Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
tigen können ohne Mühe, wenn die Kräfte munter sind;
und ruhen können, wenn sie müde sind. Es ist nicht
zu verwundern, daß sie während der Anstrengung und
Unruhe glauben, alles was sie wünschen, werde erhal-
ten seyn, so bald sie Ruhe haben und die Mittel besi-
tzen ohne Sorgen zu leben. Daß sie Leben und thätige
Kräfte behalten, setzen sie voraus, oder denken vielmehr
nicht daran, daß sie stumpf werden, und alsdenn, ob-
gleich von Schmerzen frey, dennoch minder glücklich
seyn können, als vorher. Die Empfindung der gegen-
wärtigen Noth hält den Gedanken ab, daß ihnen dann
noch etwas fehlen könne, wenn diese nur gehoben sey,
wie es uns überhaupt geht, wenn wir mit Eifer nach ei-
nem Ziele trachten. Wie oft haben sich nicht auf eine
ähnliche Art die Regenten verrechnet, die sich ihrer Re-
gierung entsagt, und nachher, von Langeweile gequälet,
mit Sehnsucht auf den verlaßnen Thron zurückgeblickt.
Warum denn? Die Mittel zu den Vergnügungen der
äußern Sinne, so viel sie derselben fähig waren, behiel-
ten sie in ihren Händen. Aber es entstand eine Leere in
ihrem Herzen, und in ihrem Willen. Sie konnten nicht
mehr in so großen Handlungen wirken, nicht mehr den
Trieben und Neigungen nachgehen, nicht mehr in sol-
cher Stärke sich zeigen, und ihre noch regen Kräfte ge-
nießen wie vorher. Nichts ist ein auffallenderer Beweis,
daß der gesunde und muntere Mensch mit seinen Ver-
mögen wirken und durch Thätigkeit unterhalten werden
müsse, um glücklich zu seyn, als die verschiedenen Arten
von Zeitvertreib, Spielen, Gesellschaften, die man er-
funden hat, um sich freywillig gewisse Angelegenheiten
zu machen, die vor der Langeweile schützen und weder
durch eine zu heftige Anstrengung, noch durch die Furcht
vor Mangel, oder durch den Schmerz über fehlgeschla-
gene Erwartungen, beschwerlich sind.

6. Wenn

und Entwickelung des Menſchen.
tigen koͤnnen ohne Muͤhe, wenn die Kraͤfte munter ſind;
und ruhen koͤnnen, wenn ſie muͤde ſind. Es iſt nicht
zu verwundern, daß ſie waͤhrend der Anſtrengung und
Unruhe glauben, alles was ſie wuͤnſchen, werde erhal-
ten ſeyn, ſo bald ſie Ruhe haben und die Mittel beſi-
tzen ohne Sorgen zu leben. Daß ſie Leben und thaͤtige
Kraͤfte behalten, ſetzen ſie voraus, oder denken vielmehr
nicht daran, daß ſie ſtumpf werden, und alsdenn, ob-
gleich von Schmerzen frey, dennoch minder gluͤcklich
ſeyn koͤnnen, als vorher. Die Empfindung der gegen-
waͤrtigen Noth haͤlt den Gedanken ab, daß ihnen dann
noch etwas fehlen koͤnne, wenn dieſe nur gehoben ſey,
wie es uns uͤberhaupt geht, wenn wir mit Eifer nach ei-
nem Ziele trachten. Wie oft haben ſich nicht auf eine
aͤhnliche Art die Regenten verrechnet, die ſich ihrer Re-
gierung entſagt, und nachher, von Langeweile gequaͤlet,
mit Sehnſucht auf den verlaßnen Thron zuruͤckgeblickt.
Warum denn? Die Mittel zu den Vergnuͤgungen der
aͤußern Sinne, ſo viel ſie derſelben faͤhig waren, behiel-
ten ſie in ihren Haͤnden. Aber es entſtand eine Leere in
ihrem Herzen, und in ihrem Willen. Sie konnten nicht
mehr in ſo großen Handlungen wirken, nicht mehr den
Trieben und Neigungen nachgehen, nicht mehr in ſol-
cher Staͤrke ſich zeigen, und ihre noch regen Kraͤfte ge-
nießen wie vorher. Nichts iſt ein auffallenderer Beweis,
daß der geſunde und muntere Menſch mit ſeinen Ver-
moͤgen wirken und durch Thaͤtigkeit unterhalten werden
muͤſſe, um gluͤcklich zu ſeyn, als die verſchiedenen Arten
von Zeitvertreib, Spielen, Geſellſchaften, die man er-
funden hat, um ſich freywillig gewiſſe Angelegenheiten
zu machen, die vor der Langeweile ſchuͤtzen und weder
durch eine zu heftige Anſtrengung, noch durch die Furcht
vor Mangel, oder durch den Schmerz uͤber fehlgeſchla-
gene Erwartungen, beſchwerlich ſind.

6. Wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0829" n="799"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
tigen ko&#x0364;nnen ohne Mu&#x0364;he, wenn die Kra&#x0364;fte munter &#x017F;ind;<lb/>
und ruhen ko&#x0364;nnen, wenn &#x017F;ie mu&#x0364;de &#x017F;ind. Es i&#x017F;t nicht<lb/>
zu verwundern, daß &#x017F;ie wa&#x0364;hrend der An&#x017F;trengung und<lb/>
Unruhe glauben, alles was &#x017F;ie wu&#x0364;n&#x017F;chen, werde erhal-<lb/>
ten &#x017F;eyn, &#x017F;o bald &#x017F;ie Ruhe haben und die Mittel be&#x017F;i-<lb/>
tzen ohne Sorgen zu leben. Daß &#x017F;ie Leben und tha&#x0364;tige<lb/>
Kra&#x0364;fte behalten, &#x017F;etzen &#x017F;ie voraus, oder denken vielmehr<lb/>
nicht daran, daß &#x017F;ie &#x017F;tumpf werden, und alsdenn, ob-<lb/>
gleich von Schmerzen frey, dennoch minder glu&#x0364;cklich<lb/>
&#x017F;eyn ko&#x0364;nnen, als vorher. Die Empfindung der gegen-<lb/>
wa&#x0364;rtigen Noth ha&#x0364;lt den Gedanken ab, daß ihnen dann<lb/>
noch etwas fehlen ko&#x0364;nne, wenn die&#x017F;e nur gehoben &#x017F;ey,<lb/>
wie es uns u&#x0364;berhaupt geht, wenn wir mit Eifer nach ei-<lb/>
nem Ziele trachten. Wie oft haben &#x017F;ich nicht auf eine<lb/>
a&#x0364;hnliche Art die Regenten verrechnet, die &#x017F;ich ihrer Re-<lb/>
gierung ent&#x017F;agt, und nachher, von Langeweile gequa&#x0364;let,<lb/>
mit Sehn&#x017F;ucht auf den verlaßnen Thron zuru&#x0364;ckgeblickt.<lb/>
Warum denn? Die Mittel zu den Vergnu&#x0364;gungen der<lb/>
a&#x0364;ußern Sinne, &#x017F;o viel &#x017F;ie der&#x017F;elben fa&#x0364;hig waren, behiel-<lb/>
ten &#x017F;ie in ihren Ha&#x0364;nden. Aber es ent&#x017F;tand eine Leere in<lb/>
ihrem Herzen, und in ihrem Willen. Sie konnten nicht<lb/>
mehr in &#x017F;o großen Handlungen wirken, nicht mehr den<lb/>
Trieben und Neigungen nachgehen, nicht mehr in &#x017F;ol-<lb/>
cher Sta&#x0364;rke &#x017F;ich zeigen, und ihre noch regen Kra&#x0364;fte ge-<lb/>
nießen wie vorher. Nichts i&#x017F;t ein auffallenderer Beweis,<lb/>
daß der ge&#x017F;unde und muntere Men&#x017F;ch mit &#x017F;einen Ver-<lb/>
mo&#x0364;gen wirken und durch Tha&#x0364;tigkeit unterhalten werden<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, um glu&#x0364;cklich zu &#x017F;eyn, als die ver&#x017F;chiedenen Arten<lb/>
von Zeitvertreib, Spielen, Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften, die man er-<lb/>
funden hat, um &#x017F;ich freywillig gewi&#x017F;&#x017F;e Angelegenheiten<lb/>
zu machen, die vor der Langeweile &#x017F;chu&#x0364;tzen und weder<lb/>
durch eine zu heftige An&#x017F;trengung, noch durch die Furcht<lb/>
vor Mangel, oder durch den Schmerz u&#x0364;ber fehlge&#x017F;chla-<lb/>
gene Erwartungen, be&#x017F;chwerlich &#x017F;ind.</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">6. Wenn</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[799/0829] und Entwickelung des Menſchen. tigen koͤnnen ohne Muͤhe, wenn die Kraͤfte munter ſind; und ruhen koͤnnen, wenn ſie muͤde ſind. Es iſt nicht zu verwundern, daß ſie waͤhrend der Anſtrengung und Unruhe glauben, alles was ſie wuͤnſchen, werde erhal- ten ſeyn, ſo bald ſie Ruhe haben und die Mittel beſi- tzen ohne Sorgen zu leben. Daß ſie Leben und thaͤtige Kraͤfte behalten, ſetzen ſie voraus, oder denken vielmehr nicht daran, daß ſie ſtumpf werden, und alsdenn, ob- gleich von Schmerzen frey, dennoch minder gluͤcklich ſeyn koͤnnen, als vorher. Die Empfindung der gegen- waͤrtigen Noth haͤlt den Gedanken ab, daß ihnen dann noch etwas fehlen koͤnne, wenn dieſe nur gehoben ſey, wie es uns uͤberhaupt geht, wenn wir mit Eifer nach ei- nem Ziele trachten. Wie oft haben ſich nicht auf eine aͤhnliche Art die Regenten verrechnet, die ſich ihrer Re- gierung entſagt, und nachher, von Langeweile gequaͤlet, mit Sehnſucht auf den verlaßnen Thron zuruͤckgeblickt. Warum denn? Die Mittel zu den Vergnuͤgungen der aͤußern Sinne, ſo viel ſie derſelben faͤhig waren, behiel- ten ſie in ihren Haͤnden. Aber es entſtand eine Leere in ihrem Herzen, und in ihrem Willen. Sie konnten nicht mehr in ſo großen Handlungen wirken, nicht mehr den Trieben und Neigungen nachgehen, nicht mehr in ſol- cher Staͤrke ſich zeigen, und ihre noch regen Kraͤfte ge- nießen wie vorher. Nichts iſt ein auffallenderer Beweis, daß der geſunde und muntere Menſch mit ſeinen Ver- moͤgen wirken und durch Thaͤtigkeit unterhalten werden muͤſſe, um gluͤcklich zu ſeyn, als die verſchiedenen Arten von Zeitvertreib, Spielen, Geſellſchaften, die man er- funden hat, um ſich freywillig gewiſſe Angelegenheiten zu machen, die vor der Langeweile ſchuͤtzen und weder durch eine zu heftige Anſtrengung, noch durch die Furcht vor Mangel, oder durch den Schmerz uͤber fehlgeſchla- gene Erwartungen, beſchwerlich ſind. 6. Wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/829
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 799. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/829>, abgerufen am 24.11.2024.