eine Hypothese, ist so viel außer Zweifel, daß die eine Art weniger, als die andere, eine außerordentliche und sich auszeichnende Thätigkeit unsers Jchs erfodere, sie mag nun von dem Gehirn, oder von dem Jch, oder von beiden zugleich abhangen. Wir unterscheiden die Stunden der Arbeit und des geschäfftigen Bestrebens des Geistes, im Vorstellen und im Nachdenken, von den Stunden der Ruhe und des Genusses. Jn jenen ist die Reproduktion der Vorstellungen mehr ein Werk von uns selbst; dagegen in den letztern die Phantasien sich von selbst darbieten, und uns eine leichte und ab- wechselnde Unterhaltung verschaffen. Jn jenen arbeitet die Seele, und die Organe verrichten ihre Dienste mit Munterkeit; die Vorstellungen sind lebhaft, und stel- len sich zu unserm Dienste dar, ohne doch sich länger zu verweilen als wir sie gebrauchen. Die Seele blei- bet dabey besinnlich, behält die Herrschaft über die Jdeen, und bringet auch das Organ, wenn sie will, wiederum in Ruhe. Dieß fühlen wir, so lange die Stärke und Lebhaftigkeit der Jdeen innerhalb einer ge- wissen Grenze bleibet, die der Geometer im Nachden- ken, und der Dichter in der Begeisterung, ja nicht zu überschreiten hat. Denn sobald die Vorstellungen so lebhaft werden, daß sie in der Seele den Meister spielen, so sind sie ungelenkbar, und verfolgen uns auch wider ihren Willen. Eine ähnliche Gränze findet sich gleich- falls auch auf der andern Seite in unsern Erholungen und vernünftigen Vergnügungen, die nicht in gänzli- cher Unthätigkeit bestehen. So lange wir innerhalb derselben sind, ist Besinnung und Beherrschung der Vor- stellungen da; aber weiter herunter entstehet der Traum und der Schlaf, in welchem die Seele, obgleich aus ei- nem andern Grunde, nämlich aus Mangel an innerer Selbstthätigkeit, eben so wenig sich und ihre Vorstel- lungen regieren kann.
Es
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
eine Hypotheſe, iſt ſo viel außer Zweifel, daß die eine Art weniger, als die andere, eine außerordentliche und ſich auszeichnende Thaͤtigkeit unſers Jchs erfodere, ſie mag nun von dem Gehirn, oder von dem Jch, oder von beiden zugleich abhangen. Wir unterſcheiden die Stunden der Arbeit und des geſchaͤfftigen Beſtrebens des Geiſtes, im Vorſtellen und im Nachdenken, von den Stunden der Ruhe und des Genuſſes. Jn jenen iſt die Reproduktion der Vorſtellungen mehr ein Werk von uns ſelbſt; dagegen in den letztern die Phantaſien ſich von ſelbſt darbieten, und uns eine leichte und ab- wechſelnde Unterhaltung verſchaffen. Jn jenen arbeitet die Seele, und die Organe verrichten ihre Dienſte mit Munterkeit; die Vorſtellungen ſind lebhaft, und ſtel- len ſich zu unſerm Dienſte dar, ohne doch ſich laͤnger zu verweilen als wir ſie gebrauchen. Die Seele blei- bet dabey beſinnlich, behaͤlt die Herrſchaft uͤber die Jdeen, und bringet auch das Organ, wenn ſie will, wiederum in Ruhe. Dieß fuͤhlen wir, ſo lange die Staͤrke und Lebhaftigkeit der Jdeen innerhalb einer ge- wiſſen Grenze bleibet, die der Geometer im Nachden- ken, und der Dichter in der Begeiſterung, ja nicht zu uͤberſchreiten hat. Denn ſobald die Vorſtellungen ſo lebhaft werden, daß ſie in der Seele den Meiſter ſpielen, ſo ſind ſie ungelenkbar, und verfolgen uns auch wider ihren Willen. Eine aͤhnliche Graͤnze findet ſich gleich- falls auch auf der andern Seite in unſern Erholungen und vernuͤnftigen Vergnuͤgungen, die nicht in gaͤnzli- cher Unthaͤtigkeit beſtehen. So lange wir innerhalb derſelben ſind, iſt Beſinnung und Beherrſchung der Vor- ſtellungen da; aber weiter herunter entſtehet der Traum und der Schlaf, in welchem die Seele, obgleich aus ei- nem andern Grunde, naͤmlich aus Mangel an innerer Selbſtthaͤtigkeit, eben ſo wenig ſich und ihre Vorſtel- lungen regieren kann.
Es
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0264"n="234"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIII.</hi> Verſuch. Ueber das Seelenweſen</hi></fw><lb/>
eine Hypotheſe, iſt ſo viel außer Zweifel, daß die eine<lb/>
Art <hirendition="#fr">weniger,</hi> als die andere, eine außerordentliche und<lb/>ſich auszeichnende Thaͤtigkeit unſers Jchs erfodere, ſie<lb/>
mag nun von dem Gehirn, oder von dem Jch, oder<lb/>
von beiden zugleich abhangen. Wir unterſcheiden die<lb/>
Stunden der Arbeit und des geſchaͤfftigen Beſtrebens<lb/>
des Geiſtes, im Vorſtellen und im Nachdenken, von<lb/>
den Stunden der Ruhe und des Genuſſes. Jn jenen<lb/>
iſt die Reproduktion der Vorſtellungen mehr ein Werk<lb/>
von uns ſelbſt; dagegen in den letztern die Phantaſien<lb/>ſich von ſelbſt darbieten, und uns eine leichte und ab-<lb/>
wechſelnde Unterhaltung verſchaffen. Jn jenen arbeitet<lb/>
die Seele, und die Organe verrichten ihre Dienſte mit<lb/>
Munterkeit; die Vorſtellungen ſind lebhaft, und ſtel-<lb/>
len ſich zu unſerm Dienſte dar, ohne doch ſich laͤnger<lb/>
zu verweilen als wir ſie gebrauchen. Die Seele blei-<lb/>
bet dabey beſinnlich, behaͤlt die Herrſchaft uͤber die<lb/>
Jdeen, und bringet auch das Organ, wenn ſie will,<lb/>
wiederum in Ruhe. Dieß fuͤhlen wir, ſo lange die<lb/>
Staͤrke und Lebhaftigkeit der Jdeen innerhalb einer ge-<lb/>
wiſſen Grenze bleibet, die der Geometer im Nachden-<lb/>
ken, und der Dichter in der Begeiſterung, ja nicht zu<lb/>
uͤberſchreiten hat. Denn ſobald die Vorſtellungen ſo<lb/>
lebhaft werden, daß ſie in der Seele den Meiſter ſpielen,<lb/>ſo ſind ſie ungelenkbar, und verfolgen uns auch wider<lb/>
ihren Willen. Eine aͤhnliche Graͤnze findet ſich gleich-<lb/>
falls auch auf der andern Seite in unſern Erholungen<lb/>
und vernuͤnftigen Vergnuͤgungen, die nicht in gaͤnzli-<lb/>
cher Unthaͤtigkeit beſtehen. So lange wir innerhalb<lb/>
derſelben ſind, iſt Beſinnung und Beherrſchung der Vor-<lb/>ſtellungen da; aber weiter herunter entſtehet der Traum<lb/>
und der Schlaf, in welchem die Seele, obgleich aus ei-<lb/>
nem andern Grunde, naͤmlich aus Mangel an innerer<lb/>
Selbſtthaͤtigkeit, eben ſo wenig ſich und ihre Vorſtel-<lb/>
lungen regieren kann.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Es</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[234/0264]
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
eine Hypotheſe, iſt ſo viel außer Zweifel, daß die eine
Art weniger, als die andere, eine außerordentliche und
ſich auszeichnende Thaͤtigkeit unſers Jchs erfodere, ſie
mag nun von dem Gehirn, oder von dem Jch, oder
von beiden zugleich abhangen. Wir unterſcheiden die
Stunden der Arbeit und des geſchaͤfftigen Beſtrebens
des Geiſtes, im Vorſtellen und im Nachdenken, von
den Stunden der Ruhe und des Genuſſes. Jn jenen
iſt die Reproduktion der Vorſtellungen mehr ein Werk
von uns ſelbſt; dagegen in den letztern die Phantaſien
ſich von ſelbſt darbieten, und uns eine leichte und ab-
wechſelnde Unterhaltung verſchaffen. Jn jenen arbeitet
die Seele, und die Organe verrichten ihre Dienſte mit
Munterkeit; die Vorſtellungen ſind lebhaft, und ſtel-
len ſich zu unſerm Dienſte dar, ohne doch ſich laͤnger
zu verweilen als wir ſie gebrauchen. Die Seele blei-
bet dabey beſinnlich, behaͤlt die Herrſchaft uͤber die
Jdeen, und bringet auch das Organ, wenn ſie will,
wiederum in Ruhe. Dieß fuͤhlen wir, ſo lange die
Staͤrke und Lebhaftigkeit der Jdeen innerhalb einer ge-
wiſſen Grenze bleibet, die der Geometer im Nachden-
ken, und der Dichter in der Begeiſterung, ja nicht zu
uͤberſchreiten hat. Denn ſobald die Vorſtellungen ſo
lebhaft werden, daß ſie in der Seele den Meiſter ſpielen,
ſo ſind ſie ungelenkbar, und verfolgen uns auch wider
ihren Willen. Eine aͤhnliche Graͤnze findet ſich gleich-
falls auch auf der andern Seite in unſern Erholungen
und vernuͤnftigen Vergnuͤgungen, die nicht in gaͤnzli-
cher Unthaͤtigkeit beſtehen. So lange wir innerhalb
derſelben ſind, iſt Beſinnung und Beherrſchung der Vor-
ſtellungen da; aber weiter herunter entſtehet der Traum
und der Schlaf, in welchem die Seele, obgleich aus ei-
nem andern Grunde, naͤmlich aus Mangel an innerer
Selbſtthaͤtigkeit, eben ſo wenig ſich und ihre Vorſtel-
lungen regieren kann.
Es
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/264>, abgerufen am 15.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.