Seele, so lange es nur nicht ganz betäubend ist, in Thä- tigkeit setzet und sie zugleich mit dem begleitenden Ge- fühl ihrer Stärke aufrichtet, sondern ein Ueberdruß des Lebens selbst ist. Denn das Gefühl der Exi- stenz wird widrig, und also Vorstellen und Denken ei- ne Last, die, wenn sie anhält, die Geisteskraft zu Bo- den drücket.
5.
Aus diesem Unterschiede zwischen den reproducirten Vorstellungen kann eine unsrer gegenwärtigen Hypothese ungemein nachtheilige Folgerung gezogen werden. Da es in uns eine ununterbrochene Reihe unzähliger Vor- stellungen giebt, die nicht von äußern Eindrücken ent- stehen, auch keine innern Empfindungen sind, weder gewöhnliche noch ungewöhnliche, weder ächte noch un- ächte; soll man annehmen, daß unser Jch selbst sie her- vorbringe: so kann man aus eben diesen Gründen an- nehmen, daß es auch die Eindrücke von den Farben hervorbringet, wenn wir sehen. Denn das Jch ist, dem Gefühl nach, bey jenen Vorstellungen nicht mehr selbst- thätig, als bey seinen leidentlichen Jmpressionen, wenn wir empfinden.
Und kann nicht offenbar der nämliche Schluß bey der großen Menge von Jdeen angebracht werden, die uns nicht nur ohne unsern Willen, sondern auch ge- gen unsern Willen und gegen unser Bestreben sich auf- drängen, wieder zurückkehren und uns verfolgen, wie die Schmerzen aus dem Körper? Jn der That finde ich keinen Unterschied in dem Gefühl meiner Wirksamkeit bey jenen und bey diesen. Dennoch soll das Jch es seyn, was die Vorstellungen in sich selbst erweckt, und alsdann erst die harmonischen Gehirnsveränderungen hervorbringet. Wenn das Gehirn seine materiellen Jdeen in sich selbst und aus sich hervorziehet, und der
Seele
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Seele, ſo lange es nur nicht ganz betaͤubend iſt, in Thaͤ- tigkeit ſetzet und ſie zugleich mit dem begleitenden Ge- fuͤhl ihrer Staͤrke aufrichtet, ſondern ein Ueberdruß des Lebens ſelbſt iſt. Denn das Gefuͤhl der Exi- ſtenz wird widrig, und alſo Vorſtellen und Denken ei- ne Laſt, die, wenn ſie anhaͤlt, die Geiſteskraft zu Bo- den druͤcket.
5.
Aus dieſem Unterſchiede zwiſchen den reproducirten Vorſtellungen kann eine unſrer gegenwaͤrtigen Hypotheſe ungemein nachtheilige Folgerung gezogen werden. Da es in uns eine ununterbrochene Reihe unzaͤhliger Vor- ſtellungen giebt, die nicht von aͤußern Eindruͤcken ent- ſtehen, auch keine innern Empfindungen ſind, weder gewoͤhnliche noch ungewoͤhnliche, weder aͤchte noch un- aͤchte; ſoll man annehmen, daß unſer Jch ſelbſt ſie her- vorbringe: ſo kann man aus eben dieſen Gruͤnden an- nehmen, daß es auch die Eindruͤcke von den Farben hervorbringet, wenn wir ſehen. Denn das Jch iſt, dem Gefuͤhl nach, bey jenen Vorſtellungen nicht mehr ſelbſt- thaͤtig, als bey ſeinen leidentlichen Jmpreſſionen, wenn wir empfinden.
Und kann nicht offenbar der naͤmliche Schluß bey der großen Menge von Jdeen angebracht werden, die uns nicht nur ohne unſern Willen, ſondern auch ge- gen unſern Willen und gegen unſer Beſtreben ſich auf- draͤngen, wieder zuruͤckkehren und uns verfolgen, wie die Schmerzen aus dem Koͤrper? Jn der That finde ich keinen Unterſchied in dem Gefuͤhl meiner Wirkſamkeit bey jenen und bey dieſen. Dennoch ſoll das Jch es ſeyn, was die Vorſtellungen in ſich ſelbſt erweckt, und alsdann erſt die harmoniſchen Gehirnsveraͤnderungen hervorbringet. Wenn das Gehirn ſeine materiellen Jdeen in ſich ſelbſt und aus ſich hervorziehet, und der
Seele
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Seele, ſo lange es nur nicht ganz betaͤubend iſt, in Thaͤ-
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fuͤhl ihrer Staͤrke aufrichtet, ſondern ein Ueberdruß
des Lebens ſelbſt iſt. Denn das Gefuͤhl der Exi-
ſtenz wird widrig, und alſo Vorſtellen und Denken ei-
ne Laſt, die, wenn ſie anhaͤlt, die Geiſteskraft zu Bo-
den druͤcket.
5.
Aus dieſem Unterſchiede zwiſchen den reproducirten
Vorſtellungen kann eine unſrer gegenwaͤrtigen Hypotheſe
ungemein nachtheilige Folgerung gezogen werden. Da
es in uns eine ununterbrochene Reihe unzaͤhliger Vor-
ſtellungen giebt, die nicht von aͤußern Eindruͤcken ent-
ſtehen, auch keine innern Empfindungen ſind, weder
gewoͤhnliche noch ungewoͤhnliche, weder aͤchte noch un-
aͤchte; ſoll man annehmen, daß unſer Jch ſelbſt ſie her-
vorbringe: ſo kann man aus eben dieſen Gruͤnden an-
nehmen, daß es auch die Eindruͤcke von den Farben
hervorbringet, wenn wir ſehen. Denn das Jch iſt, dem
Gefuͤhl nach, bey jenen Vorſtellungen nicht mehr ſelbſt-
thaͤtig, als bey ſeinen leidentlichen Jmpreſſionen, wenn
wir empfinden.
Und kann nicht offenbar der naͤmliche Schluß bey
der großen Menge von Jdeen angebracht werden, die
uns nicht nur ohne unſern Willen, ſondern auch ge-
gen unſern Willen und gegen unſer Beſtreben ſich auf-
draͤngen, wieder zuruͤckkehren und uns verfolgen, wie die
Schmerzen aus dem Koͤrper? Jn der That finde ich
keinen Unterſchied in dem Gefuͤhl meiner Wirkſamkeit
bey jenen und bey dieſen. Dennoch ſoll das Jch es
ſeyn, was die Vorſtellungen in ſich ſelbſt erweckt, und
alsdann erſt die harmoniſchen Gehirnsveraͤnderungen
hervorbringet. Wenn das Gehirn ſeine materiellen
Jdeen in ſich ſelbſt und aus ſich hervorziehet, und der
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/266>, abgerufen am 24.11.2024.
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