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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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"gefunden werden, die ohne Unterricht und ohne Bey-
"spiele vor sich zu haben, so wohl an Witz und Verstan-
"deskräften, als an Geisteserhabenheit, und Vollkom-
"menheit des Herzens, sich selbst ausbilden, und vor
"den übrigen größern Haufen hervorheben." Die Bey-
spiele davon unter den gefitteten Völkern finden sich in
der Geschichte der Weltbegebenheiten, der Künste und
Wissenschaften, und es ist bis zum Sprichwort bekannt,
daß es allenthalben gute und schlechte, kluge und einfäl-
tige Menschen giebt, und daß die Zahl der letztern allent-
halben die stärkste sey. Beyspiele unter den barbarischen
und wilden Völkern, auch unter solchen, welche entwe-
der fast völlig isolirt sind oder doch nur mit Nachbarn in
Verbindung stehen, die nichts besser sind, als sie selbst,
kann man in der allgemeinen Historie der Reisen,
in großer Menge antreffen. *) Je mehr man mit den
Völkern auf der Erde bekannt wird, desto vollständiger
wird die Jnduktion, und in der That ist sie es schon fast
völlig, die die Allgemeinheit dieses Satzes bestätiget.
Zu meiner gegenwärtigen Absicht ist es genug, wenn er
nur von vielen Völkern und vielen Ländern richtig ist, wie
er es unläugbar ist.

Diese Beobachtung bestimmet die Vorstellung, die
wir uns von dem auf der Welt verbreiteten und sich selbst
überlassenen Menschengeschlecht zu machen haben. Nicht
alle Jndividuen sind als trieblose, leidentliche, träge Dumm-
köpfe von Natur anzusehen. Hie und da ist eine Seele
von regern Trieben darunter. Jm Durchschnitt ist der
Mensch mehr ein nachahmendes als selbst erfindendes
Thier; aber es giebt doch hie oder da Einzelne, welche
Naturkraft zu dem letztern befitzen, und bey denen die
Anlage zur Vernunft, und ihre Tochter, die Sprachfähig-
keit, stärker treiben, als bey dem übrigen größern Haufen.

Es
*) Einige der auff allendesten Beyspiele solcher sich selbst bil-
denden Genies unter Barbaren sehe man in d. 2ten B.
d. Allg. Hist. der Reisen. S. 319. 391. 437. 443.

Anhang
„gefunden werden, die ohne Unterricht und ohne Bey-
„ſpiele vor ſich zu haben, ſo wohl an Witz und Verſtan-
„deskraͤften, als an Geiſteserhabenheit, und Vollkom-
„menheit des Herzens, ſich ſelbſt ausbilden, und vor
„den uͤbrigen groͤßern Haufen hervorheben.“ Die Bey-
ſpiele davon unter den gefitteten Voͤlkern finden ſich in
der Geſchichte der Weltbegebenheiten, der Kuͤnſte und
Wiſſenſchaften, und es iſt bis zum Sprichwort bekannt,
daß es allenthalben gute und ſchlechte, kluge und einfaͤl-
tige Menſchen giebt, und daß die Zahl der letztern allent-
halben die ſtaͤrkſte ſey. Beyſpiele unter den barbariſchen
und wilden Voͤlkern, auch unter ſolchen, welche entwe-
der faſt voͤllig iſolirt ſind oder doch nur mit Nachbarn in
Verbindung ſtehen, die nichts beſſer ſind, als ſie ſelbſt,
kann man in der allgemeinen Hiſtorie der Reiſen,
in großer Menge antreffen. *) Je mehr man mit den
Voͤlkern auf der Erde bekannt wird, deſto vollſtaͤndiger
wird die Jnduktion, und in der That iſt ſie es ſchon faſt
voͤllig, die die Allgemeinheit dieſes Satzes beſtaͤtiget.
Zu meiner gegenwaͤrtigen Abſicht iſt es genug, wenn er
nur von vielen Voͤlkern und vielen Laͤndern richtig iſt, wie
er es unlaͤugbar iſt.

Dieſe Beobachtung beſtimmet die Vorſtellung, die
wir uns von dem auf der Welt verbreiteten und ſich ſelbſt
uͤberlaſſenen Menſchengeſchlecht zu machen haben. Nicht
alle Jndividuen ſind als triebloſe, leidentliche, traͤge Dumm-
koͤpfe von Natur anzuſehen. Hie und da iſt eine Seele
von regern Trieben darunter. Jm Durchſchnitt iſt der
Menſch mehr ein nachahmendes als ſelbſt erfindendes
Thier; aber es giebt doch hie oder da Einzelne, welche
Naturkraft zu dem letztern befitzen, und bey denen die
Anlage zur Vernunft, und ihre Tochter, die Sprachfaͤhig-
keit, ſtaͤrker treiben, als bey dem uͤbrigen groͤßern Haufen.

Es
*) Einige der auff allendeſten Beyſpiele ſolcher ſich ſelbſt bil-
denden Genies unter Barbaren ſehe man in d. 2ten B.
d. Allg. Hiſt. der Reiſen. S. 319. 391. 437. 443.
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[780/0840] Anhang „gefunden werden, die ohne Unterricht und ohne Bey- „ſpiele vor ſich zu haben, ſo wohl an Witz und Verſtan- „deskraͤften, als an Geiſteserhabenheit, und Vollkom- „menheit des Herzens, ſich ſelbſt ausbilden, und vor „den uͤbrigen groͤßern Haufen hervorheben.“ Die Bey- ſpiele davon unter den gefitteten Voͤlkern finden ſich in der Geſchichte der Weltbegebenheiten, der Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, und es iſt bis zum Sprichwort bekannt, daß es allenthalben gute und ſchlechte, kluge und einfaͤl- tige Menſchen giebt, und daß die Zahl der letztern allent- halben die ſtaͤrkſte ſey. Beyſpiele unter den barbariſchen und wilden Voͤlkern, auch unter ſolchen, welche entwe- der faſt voͤllig iſolirt ſind oder doch nur mit Nachbarn in Verbindung ſtehen, die nichts beſſer ſind, als ſie ſelbſt, kann man in der allgemeinen Hiſtorie der Reiſen, in großer Menge antreffen. *) Je mehr man mit den Voͤlkern auf der Erde bekannt wird, deſto vollſtaͤndiger wird die Jnduktion, und in der That iſt ſie es ſchon faſt voͤllig, die die Allgemeinheit dieſes Satzes beſtaͤtiget. Zu meiner gegenwaͤrtigen Abſicht iſt es genug, wenn er nur von vielen Voͤlkern und vielen Laͤndern richtig iſt, wie er es unlaͤugbar iſt. Dieſe Beobachtung beſtimmet die Vorſtellung, die wir uns von dem auf der Welt verbreiteten und ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Menſchengeſchlecht zu machen haben. Nicht alle Jndividuen ſind als triebloſe, leidentliche, traͤge Dumm- koͤpfe von Natur anzuſehen. Hie und da iſt eine Seele von regern Trieben darunter. Jm Durchſchnitt iſt der Menſch mehr ein nachahmendes als ſelbſt erfindendes Thier; aber es giebt doch hie oder da Einzelne, welche Naturkraft zu dem letztern befitzen, und bey denen die Anlage zur Vernunft, und ihre Tochter, die Sprachfaͤhig- keit, ſtaͤrker treiben, als bey dem uͤbrigen groͤßern Haufen. Es *) Einige der auff allendeſten Beyſpiele ſolcher ſich ſelbſt bil- denden Genies unter Barbaren ſehe man in d. 2ten B. d. Allg. Hiſt. der Reiſen. S. 319. 391. 437. 443.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 780. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/840>, abgerufen am 22.12.2024.