Kraft, die einer andern nicht zukommen, wenn sie gleich sich nicht in Thätigkeiten äußern? Das läßt sich doch von menschlichen Vermögen überhaupt nicht sagen. So- krates und Cäsar, im Schlafe und in der Ohnmacht, wirken weniger als ein wachendes Kind. Aber sind des- wegen nicht in solchen schlafenden und in Ohnmacht lie- genden Menschen andere und mehrere Realitäten, als in einem schlafenden Kinde? Und ist, was bey jenen Weis- heit und wirksame Kraft genennet wird, während des thätigkeitslosen Zustandes, in ihnen nichts, was man nicht etwan einer Austerseele auch zuschreiben könnte? Wenn die Vermögen nichts sind, sobald als äußere Um- stände es unmöglich machen damit zu wirken, so müß- ten in dem Menschen, der aus einem tiefen Schlaf er- wachet, oder aus einer Ohnmacht zurückkommt, und auch bey den gewöhnlichen Abwechselungen im Wachen, Sprünge vorgehen; da er fast in einem Augenblick aus einem verstandlosen ein vernünftiger Mann, aus dem schwächsten der stärkste, und aus dem witzlosesten ein Genie wird. Es ist eine gar zu starke Erfahrung, daß es viele Zeit und Mühe kostet, auch Vermögen zu er- langen, die alsdenn, wenn sie unwirksam ruhen, nichts anders sind, als innere Beschaffenheiten der Seele, da- von wir keine andere Begriffe haben, als daß sie dadurch, wenn sie rege gemacht und gereizet wird, auf bestimmte Weise sich äußert. Dieß muß ein wahres Etwas seyn.
8.
Dieß wäre die Abnahme des Menschen, als Men- schen, in seinem gesammten Seelenwesen. Das innere thätige Princip bleibt, so lange der Mensch lebet, mit allen seinen Formen und Zusätzen, die es aufgenommen und unabhängig von dem, was es von außen haben muß um thätig zu seyn, behalten kann. Aber dennoch wird es in sich selbst ungeschmeidig, sich auf die vorige Art zu verändern, nämlich so, daß es diese Veränderun-
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und Entwickelung des Menſchen.
Kraft, die einer andern nicht zukommen, wenn ſie gleich ſich nicht in Thaͤtigkeiten aͤußern? Das laͤßt ſich doch von menſchlichen Vermoͤgen uͤberhaupt nicht ſagen. So- krates und Caͤſar, im Schlafe und in der Ohnmacht, wirken weniger als ein wachendes Kind. Aber ſind des- wegen nicht in ſolchen ſchlafenden und in Ohnmacht lie- genden Menſchen andere und mehrere Realitaͤten, als in einem ſchlafenden Kinde? Und iſt, was bey jenen Weis- heit und wirkſame Kraft genennet wird, waͤhrend des thaͤtigkeitsloſen Zuſtandes, in ihnen nichts, was man nicht etwan einer Auſterſeele auch zuſchreiben koͤnnte? Wenn die Vermoͤgen nichts ſind, ſobald als aͤußere Um- ſtaͤnde es unmoͤglich machen damit zu wirken, ſo muͤß- ten in dem Menſchen, der aus einem tiefen Schlaf er- wachet, oder aus einer Ohnmacht zuruͤckkommt, und auch bey den gewoͤhnlichen Abwechſelungen im Wachen, Spruͤnge vorgehen; da er faſt in einem Augenblick aus einem verſtandloſen ein vernuͤnftiger Mann, aus dem ſchwaͤchſten der ſtaͤrkſte, und aus dem witzloſeſten ein Genie wird. Es iſt eine gar zu ſtarke Erfahrung, daß es viele Zeit und Muͤhe koſtet, auch Vermoͤgen zu er- langen, die alsdenn, wenn ſie unwirkſam ruhen, nichts anders ſind, als innere Beſchaffenheiten der Seele, da- von wir keine andere Begriffe haben, als daß ſie dadurch, wenn ſie rege gemacht und gereizet wird, auf beſtimmte Weiſe ſich aͤußert. Dieß muß ein wahres Etwas ſeyn.
8.
Dieß waͤre die Abnahme des Menſchen, als Men- ſchen, in ſeinem geſammten Seelenweſen. Das innere thaͤtige Princip bleibt, ſo lange der Menſch lebet, mit allen ſeinen Formen und Zuſaͤtzen, die es aufgenommen und unabhaͤngig von dem, was es von außen haben muß um thaͤtig zu ſeyn, behalten kann. Aber dennoch wird es in ſich ſelbſt ungeſchmeidig, ſich auf die vorige Art zu veraͤndern, naͤmlich ſo, daß es dieſe Veraͤnderun-
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und Entwickelung des Menſchen.
Kraft, die einer andern nicht zukommen, wenn ſie gleich
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von menſchlichen Vermoͤgen uͤberhaupt nicht ſagen. So-
krates und Caͤſar, im Schlafe und in der Ohnmacht,
wirken weniger als ein wachendes Kind. Aber ſind des-
wegen nicht in ſolchen ſchlafenden und in Ohnmacht lie-
genden Menſchen andere und mehrere Realitaͤten, als in
einem ſchlafenden Kinde? Und iſt, was bey jenen Weis-
heit und wirkſame Kraft genennet wird, waͤhrend des
thaͤtigkeitsloſen Zuſtandes, in ihnen nichts, was man
nicht etwan einer Auſterſeele auch zuſchreiben koͤnnte?
Wenn die Vermoͤgen nichts ſind, ſobald als aͤußere Um-
ſtaͤnde es unmoͤglich machen damit zu wirken, ſo muͤß-
ten in dem Menſchen, der aus einem tiefen Schlaf er-
wachet, oder aus einer Ohnmacht zuruͤckkommt, und
auch bey den gewoͤhnlichen Abwechſelungen im Wachen,
Spruͤnge vorgehen; da er faſt in einem Augenblick aus
einem verſtandloſen ein vernuͤnftiger Mann, aus dem
ſchwaͤchſten der ſtaͤrkſte, und aus dem witzloſeſten ein
Genie wird. Es iſt eine gar zu ſtarke Erfahrung, daß
es viele Zeit und Muͤhe koſtet, auch Vermoͤgen zu er-
langen, die alsdenn, wenn ſie unwirkſam ruhen, nichts
anders ſind, als innere Beſchaffenheiten der Seele, da-
von wir keine andere Begriffe haben, als daß ſie dadurch,
wenn ſie rege gemacht und gereizet wird, auf beſtimmte
Weiſe ſich aͤußert. Dieß muß ein wahres Etwas ſeyn.
8.
Dieß waͤre die Abnahme des Menſchen, als Men-
ſchen, in ſeinem geſammten Seelenweſen. Das innere
thaͤtige Princip bleibt, ſo lange der Menſch lebet, mit
allen ſeinen Formen und Zuſaͤtzen, die es aufgenommen
und unabhaͤngig von dem, was es von außen haben
muß um thaͤtig zu ſeyn, behalten kann. Aber dennoch
wird es in ſich ſelbſt ungeſchmeidig, ſich auf die vorige
Art zu veraͤndern, naͤmlich ſo, daß es dieſe Veraͤnderun-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 759. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/789>, abgerufen am 22.11.2024.
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