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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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käme, wenn sich eine schöne, unbefangne Seele
mit jeder Stunde mehr entwickelt. Wir sind
jetzt bekannter mit einander, ich und Rosaline,
ich habe sie täglich gesehn und gesprochen, mein
anscheinendes Unglück hat sie gerührt. -- Sie
ist so das reine Bild einer Mädchenseele, ohne
die feinere Ausbildung, die die Erscheinung zu-
gleich verschönert und entstellt. Da uns die
Verschiedenheit des Standes kein Hinderniß in
den Weg gelegt hat, so sind wir auf einem recht
vertrauten Fuße mit einander. -- Wir sitzen oft
im finstern Winkel, und sprechen über unser
Schicksal, sie erzählt mir Familiengeschichten,
oder wunderbare Mährchen, die sie mit außer-
ordentlicher Lebhaftigkeit vorträgt; dann singt
sie wieder ein kleines Volkslied, und begleitet
es mit den Tönen der Laute. -- Es giebt kei-
ne Musik weiter, als diese kleinen, tändelnden,
fast kindischen Lieder, die so gleichsam im sim-
peln Gang des Gesanges das Herz auf der Zun-
ge tragen, und wo nicht Töne, wie ungeheure
Wogen steigen und fallen, und sich in einen
wilden Zug mischen, der kreischend sich durch
alle Tonarten schleppt, und dann in ein Chor
aller stürmenden Instrumente versinkt. Das Herz

Lovell. 2r Bd. K

kaͤme, wenn ſich eine ſchoͤne, unbefangne Seele
mit jeder Stunde mehr entwickelt. Wir ſind
jetzt bekannter mit einander, ich und Roſaline,
ich habe ſie taͤglich geſehn und geſprochen, mein
anſcheinendes Ungluͤck hat ſie geruͤhrt. — Sie
iſt ſo das reine Bild einer Maͤdchenſeele, ohne
die feinere Ausbildung, die die Erſcheinung zu-
gleich verſchoͤnert und entſtellt. Da uns die
Verſchiedenheit des Standes kein Hinderniß in
den Weg gelegt hat, ſo ſind wir auf einem recht
vertrauten Fuße mit einander. — Wir ſitzen oft
im finſtern Winkel, und ſprechen uͤber unſer
Schickſal, ſie erzaͤhlt mir Familiengeſchichten,
oder wunderbare Maͤhrchen, die ſie mit außer-
ordentlicher Lebhaftigkeit vortraͤgt; dann ſingt
ſie wieder ein kleines Volkslied, und begleitet
es mit den Toͤnen der Laute. — Es giebt kei-
ne Muſik weiter, als dieſe kleinen, taͤndelnden,
faſt kindiſchen Lieder, die ſo gleichſam im ſim-
peln Gang des Geſanges das Herz auf der Zun-
ge tragen, und wo nicht Toͤne, wie ungeheure
Wogen ſteigen und fallen, und ſich in einen
wilden Zug miſchen, der kreiſchend ſich durch
alle Tonarten ſchleppt, und dann in ein Chor
aller ſtuͤrmenden Inſtrumente verſinkt. Das Herz

Lovell. 2r Bd. K
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[145/0151] kaͤme, wenn ſich eine ſchoͤne, unbefangne Seele mit jeder Stunde mehr entwickelt. Wir ſind jetzt bekannter mit einander, ich und Roſaline, ich habe ſie taͤglich geſehn und geſprochen, mein anſcheinendes Ungluͤck hat ſie geruͤhrt. — Sie iſt ſo das reine Bild einer Maͤdchenſeele, ohne die feinere Ausbildung, die die Erſcheinung zu- gleich verſchoͤnert und entſtellt. Da uns die Verſchiedenheit des Standes kein Hinderniß in den Weg gelegt hat, ſo ſind wir auf einem recht vertrauten Fuße mit einander. — Wir ſitzen oft im finſtern Winkel, und ſprechen uͤber unſer Schickſal, ſie erzaͤhlt mir Familiengeſchichten, oder wunderbare Maͤhrchen, die ſie mit außer- ordentlicher Lebhaftigkeit vortraͤgt; dann ſingt ſie wieder ein kleines Volkslied, und begleitet es mit den Toͤnen der Laute. — Es giebt kei- ne Muſik weiter, als dieſe kleinen, taͤndelnden, faſt kindiſchen Lieder, die ſo gleichſam im ſim- peln Gang des Geſanges das Herz auf der Zun- ge tragen, und wo nicht Toͤne, wie ungeheure Wogen ſteigen und fallen, und ſich in einen wilden Zug miſchen, der kreiſchend ſich durch alle Tonarten ſchleppt, und dann in ein Chor aller ſtuͤrmenden Inſtrumente verſinkt. Das Herz Lovell. 2r Bd. K

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/151>, abgerufen am 21.11.2024.