Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Alltäglichkeit kömmt wieder und das
Wetter fliegt weiter. Wie eine reisende Komö-
diantentruppe spielen die Wolken in einer an-
dern Gegend nun dasselbe Schauspiel, dort zit-
tern andre Menschen jetzt, wie vor kurzem hier
viele bebten, -- und alles verfliegt und ver-
schwindet und kehrt wieder, ohne Absicht und
Zusammenhang. --

Ich fürchte mich des Nachts nicht mehr. --
Als ich neulich allein um Mitternacht in mei-
nem Zimmer stand und aus dem Fenster den
Zug der trüben Wolken sah, und mir alles wie
Menschengedanken und Empfindungen am Him-
mel dahinzog, als ich sichtbarlich in Dunstgestalt
manche Erinnerung vor mir fliegen sah, -- und
ich zu ruhen und zu sterben wünschte, -- da
drehte ich mich plötzlich leise um, wie wenn mich
ein Wind anders stellte. Und alle meine Vor-
fahren saßen, still und in Mänteln eingehüllt
an meinem Tische, sie bemerkten mich nicht und
aßen mit den nackten Gebissen von den Speisen,
heimlich reckten sie die dürren Todtenarme aus
den schwarzen Gewändern hervor, um kein Ge-
räusch zu machen und nickten gegenseitig mit
den Schädeln. Ich kannte sie alle, aber ich weiß

Die Alltaͤglichkeit koͤmmt wieder und das
Wetter fliegt weiter. Wie eine reiſende Komoͤ-
diantentruppe ſpielen die Wolken in einer an-
dern Gegend nun daſſelbe Schauſpiel, dort zit-
tern andre Menſchen jetzt, wie vor kurzem hier
viele bebten, — und alles verfliegt und ver-
ſchwindet und kehrt wieder, ohne Abſicht und
Zuſammenhang. —

Ich fuͤrchte mich des Nachts nicht mehr. —
Als ich neulich allein um Mitternacht in mei-
nem Zimmer ſtand und aus dem Fenſter den
Zug der truͤben Wolken ſah, und mir alles wie
Menſchengedanken und Empfindungen am Him-
mel dahinzog, als ich ſichtbarlich in Dunſtgeſtalt
manche Erinnerung vor mir fliegen ſah, — und
ich zu ruhen und zu ſterben wuͤnſchte, — da
drehte ich mich ploͤtzlich leiſe um, wie wenn mich
ein Wind anders ſtellte. Und alle meine Vor-
fahren ſaßen, ſtill und in Maͤnteln eingehuͤllt
an meinem Tiſche, ſie bemerkten mich nicht und
aßen mit den nackten Gebiſſen von den Speiſen,
heimlich reckten ſie die duͤrren Todtenarme aus
den ſchwarzen Gewaͤndern hervor, um kein Ge-
raͤuſch zu machen und nickten gegenſeitig mit
den Schaͤdeln. Ich kannte ſie alle, aber ich weiß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0045" n="39"/>
          <p>Die Allta&#x0364;glichkeit ko&#x0364;mmt wieder und das<lb/>
Wetter fliegt weiter. Wie eine rei&#x017F;ende Komo&#x0364;-<lb/>
diantentruppe &#x017F;pielen die Wolken in einer an-<lb/>
dern Gegend nun da&#x017F;&#x017F;elbe Schau&#x017F;piel, dort zit-<lb/>
tern andre Men&#x017F;chen jetzt, wie vor kurzem hier<lb/>
viele bebten, &#x2014; und alles verfliegt und ver-<lb/>
&#x017F;chwindet und kehrt wieder, ohne Ab&#x017F;icht und<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Ich fu&#x0364;rchte mich des Nachts nicht mehr. &#x2014;<lb/>
Als ich neulich allein um Mitternacht in mei-<lb/>
nem Zimmer &#x017F;tand und aus dem Fen&#x017F;ter den<lb/>
Zug der tru&#x0364;ben Wolken &#x017F;ah, und mir alles wie<lb/>
Men&#x017F;chengedanken und Empfindungen am Him-<lb/>
mel dahinzog, als ich &#x017F;ichtbarlich in Dun&#x017F;tge&#x017F;talt<lb/>
manche Erinnerung vor mir fliegen &#x017F;ah, &#x2014; und<lb/>
ich zu ruhen und zu &#x017F;terben wu&#x0364;n&#x017F;chte, &#x2014; da<lb/>
drehte ich mich plo&#x0364;tzlich lei&#x017F;e um, wie wenn mich<lb/>
ein Wind anders &#x017F;tellte. Und alle meine Vor-<lb/>
fahren &#x017F;aßen, &#x017F;till und in Ma&#x0364;nteln eingehu&#x0364;llt<lb/>
an meinem Ti&#x017F;che, &#x017F;ie bemerkten mich nicht und<lb/>
aßen mit den nackten Gebi&#x017F;&#x017F;en von den Spei&#x017F;en,<lb/>
heimlich reckten &#x017F;ie die du&#x0364;rren Todtenarme aus<lb/>
den &#x017F;chwarzen Gewa&#x0364;ndern hervor, um kein Ge-<lb/>
ra&#x0364;u&#x017F;ch zu machen und nickten gegen&#x017F;eitig mit<lb/>
den Scha&#x0364;deln. Ich kannte &#x017F;ie alle, aber ich weiß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0045] Die Alltaͤglichkeit koͤmmt wieder und das Wetter fliegt weiter. Wie eine reiſende Komoͤ- diantentruppe ſpielen die Wolken in einer an- dern Gegend nun daſſelbe Schauſpiel, dort zit- tern andre Menſchen jetzt, wie vor kurzem hier viele bebten, — und alles verfliegt und ver- ſchwindet und kehrt wieder, ohne Abſicht und Zuſammenhang. — Ich fuͤrchte mich des Nachts nicht mehr. — Als ich neulich allein um Mitternacht in mei- nem Zimmer ſtand und aus dem Fenſter den Zug der truͤben Wolken ſah, und mir alles wie Menſchengedanken und Empfindungen am Him- mel dahinzog, als ich ſichtbarlich in Dunſtgeſtalt manche Erinnerung vor mir fliegen ſah, — und ich zu ruhen und zu ſterben wuͤnſchte, — da drehte ich mich ploͤtzlich leiſe um, wie wenn mich ein Wind anders ſtellte. Und alle meine Vor- fahren ſaßen, ſtill und in Maͤnteln eingehuͤllt an meinem Tiſche, ſie bemerkten mich nicht und aßen mit den nackten Gebiſſen von den Speiſen, heimlich reckten ſie die duͤrren Todtenarme aus den ſchwarzen Gewaͤndern hervor, um kein Ge- raͤuſch zu machen und nickten gegenſeitig mit den Schaͤdeln. Ich kannte ſie alle, aber ich weiß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/45
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/45>, abgerufen am 23.11.2024.