Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

Unser Herr
lohren, so, als freu er sich, seinen Meister in der
Nacht wiedergefunden zu haben; nun reicht er
ihm Hand, und Brust, und Wange, oder gar
Lippe dar, zu einer recht freundschaftlichen Umar-
mung; wie mogte Hand und Brust ihm izt beben,
wie Wange und Lippe ihm fliegen! -- nun drükt
er einen eiskalten Kuß auf Jesu Mund oder
Stirn, nun stottert er den Gruß der Liebe hervor,
und beides Gruß und Kuß ist das, mit der Wache
verabredete, Zeichen: "der ists, den greift, den
&q;nehmt gewis! So wie er Jesum noch umarmt
hält: so soll die Wache ihn schon angreifen, ihn
binden, ihn wegschleppen. -- Mich schaudert,
so, als hätt ich von dieser Geschichte noch nie et-
was gehört; mich dieses Schauders zu erweh-
ren, verlangt mich zu wissen: was sagte oder wie
schwieg, was that oder wie litt in diesem schrek-
lich entscheidenden Augenblikke unser Herr? so als
hätt ich es noch nie gelesen. O wie redete er so
stark und wie schwieg er so sanft; wie handelte
er so göttlich, und wie litt er so menschlich! Wie
wird es mir auch aus dieser fürchterlichen Nacht
so klar, auch bei dieser Ungewisheit, worin noch
sein Schiksal zu sein scheint, schon so gewis, daß
er sich binden ließ, um härter Gebundne zu erlö-
sen, daß er sich gefangen nehmen ließ, um selbst
das Gefängnis gefangen zu führen, daß er sich
hinwegschleppen, sich hinunter bringen ließ in die
untersten Oerter der Erde, um aufzufahren über
alle Himmel, auf daß er alles erfüllete!

Noch einmal, als rauschte ein Donner auf den
Verbrecher, noch eh er seine Greuelthat vollbracht

hat,

Unſer Herr
lohren, ſo, als freu er ſich, ſeinen Meiſter in der
Nacht wiedergefunden zu haben; nun reicht er
ihm Hand, und Bruſt, und Wange, oder gar
Lippe dar, zu einer recht freundſchaftlichen Umar-
mung; wie mogte Hand und Bruſt ihm izt beben,
wie Wange und Lippe ihm fliegen! — nun drükt
er einen eiskalten Kuß auf Jeſu Mund oder
Stirn, nun ſtottert er den Gruß der Liebe hervor,
und beides Gruß und Kuß iſt das, mit der Wache
verabredete, Zeichen: “der iſts, den greift, den
&q;nehmt gewis! So wie er Jeſum noch umarmt
hält: ſo ſoll die Wache ihn ſchon angreifen, ihn
binden, ihn wegſchleppen. — Mich ſchaudert,
ſo, als hätt ich von dieſer Geſchichte noch nie et-
was gehört; mich dieſes Schauders zu erweh-
ren, verlangt mich zu wiſſen: was ſagte oder wie
ſchwieg, was that oder wie litt in dieſem ſchrek-
lich entſcheidenden Augenblikke unſer Herr? ſo als
hätt ich es noch nie geleſen. O wie redete er ſo
ſtark und wie ſchwieg er ſo ſanft; wie handelte
er ſo göttlich, und wie litt er ſo menſchlich! Wie
wird es mir auch aus dieſer fürchterlichen Nacht
ſo klar, auch bei dieſer Ungewisheit, worin noch
ſein Schikſal zu ſein ſcheint, ſchon ſo gewis, daß
er ſich binden ließ, um härter Gebundne zu erlö-
ſen, daß er ſich gefangen nehmen ließ, um ſelbſt
das Gefängnis gefangen zu führen, daß er ſich
hinwegſchleppen, ſich hinunter bringen ließ in die
unterſten Oerter der Erde, um aufzufahren über
alle Himmel, auf daß er alles erfüllete!

Noch einmal, als rauſchte ein Donner auf den
Verbrecher, noch eh er ſeine Greuelthat vollbracht

hat,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0072" n="58"/><fw place="top" type="header">Un&#x017F;er Herr</fw><lb/>
lohren, &#x017F;o, als freu er &#x017F;ich, &#x017F;einen Mei&#x017F;ter in der<lb/>
Nacht wiedergefunden zu haben; nun reicht er<lb/>
ihm Hand, und Bru&#x017F;t, und Wange, oder gar<lb/>
Lippe dar, zu einer recht freund&#x017F;chaftlichen Umar-<lb/>
mung; wie mogte Hand und Bru&#x017F;t ihm izt beben,<lb/>
wie Wange und Lippe ihm fliegen! &#x2014; nun drükt<lb/>
er einen eiskalten Kuß auf Je&#x017F;u Mund oder<lb/>
Stirn, nun &#x017F;tottert er den Gruß der Liebe hervor,<lb/>
und beides Gruß und Kuß i&#x017F;t das, mit der Wache<lb/>
verabredete, Zeichen: &#x201C;der i&#x017F;ts, den greift, den<lb/>
&amp;q;nehmt gewis! So wie er Je&#x017F;um noch umarmt<lb/>
hält: &#x017F;o &#x017F;oll die Wache ihn &#x017F;chon angreifen, ihn<lb/>
binden, ihn weg&#x017F;chleppen. &#x2014; Mich &#x017F;chaudert,<lb/>
&#x017F;o, als hätt ich von die&#x017F;er Ge&#x017F;chichte noch nie et-<lb/>
was gehört; mich die&#x017F;es Schauders zu erweh-<lb/>
ren, verlangt mich zu wi&#x017F;&#x017F;en: was &#x017F;agte oder wie<lb/>
&#x017F;chwieg, was that oder wie litt in die&#x017F;em &#x017F;chrek-<lb/>
lich ent&#x017F;cheidenden Augenblikke un&#x017F;er Herr? &#x017F;o als<lb/>
hätt ich es noch nie gele&#x017F;en. O wie redete er &#x017F;o<lb/>
&#x017F;tark und wie &#x017F;chwieg er &#x017F;o &#x017F;anft; wie handelte<lb/>
er &#x017F;o göttlich, und wie litt er &#x017F;o men&#x017F;chlich! Wie<lb/>
wird es mir auch aus die&#x017F;er fürchterlichen Nacht<lb/>
&#x017F;o klar, auch bei die&#x017F;er Ungewisheit, worin noch<lb/>
&#x017F;ein Schik&#x017F;al zu &#x017F;ein &#x017F;cheint, &#x017F;chon &#x017F;o gewis, daß<lb/>
er &#x017F;ich binden ließ, um härter Gebundne zu erlö-<lb/>
&#x017F;en, daß er &#x017F;ich gefangen nehmen ließ, um &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
das Gefängnis gefangen zu führen, daß er &#x017F;ich<lb/>
hinweg&#x017F;chleppen, &#x017F;ich hinunter bringen ließ in die<lb/>
unter&#x017F;ten Oerter der Erde, um aufzufahren über<lb/>
alle Himmel, auf daß er alles erfüllete!</p><lb/>
        <p>Noch einmal, als rau&#x017F;chte ein Donner auf den<lb/>
Verbrecher, noch eh er &#x017F;eine Greuelthat vollbracht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">hat,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0072] Unſer Herr lohren, ſo, als freu er ſich, ſeinen Meiſter in der Nacht wiedergefunden zu haben; nun reicht er ihm Hand, und Bruſt, und Wange, oder gar Lippe dar, zu einer recht freundſchaftlichen Umar- mung; wie mogte Hand und Bruſt ihm izt beben, wie Wange und Lippe ihm fliegen! — nun drükt er einen eiskalten Kuß auf Jeſu Mund oder Stirn, nun ſtottert er den Gruß der Liebe hervor, und beides Gruß und Kuß iſt das, mit der Wache verabredete, Zeichen: “der iſts, den greift, den &q;nehmt gewis! So wie er Jeſum noch umarmt hält: ſo ſoll die Wache ihn ſchon angreifen, ihn binden, ihn wegſchleppen. — Mich ſchaudert, ſo, als hätt ich von dieſer Geſchichte noch nie et- was gehört; mich dieſes Schauders zu erweh- ren, verlangt mich zu wiſſen: was ſagte oder wie ſchwieg, was that oder wie litt in dieſem ſchrek- lich entſcheidenden Augenblikke unſer Herr? ſo als hätt ich es noch nie geleſen. O wie redete er ſo ſtark und wie ſchwieg er ſo ſanft; wie handelte er ſo göttlich, und wie litt er ſo menſchlich! Wie wird es mir auch aus dieſer fürchterlichen Nacht ſo klar, auch bei dieſer Ungewisheit, worin noch ſein Schikſal zu ſein ſcheint, ſchon ſo gewis, daß er ſich binden ließ, um härter Gebundne zu erlö- ſen, daß er ſich gefangen nehmen ließ, um ſelbſt das Gefängnis gefangen zu führen, daß er ſich hinwegſchleppen, ſich hinunter bringen ließ in die unterſten Oerter der Erde, um aufzufahren über alle Himmel, auf daß er alles erfüllete! Noch einmal, als rauſchte ein Donner auf den Verbrecher, noch eh er ſeine Greuelthat vollbracht hat,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/72
Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/72>, abgerufen am 24.11.2024.