käme, wenn sich eine schöne, unbefangne Seele mit jeder Stunde mehr entwickelt. Wir sind jetzt bekannter mit einander, ich und Rosaline, ich habe sie täglich gesehn und gesprochen, mein anscheinendes Unglück hat sie gerührt. -- Sie ist so das reine Bild einer Mädchenseele, ohne die feinere Ausbildung, die die Erscheinung zu- gleich verschönert und entstellt. Da uns die Verschiedenheit des Standes kein Hinderniß in den Weg gelegt hat, so sind wir auf einem recht vertrauten Fuße mit einander. -- Wir sitzen oft im finstern Winkel, und sprechen über unser Schicksal, sie erzählt mir Familiengeschichten, oder wunderbare Mährchen, die sie mit außer- ordentlicher Lebhaftigkeit vorträgt; dann singt sie wieder ein kleines Volkslied, und begleitet es mit den Tönen der Laute. -- Es giebt kei- ne Musik weiter, als diese kleinen, tändelnden, fast kindischen Lieder, die so gleichsam im sim- peln Gang des Gesanges das Herz auf der Zun- ge tragen, und wo nicht Töne, wie ungeheure Wogen steigen und fallen, und sich in einen wilden Zug mischen, der kreischend sich durch alle Tonarten schleppt, und dann in ein Chor aller stürmenden Instrumente versinkt. Das Herz
Lovell. 2r Bd. K
kaͤme, wenn ſich eine ſchoͤne, unbefangne Seele mit jeder Stunde mehr entwickelt. Wir ſind jetzt bekannter mit einander, ich und Roſaline, ich habe ſie taͤglich geſehn und geſprochen, mein anſcheinendes Ungluͤck hat ſie geruͤhrt. — Sie iſt ſo das reine Bild einer Maͤdchenſeele, ohne die feinere Ausbildung, die die Erſcheinung zu- gleich verſchoͤnert und entſtellt. Da uns die Verſchiedenheit des Standes kein Hinderniß in den Weg gelegt hat, ſo ſind wir auf einem recht vertrauten Fuße mit einander. — Wir ſitzen oft im finſtern Winkel, und ſprechen uͤber unſer Schickſal, ſie erzaͤhlt mir Familiengeſchichten, oder wunderbare Maͤhrchen, die ſie mit außer- ordentlicher Lebhaftigkeit vortraͤgt; dann ſingt ſie wieder ein kleines Volkslied, und begleitet es mit den Toͤnen der Laute. — Es giebt kei- ne Muſik weiter, als dieſe kleinen, taͤndelnden, faſt kindiſchen Lieder, die ſo gleichſam im ſim- peln Gang des Geſanges das Herz auf der Zun- ge tragen, und wo nicht Toͤne, wie ungeheure Wogen ſteigen und fallen, und ſich in einen wilden Zug miſchen, der kreiſchend ſich durch alle Tonarten ſchleppt, und dann in ein Chor aller ſtuͤrmenden Inſtrumente verſinkt. Das Herz
Lovell. 2r Bd. K
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0151"n="145"/>
kaͤme, wenn ſich eine ſchoͤne, unbefangne Seele<lb/>
mit jeder Stunde mehr entwickelt. Wir ſind<lb/>
jetzt bekannter mit einander, ich und Roſaline,<lb/>
ich habe ſie taͤglich geſehn und geſprochen, mein<lb/>
anſcheinendes Ungluͤck hat ſie geruͤhrt. — Sie<lb/>
iſt ſo das reine Bild einer Maͤdchenſeele, ohne<lb/>
die feinere Ausbildung, die die Erſcheinung zu-<lb/>
gleich verſchoͤnert und entſtellt. Da uns die<lb/>
Verſchiedenheit des Standes kein Hinderniß in<lb/>
den Weg gelegt hat, ſo ſind wir auf einem recht<lb/>
vertrauten Fuße mit einander. — Wir ſitzen oft<lb/>
im finſtern Winkel, und ſprechen uͤber unſer<lb/>
Schickſal, ſie erzaͤhlt mir Familiengeſchichten,<lb/>
oder wunderbare Maͤhrchen, die ſie mit außer-<lb/>
ordentlicher Lebhaftigkeit vortraͤgt; dann ſingt<lb/>ſie wieder ein kleines Volkslied, und begleitet<lb/>
es mit den Toͤnen der Laute. — Es giebt kei-<lb/>
ne Muſik weiter, als dieſe kleinen, taͤndelnden,<lb/>
faſt kindiſchen Lieder, die ſo gleichſam im ſim-<lb/>
peln Gang des Geſanges das Herz auf der Zun-<lb/>
ge tragen, und wo nicht Toͤne, wie ungeheure<lb/>
Wogen ſteigen und fallen, und ſich in einen<lb/>
wilden Zug miſchen, der kreiſchend ſich durch<lb/>
alle Tonarten ſchleppt, und dann in ein Chor<lb/>
aller ſtuͤrmenden Inſtrumente verſinkt. Das Herz<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Lovell. 2r Bd. K</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[145/0151]
kaͤme, wenn ſich eine ſchoͤne, unbefangne Seele
mit jeder Stunde mehr entwickelt. Wir ſind
jetzt bekannter mit einander, ich und Roſaline,
ich habe ſie taͤglich geſehn und geſprochen, mein
anſcheinendes Ungluͤck hat ſie geruͤhrt. — Sie
iſt ſo das reine Bild einer Maͤdchenſeele, ohne
die feinere Ausbildung, die die Erſcheinung zu-
gleich verſchoͤnert und entſtellt. Da uns die
Verſchiedenheit des Standes kein Hinderniß in
den Weg gelegt hat, ſo ſind wir auf einem recht
vertrauten Fuße mit einander. — Wir ſitzen oft
im finſtern Winkel, und ſprechen uͤber unſer
Schickſal, ſie erzaͤhlt mir Familiengeſchichten,
oder wunderbare Maͤhrchen, die ſie mit außer-
ordentlicher Lebhaftigkeit vortraͤgt; dann ſingt
ſie wieder ein kleines Volkslied, und begleitet
es mit den Toͤnen der Laute. — Es giebt kei-
ne Muſik weiter, als dieſe kleinen, taͤndelnden,
faſt kindiſchen Lieder, die ſo gleichſam im ſim-
peln Gang des Geſanges das Herz auf der Zun-
ge tragen, und wo nicht Toͤne, wie ungeheure
Wogen ſteigen und fallen, und ſich in einen
wilden Zug miſchen, der kreiſchend ſich durch
alle Tonarten ſchleppt, und dann in ein Chor
aller ſtuͤrmenden Inſtrumente verſinkt. Das Herz
Lovell. 2r Bd. K
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/151>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.