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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
kann die Bemerkung einiger andrer Umstände den Un-
terschied zwischen der ersten Empfindung und der
Nachempfindung außer Zweifel setzen.

Bey dem Sehen ist es entschieden, daß der Ein-
druck von dem Gegenstande selbst seine Zeit haben muß,
ehe er helle und stark genug wird, um gewahrgenom-
men zu werden. Die Kugel, die aus einer Büchse ge-
schossen wird, beweget sich vor unsern Augen vorbey,
und wird nicht gesehen, weil das Licht, das von ihr ins
Auge kommt, nicht stark genug ist, eine bemerkbare
Nachempfindung hervorzubringen. Aus derselbigen Ur-
sache sehen wir die von einander abstehende Spitzen eines
gemachten Sterns alsdenn nicht, wenn der Stern schnell
herumgedrehet wird, und allemal ist der Schein, den
ein schnell herumgedreheter Körper verursachet, nur ein
matter Schimmer, wenn es nicht ein für sich selbst leuch-
tender Körper ist. Jeder Punkt in dem Umfang des
Raums, durch den die äußersten Enden des Körpers
geschwinde herumbeweget werden, giebt einen Schein;
aber weil der Körper sich nicht lange genug in einem je-
den Punkte des Raums aufhält, um lebhaft daselbst
gesehen werden zu können; so giebt er in jedem dieser
Punkte auch nur einen schwachen Schein von sich. Da-
hero kann auch die schnelleste Vorstellungskraft einen Ge-
genstand nicht mit Einem und dem ersten Blick schon
fassen; sondern es wird eine Zeit dazu erfordert, und
eine Wiederholung der ersten Eindrücke, wenn die nach-
bleibenden Züge bis zu einer gehörigen Tiefe eindringen,
und die nöthige Festigkeit erlangen sollen.

Hiezu kommt bey dem Sehen, daß der Eindruck
nicht allein nur nach und nach, sondern auch unterbro-
chen
hervorgebracht wird, so, daß zwischen den kleinern
auf einander folgenden Eindrücken gewisse Momente der
Zeit vergehen, während welcher das, was in uns ist,
eine Nachempfindung ist, oder eine bestehende Folge

von

I. Verſuch. Ueber die Natur
kann die Bemerkung einiger andrer Umſtaͤnde den Un-
terſchied zwiſchen der erſten Empfindung und der
Nachempfindung außer Zweifel ſetzen.

Bey dem Sehen iſt es entſchieden, daß der Ein-
druck von dem Gegenſtande ſelbſt ſeine Zeit haben muß,
ehe er helle und ſtark genug wird, um gewahrgenom-
men zu werden. Die Kugel, die aus einer Buͤchſe ge-
ſchoſſen wird, beweget ſich vor unſern Augen vorbey,
und wird nicht geſehen, weil das Licht, das von ihr ins
Auge kommt, nicht ſtark genug iſt, eine bemerkbare
Nachempfindung hervorzubringen. Aus derſelbigen Ur-
ſache ſehen wir die von einander abſtehende Spitzen eines
gemachten Sterns alsdenn nicht, wenn der Stern ſchnell
herumgedrehet wird, und allemal iſt der Schein, den
ein ſchnell herumgedreheter Koͤrper verurſachet, nur ein
matter Schimmer, wenn es nicht ein fuͤr ſich ſelbſt leuch-
tender Koͤrper iſt. Jeder Punkt in dem Umfang des
Raums, durch den die aͤußerſten Enden des Koͤrpers
geſchwinde herumbeweget werden, giebt einen Schein;
aber weil der Koͤrper ſich nicht lange genug in einem je-
den Punkte des Raums aufhaͤlt, um lebhaft daſelbſt
geſehen werden zu koͤnnen; ſo giebt er in jedem dieſer
Punkte auch nur einen ſchwachen Schein von ſich. Da-
hero kann auch die ſchnelleſte Vorſtellungskraft einen Ge-
genſtand nicht mit Einem und dem erſten Blick ſchon
faſſen; ſondern es wird eine Zeit dazu erfordert, und
eine Wiederholung der erſten Eindruͤcke, wenn die nach-
bleibenden Zuͤge bis zu einer gehoͤrigen Tiefe eindringen,
und die noͤthige Feſtigkeit erlangen ſollen.

Hiezu kommt bey dem Sehen, daß der Eindruck
nicht allein nur nach und nach, ſondern auch unterbro-
chen
hervorgebracht wird, ſo, daß zwiſchen den kleinern
auf einander folgenden Eindruͤcken gewiſſe Momente der
Zeit vergehen, waͤhrend welcher das, was in uns iſt,
eine Nachempfindung iſt, oder eine beſtehende Folge

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[34/0094] I. Verſuch. Ueber die Natur kann die Bemerkung einiger andrer Umſtaͤnde den Un- terſchied zwiſchen der erſten Empfindung und der Nachempfindung außer Zweifel ſetzen. Bey dem Sehen iſt es entſchieden, daß der Ein- druck von dem Gegenſtande ſelbſt ſeine Zeit haben muß, ehe er helle und ſtark genug wird, um gewahrgenom- men zu werden. Die Kugel, die aus einer Buͤchſe ge- ſchoſſen wird, beweget ſich vor unſern Augen vorbey, und wird nicht geſehen, weil das Licht, das von ihr ins Auge kommt, nicht ſtark genug iſt, eine bemerkbare Nachempfindung hervorzubringen. Aus derſelbigen Ur- ſache ſehen wir die von einander abſtehende Spitzen eines gemachten Sterns alsdenn nicht, wenn der Stern ſchnell herumgedrehet wird, und allemal iſt der Schein, den ein ſchnell herumgedreheter Koͤrper verurſachet, nur ein matter Schimmer, wenn es nicht ein fuͤr ſich ſelbſt leuch- tender Koͤrper iſt. Jeder Punkt in dem Umfang des Raums, durch den die aͤußerſten Enden des Koͤrpers geſchwinde herumbeweget werden, giebt einen Schein; aber weil der Koͤrper ſich nicht lange genug in einem je- den Punkte des Raums aufhaͤlt, um lebhaft daſelbſt geſehen werden zu koͤnnen; ſo giebt er in jedem dieſer Punkte auch nur einen ſchwachen Schein von ſich. Da- hero kann auch die ſchnelleſte Vorſtellungskraft einen Ge- genſtand nicht mit Einem und dem erſten Blick ſchon faſſen; ſondern es wird eine Zeit dazu erfordert, und eine Wiederholung der erſten Eindruͤcke, wenn die nach- bleibenden Zuͤge bis zu einer gehoͤrigen Tiefe eindringen, und die noͤthige Feſtigkeit erlangen ſollen. Hiezu kommt bey dem Sehen, daß der Eindruck nicht allein nur nach und nach, ſondern auch unterbro- chen hervorgebracht wird, ſo, daß zwiſchen den kleinern auf einander folgenden Eindruͤcken gewiſſe Momente der Zeit vergehen, waͤhrend welcher das, was in uns iſt, eine Nachempfindung iſt, oder eine beſtehende Folge von

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/94>, abgerufen am 22.12.2024.