Weſen, ſie mag fuͤhlen, vorſtellen, den-<lb/>
ken, bewegen, oder wollen; und wenn wir ihr nach der<lb/>
Verſchiedenheit dieſer Aeußerungen verſchiedene Vermoͤ-<lb/>
gen zuſchreiben, ſo heißt dieß nur ſo viel; es kann daſ-<lb/>ſelbige Weſen bald an der Einen bald an der andern Sei-<lb/>
te ſich aͤußern, je nachdem ſeine Kraft eine andere Rich-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">tung</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[730/0790]
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
Eilfter Verſuch.
Ueber die Grundkraft der menſchlichen Seele
und den Charakter der Menſchheit.
I.
Ob wir eine Vorſtellung von der Grundkraft
der menſchlichen Seele haben koͤnnen,
und welche?
1) Was eine ſolche Grundkraft ſeyn ſoll?
2) Jſt eine Vorſtellung von ihr moͤglich?
3) Jſt das Gefuͤhl die Grundkraft der
Seele?
1.
Nicht Hypotheſen, ſondern Beobachtungen geben
uns von der Seele, ſie ſey nun ſonſten was ſie
wolle, ein immaterielles Weſen, oder das Gehirn,
oder das beſeelte Gehirn, oder welches Wort hier
vielleicht das beßte iſt, weil es am wenigſten ſaget, die
Entelechia des Menſchen, dieſen Begrif. Sie iſt
ein Weſen, welches mittelſt gewiſſer Werkzeuge in dem
Koͤrper von andern Dingen veraͤndert wird, fuͤhlet, dann
ſelbſtthaͤtig etwas in ſich und außer ſich hervorbringet,
und von dem, was ſie leidet und thut, Spuren in ſich auf-
behaͤlt, die ſie hervorziehet, und bearbeitet. Sie iſt
immer daſſelbige Weſen, ſie mag fuͤhlen, vorſtellen, den-
ken, bewegen, oder wollen; und wenn wir ihr nach der
Verſchiedenheit dieſer Aeußerungen verſchiedene Vermoͤ-
gen zuſchreiben, ſo heißt dieß nur ſo viel; es kann daſ-
ſelbige Weſen bald an der Einen bald an der andern Sei-
te ſich aͤußern, je nachdem ſeine Kraft eine andere Rich-
tung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 730. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/790>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.