mir auf, und dachte lange über den darin lie- genden Sinn. In kurzer Zeit täuschte er sich selbst so, daß er unsre Seelen für verschwistert hielt, nur daß ihm die meinige einige Jahre voraus sey.
Nichts ist dem Menschen so natürlich, als Nachahmungssucht. Lovell ward in einigen Mo- nathen eine bloße Kopie nach mir. Jeder Aus- spruch, jedes Wort, das wir für klug nehmen, rückt an der Form unsrer Seele, und so hat sich Lovell ganz von selbst die Philosophie er- schaffen, die ich gern für ihn bilden wollte. Er ist feurig und lebhaft, daher ist es ihm nicht möglich, so wie viele Menschen thun, unent- schieden zwischen zwey Meinungen zu stehn, und sich im Schwanken für keine zu interessiren. Was er für Wahrheit nimmt, ergreift er mit einem Eifer, wie der andächtige Enthusiast die Bildsäule der Madonne umfängt. Er verachtet jetzt tief alle Meinungen, die seinen jetzigen wi- dersprechen, und die beste Art allen Rückfällen vorzubeugen, scheint mir die, ihn mit allen mög- lichen Einwürfen selber bekannt zu machen; nur stelle ich immer die guten und schlechten Ideen ganz neben einander, und indem er diese über-
mir auf, und dachte lange uͤber den darin lie- genden Sinn. In kurzer Zeit taͤuſchte er ſich ſelbſt ſo, daß er unſre Seelen fuͤr verſchwiſtert hielt, nur daß ihm die meinige einige Jahre voraus ſey.
Nichts iſt dem Menſchen ſo natuͤrlich, als Nachahmungsſucht. Lovell ward in einigen Mo- nathen eine bloße Kopie nach mir. Jeder Aus- ſpruch, jedes Wort, das wir fuͤr klug nehmen, ruͤckt an der Form unſrer Seele, und ſo hat ſich Lovell ganz von ſelbſt die Philoſophie er- ſchaffen, die ich gern fuͤr ihn bilden wollte. Er iſt feurig und lebhaft, daher iſt es ihm nicht moͤglich, ſo wie viele Menſchen thun, unent- ſchieden zwiſchen zwey Meinungen zu ſtehn, und ſich im Schwanken fuͤr keine zu intereſſiren. Was er fuͤr Wahrheit nimmt, ergreift er mit einem Eifer, wie der andaͤchtige Enthuſiaſt die Bildſaͤule der Madonne umfaͤngt. Er verachtet jetzt tief alle Meinungen, die ſeinen jetzigen wi- derſprechen, und die beſte Art allen Ruͤckfaͤllen vorzubeugen, ſcheint mir die, ihn mit allen moͤg- lichen Einwuͤrfen ſelber bekannt zu machen; nur ſtelle ich immer die guten und ſchlechten Ideen ganz neben einander, und indem er dieſe uͤber-
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mir auf, und dachte lange uͤber den darin lie-
genden Sinn. In kurzer Zeit taͤuſchte er ſich
ſelbſt ſo, daß er unſre Seelen fuͤr verſchwiſtert
hielt, nur daß ihm die meinige einige Jahre
voraus ſey.
Nichts iſt dem Menſchen ſo natuͤrlich, als
Nachahmungsſucht. Lovell ward in einigen Mo-
nathen eine bloße Kopie nach mir. Jeder Aus-
ſpruch, jedes Wort, das wir fuͤr klug nehmen,
ruͤckt an der Form unſrer Seele, und ſo hat
ſich Lovell ganz von ſelbſt die Philoſophie er-
ſchaffen, die ich gern fuͤr ihn bilden wollte. Er
iſt feurig und lebhaft, daher iſt es ihm nicht
moͤglich, ſo wie viele Menſchen thun, unent-
ſchieden zwiſchen zwey Meinungen zu ſtehn, und
ſich im Schwanken fuͤr keine zu intereſſiren.
Was er fuͤr Wahrheit nimmt, ergreift er mit
einem Eifer, wie der andaͤchtige Enthuſiaſt die
Bildſaͤule der Madonne umfaͤngt. Er verachtet
jetzt tief alle Meinungen, die ſeinen jetzigen wi-
derſprechen, und die beſte Art allen Ruͤckfaͤllen
vorzubeugen, ſcheint mir die, ihn mit allen moͤg-
lichen Einwuͤrfen ſelber bekannt zu machen; nur
ſtelle ich immer die guten und ſchlechten Ideen
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/67>, abgerufen am 21.11.2024.
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