den schon vorher erwähnten geschwächten Bildern, die uns nach dem Anschauen der Sonne noch eine Zeitlang vor Augen schweben, bemerket werden; denn diese ver- ändern ihre Gestalten. Viele andere Erfahrungen be- stätigen eben dasselbige.
Die Nachempfindung, die erste nemlich -- die folgende Veränderungen der Bilder bey Seite gese- tzet -- ist die Vorstellung, welche in der Empfindung er- zeuget wird. Und diese ist also wenigstens eben so sehr von der Empfindung selbst unterschieden, als die Nach- schwingungen in einer elastischen Saite von ihrer entste- henden Bewegung in dem ersten Augenblick sind, da sie der Wirksamkeit der äußern Ursache noch ausgesetzet ist. Jn dem Augenblick, da wir empfinden, leiden wir, und wirken zurück im Gefühl. Aber in der Nach- empfindung wird nichts mehr angenommen, und es wird auch nicht zurück gewirket, sondern nur unterhalten, was schon hervorgebracht ist. Und darum kann eben alsdenn die Seele desto freyer mit ihrer Ueberlegungs- kraft sich bey dem Bilde beschäftigen.
Es läßt sich hieraus begreifen, wie zuweilen der sinn- liche Eindruck, und auch das Gefühl desselben, oder die Empfindung völlig, stark, lebhaft, deutlich und scharf genug von andern unterschieden seyn können, ohne daß die in uns bestehende Nachempfindung es auch sey. Es kann die letztere verwirrt und matt seyn, wo die erste Empfindung es nicht ist. Sollte sich derglei- chen nicht auch wirklich bey den Kindern eräugnen? Hat nicht vielleicht ihr innerliches Gesichtsorgan noch zu we- nig Festigkeit, um Eindrücke, die es wie ein weicher Körper aufnimmt, auch die Zeit durch in sich zu erhal- ten, als es nöthig ist, um feste Empfindungsbilder zu er- langen? Mir ist dieses nicht unwahrscheinlich, und das, was den Erwachsenen zuweilen unter gewissen Umständen begegnet, bringt jene Muthmaßung fast zur Gewißheit.
Die
I. Verſuch. Ueber die Natur
den ſchon vorher erwaͤhnten geſchwaͤchten Bildern, die uns nach dem Anſchauen der Sonne noch eine Zeitlang vor Augen ſchweben, bemerket werden; denn dieſe ver- aͤndern ihre Geſtalten. Viele andere Erfahrungen be- ſtaͤtigen eben daſſelbige.
Die Nachempfindung, die erſte nemlich — die folgende Veraͤnderungen der Bilder bey Seite geſe- tzet — iſt die Vorſtellung, welche in der Empfindung er- zeuget wird. Und dieſe iſt alſo wenigſtens eben ſo ſehr von der Empfindung ſelbſt unterſchieden, als die Nach- ſchwingungen in einer elaſtiſchen Saite von ihrer entſte- henden Bewegung in dem erſten Augenblick ſind, da ſie der Wirkſamkeit der aͤußern Urſache noch ausgeſetzet iſt. Jn dem Augenblick, da wir empfinden, leiden wir, und wirken zuruͤck im Gefuͤhl. Aber in der Nach- empfindung wird nichts mehr angenommen, und es wird auch nicht zuruͤck gewirket, ſondern nur unterhalten, was ſchon hervorgebracht iſt. Und darum kann eben alsdenn die Seele deſto freyer mit ihrer Ueberlegungs- kraft ſich bey dem Bilde beſchaͤftigen.
Es laͤßt ſich hieraus begreifen, wie zuweilen der ſinn- liche Eindruck, und auch das Gefuͤhl deſſelben, oder die Empfindung voͤllig, ſtark, lebhaft, deutlich und ſcharf genug von andern unterſchieden ſeyn koͤnnen, ohne daß die in uns beſtehende Nachempfindung es auch ſey. Es kann die letztere verwirrt und matt ſeyn, wo die erſte Empfindung es nicht iſt. Sollte ſich derglei- chen nicht auch wirklich bey den Kindern eraͤugnen? Hat nicht vielleicht ihr innerliches Geſichtsorgan noch zu we- nig Feſtigkeit, um Eindruͤcke, die es wie ein weicher Koͤrper aufnimmt, auch die Zeit durch in ſich zu erhal- ten, als es noͤthig iſt, um feſte Empfindungsbilder zu er- langen? Mir iſt dieſes nicht unwahrſcheinlich, und das, was den Erwachſenen zuweilen unter gewiſſen Umſtaͤnden begegnet, bringt jene Muthmaßung faſt zur Gewißheit.
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I. Verſuch. Ueber die Natur
den ſchon vorher erwaͤhnten geſchwaͤchten Bildern, die
uns nach dem Anſchauen der Sonne noch eine Zeitlang
vor Augen ſchweben, bemerket werden; denn dieſe ver-
aͤndern ihre Geſtalten. Viele andere Erfahrungen be-
ſtaͤtigen eben daſſelbige.
Die Nachempfindung, die erſte nemlich — die
folgende Veraͤnderungen der Bilder bey Seite geſe-
tzet — iſt die Vorſtellung, welche in der Empfindung er-
zeuget wird. Und dieſe iſt alſo wenigſtens eben ſo ſehr von
der Empfindung ſelbſt unterſchieden, als die Nach-
ſchwingungen in einer elaſtiſchen Saite von ihrer entſte-
henden Bewegung in dem erſten Augenblick ſind, da ſie
der Wirkſamkeit der aͤußern Urſache noch ausgeſetzet iſt.
Jn dem Augenblick, da wir empfinden, leiden wir,
und wirken zuruͤck im Gefuͤhl. Aber in der Nach-
empfindung wird nichts mehr angenommen, und es
wird auch nicht zuruͤck gewirket, ſondern nur unterhalten,
was ſchon hervorgebracht iſt. Und darum kann eben
alsdenn die Seele deſto freyer mit ihrer Ueberlegungs-
kraft ſich bey dem Bilde beſchaͤftigen.
Es laͤßt ſich hieraus begreifen, wie zuweilen der ſinn-
liche Eindruck, und auch das Gefuͤhl deſſelben, oder
die Empfindung voͤllig, ſtark, lebhaft, deutlich und
ſcharf genug von andern unterſchieden ſeyn koͤnnen, ohne
daß die in uns beſtehende Nachempfindung es auch
ſey. Es kann die letztere verwirrt und matt ſeyn, wo
die erſte Empfindung es nicht iſt. Sollte ſich derglei-
chen nicht auch wirklich bey den Kindern eraͤugnen? Hat
nicht vielleicht ihr innerliches Geſichtsorgan noch zu we-
nig Feſtigkeit, um Eindruͤcke, die es wie ein weicher
Koͤrper aufnimmt, auch die Zeit durch in ſich zu erhal-
ten, als es noͤthig iſt, um feſte Empfindungsbilder zu er-
langen? Mir iſt dieſes nicht unwahrſcheinlich, und das,
was den Erwachſenen zuweilen unter gewiſſen Umſtaͤnden
begegnet, bringt jene Muthmaßung faſt zur Gewißheit.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/96>, abgerufen am 22.12.2024.
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