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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.

Es verdienet hiebey eine besondere Bemerkung,
daß es ein großes Bedürfniß unsrer Seele sey, daß sie
ununterbrochen fort mit solchen unwillkürlichen und lei-
dentlichen Vorstellungen, wie mit Empfindungen, er-
füllet sey. Fehlet es uns auf dem Boden unserer See-
le an Jdeen und Gedanken, die sich uns darstellen,
und sich in uns erhalten, ohne daß es der Seele eine be-
merkbare Aeußerung koste sich solche zu verschaffen, so
ist die Munterkeit und Gesundheit und, fast kann man
sagen, das Leben des Geistes dahin. Wenn das ge-
schwächte Gehirn uns hierinn seine Dienste versagt und
nicht immerfort Bilder zur Beschäfftigung uns vor-
hält: -- auf einen Augenblick nämlich einmal ange-
nommen, daß das Gehirn selbst seine Schwingungen er-
neuere: -- so entstehet ein unglückseliger Zustand in
dem Menschen, wovon ich nicht wünsche, daß meine Leser
anschaulich aus der Erfahrung ihn kennen mögen. Näm-
lich es entstehet so ein Lebensverdruß, als das wesent-
liche Stück in dem Spleen der Engländer seyn soll.
Diese Krankheit hat, wie man meint, ihre erste Ursa-
che zwar im Unterleibe, aber sie verbreitet sich ins Ge-
hirn, und machet das Seelenorgan unfähig, die uns
unterhaltenden Vorstellungen herzugeben, welche die
Gegenstände und die Nahrung für die Wirksamkeit der
Seele und für ihr Leben sind. Alsdenn entsteht ein
schreckliches Leeres in uns, das die Seele durch ein
Bestreben Jdeen zu erwecken, oder auch durch Zer-
streuungen und neue Empfindungen, auszufüllen sucht;
aber so, daß sie zugleich bey diesen Bestrebungen ihre
Schwäche und Ohnmacht fühlet und muthlos wird. Die
Bilder erfolgen nicht, oder fallen sogleich wiederum
weg. Es ist sehr natürlich, daß daraus ein Unmuth
entspringe, welcher mehr, als ein Verdruß über
einzelne unangenehme Zufälle, mehr als ein Gefühl
von Schmerzen und Widerwärtigkeit, welches doch die

Seele,
im Menſchen.

Es verdienet hiebey eine beſondere Bemerkung,
daß es ein großes Beduͤrfniß unſrer Seele ſey, daß ſie
ununterbrochen fort mit ſolchen unwillkuͤrlichen und lei-
dentlichen Vorſtellungen, wie mit Empfindungen, er-
fuͤllet ſey. Fehlet es uns auf dem Boden unſerer See-
le an Jdeen und Gedanken, die ſich uns darſtellen,
und ſich in uns erhalten, ohne daß es der Seele eine be-
merkbare Aeußerung koſte ſich ſolche zu verſchaffen, ſo
iſt die Munterkeit und Geſundheit und, faſt kann man
ſagen, das Leben des Geiſtes dahin. Wenn das ge-
ſchwaͤchte Gehirn uns hierinn ſeine Dienſte verſagt und
nicht immerfort Bilder zur Beſchaͤfftigung uns vor-
haͤlt: — auf einen Augenblick naͤmlich einmal ange-
nommen, daß das Gehirn ſelbſt ſeine Schwingungen er-
neuere: — ſo entſtehet ein ungluͤckſeliger Zuſtand in
dem Menſchen, wovon ich nicht wuͤnſche, daß meine Leſer
anſchaulich aus der Erfahrung ihn kennen moͤgen. Naͤm-
lich es entſtehet ſo ein Lebensverdruß, als das weſent-
liche Stuͤck in dem Spleen der Englaͤnder ſeyn ſoll.
Dieſe Krankheit hat, wie man meint, ihre erſte Urſa-
che zwar im Unterleibe, aber ſie verbreitet ſich ins Ge-
hirn, und machet das Seelenorgan unfaͤhig, die uns
unterhaltenden Vorſtellungen herzugeben, welche die
Gegenſtaͤnde und die Nahrung fuͤr die Wirkſamkeit der
Seele und fuͤr ihr Leben ſind. Alsdenn entſteht ein
ſchreckliches Leeres in uns, das die Seele durch ein
Beſtreben Jdeen zu erwecken, oder auch durch Zer-
ſtreuungen und neue Empfindungen, auszufuͤllen ſucht;
aber ſo, daß ſie zugleich bey dieſen Beſtrebungen ihre
Schwaͤche und Ohnmacht fuͤhlet und muthlos wird. Die
Bilder erfolgen nicht, oder fallen ſogleich wiederum
weg. Es iſt ſehr natuͤrlich, daß daraus ein Unmuth
entſpringe, welcher mehr, als ein Verdruß uͤber
einzelne unangenehme Zufaͤlle, mehr als ein Gefuͤhl
von Schmerzen und Widerwaͤrtigkeit, welches doch die

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[235/0265] im Menſchen. Es verdienet hiebey eine beſondere Bemerkung, daß es ein großes Beduͤrfniß unſrer Seele ſey, daß ſie ununterbrochen fort mit ſolchen unwillkuͤrlichen und lei- dentlichen Vorſtellungen, wie mit Empfindungen, er- fuͤllet ſey. Fehlet es uns auf dem Boden unſerer See- le an Jdeen und Gedanken, die ſich uns darſtellen, und ſich in uns erhalten, ohne daß es der Seele eine be- merkbare Aeußerung koſte ſich ſolche zu verſchaffen, ſo iſt die Munterkeit und Geſundheit und, faſt kann man ſagen, das Leben des Geiſtes dahin. Wenn das ge- ſchwaͤchte Gehirn uns hierinn ſeine Dienſte verſagt und nicht immerfort Bilder zur Beſchaͤfftigung uns vor- haͤlt: — auf einen Augenblick naͤmlich einmal ange- nommen, daß das Gehirn ſelbſt ſeine Schwingungen er- neuere: — ſo entſtehet ein ungluͤckſeliger Zuſtand in dem Menſchen, wovon ich nicht wuͤnſche, daß meine Leſer anſchaulich aus der Erfahrung ihn kennen moͤgen. Naͤm- lich es entſtehet ſo ein Lebensverdruß, als das weſent- liche Stuͤck in dem Spleen der Englaͤnder ſeyn ſoll. Dieſe Krankheit hat, wie man meint, ihre erſte Urſa- che zwar im Unterleibe, aber ſie verbreitet ſich ins Ge- hirn, und machet das Seelenorgan unfaͤhig, die uns unterhaltenden Vorſtellungen herzugeben, welche die Gegenſtaͤnde und die Nahrung fuͤr die Wirkſamkeit der Seele und fuͤr ihr Leben ſind. Alsdenn entſteht ein ſchreckliches Leeres in uns, das die Seele durch ein Beſtreben Jdeen zu erwecken, oder auch durch Zer- ſtreuungen und neue Empfindungen, auszufuͤllen ſucht; aber ſo, daß ſie zugleich bey dieſen Beſtrebungen ihre Schwaͤche und Ohnmacht fuͤhlet und muthlos wird. Die Bilder erfolgen nicht, oder fallen ſogleich wiederum weg. Es iſt ſehr natuͤrlich, daß daraus ein Unmuth entſpringe, welcher mehr, als ein Verdruß uͤber einzelne unangenehme Zufaͤlle, mehr als ein Gefuͤhl von Schmerzen und Widerwaͤrtigkeit, welches doch die Seele,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/265>, abgerufen am 24.11.2024.