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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
Ich verstehe überhaupt die Freude der meisten
Menschen nicht. Scheint es doch, als müßten
sie alle Erinnerungen des wahren Lebens von
sich entfernt halten, um nur in blinder Zerstreut-
heit auf kümmerliche Weise sich das anzueignen,
was sie Ergötzung und Fröhlichkeit nennen. Die
Fülle des Lebens, ein gesundes kräftiges Gefühl
des Daseins bedarf selbst einer gewissen Trauer,
um die Lust desto inniger zu empfinden, so wie
diese Gesundheit die Tragödie erfunden hat, und
auch nur genießen kann. Je schwächer der
Mensch, je lebensmüder er wird, um so mehr
hat er nur noch Freude am Lachen, und an dem
kleinlichen Lustspiel neuerer Zeit. Geh dem aus
dem Wege, der nur noch lachen mag und kann,
denn mit dem Ernst und der edlen Trauer ist
auch aller Inhalt seines Lebens entschwunden;
er ist bös, wenn er etwas mehr als Thor sein
kann. Je höher wir unser Dasein in Lust und
Liebe empfinden, je lauter wir in uns aufjauch-
zen in jenen seltenen Minuten, die uns nur
sparsam ein geizendes Schicksal gönnt, um so
freigebiger und reicher sollen wir uns auch in
diesen Sekunden fühlen; warum also in die-
sen schönsten Lebensmomenten unsre ehemaligen
Freunde und ihre Liebe von uns weisen? Hat
der Tod sie denn zu unsern Feinden gemacht?
Oder ist ihr Zustand nach unsrer Meinung so
durchaus bejammernswerth, daß ihr Bild unsre
Lust zerstören muß? In jenen seligen Stimmun-

Einleitung.
Ich verſtehe uͤberhaupt die Freude der meiſten
Menſchen nicht. Scheint es doch, als muͤßten
ſie alle Erinnerungen des wahren Lebens von
ſich entfernt halten, um nur in blinder Zerſtreut-
heit auf kuͤmmerliche Weiſe ſich das anzueignen,
was ſie Ergoͤtzung und Froͤhlichkeit nennen. Die
Fuͤlle des Lebens, ein geſundes kraͤftiges Gefuͤhl
des Daſeins bedarf ſelbſt einer gewiſſen Trauer,
um die Luſt deſto inniger zu empfinden, ſo wie
dieſe Geſundheit die Tragoͤdie erfunden hat, und
auch nur genießen kann. Je ſchwaͤcher der
Menſch, je lebensmuͤder er wird, um ſo mehr
hat er nur noch Freude am Lachen, und an dem
kleinlichen Luſtſpiel neuerer Zeit. Geh dem aus
dem Wege, der nur noch lachen mag und kann,
denn mit dem Ernſt und der edlen Trauer iſt
auch aller Inhalt ſeines Lebens entſchwunden;
er iſt boͤs, wenn er etwas mehr als Thor ſein
kann. Je hoͤher wir unſer Daſein in Luſt und
Liebe empfinden, je lauter wir in uns aufjauch-
zen in jenen ſeltenen Minuten, die uns nur
ſparſam ein geizendes Schickſal goͤnnt, um ſo
freigebiger und reicher ſollen wir uns auch in
dieſen Sekunden fuͤhlen; warum alſo in die-
ſen ſchoͤnſten Lebensmomenten unſre ehemaligen
Freunde und ihre Liebe von uns weiſen? Hat
der Tod ſie denn zu unſern Feinden gemacht?
Oder iſt ihr Zuſtand nach unſrer Meinung ſo
durchaus bejammernswerth, daß ihr Bild unſre
Luſt zerſtoͤren muß? In jenen ſeligen Stimmun-

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[106/0117] Einleitung. Ich verſtehe uͤberhaupt die Freude der meiſten Menſchen nicht. Scheint es doch, als muͤßten ſie alle Erinnerungen des wahren Lebens von ſich entfernt halten, um nur in blinder Zerſtreut- heit auf kuͤmmerliche Weiſe ſich das anzueignen, was ſie Ergoͤtzung und Froͤhlichkeit nennen. Die Fuͤlle des Lebens, ein geſundes kraͤftiges Gefuͤhl des Daſeins bedarf ſelbſt einer gewiſſen Trauer, um die Luſt deſto inniger zu empfinden, ſo wie dieſe Geſundheit die Tragoͤdie erfunden hat, und auch nur genießen kann. Je ſchwaͤcher der Menſch, je lebensmuͤder er wird, um ſo mehr hat er nur noch Freude am Lachen, und an dem kleinlichen Luſtſpiel neuerer Zeit. Geh dem aus dem Wege, der nur noch lachen mag und kann, denn mit dem Ernſt und der edlen Trauer iſt auch aller Inhalt ſeines Lebens entſchwunden; er iſt boͤs, wenn er etwas mehr als Thor ſein kann. Je hoͤher wir unſer Daſein in Luſt und Liebe empfinden, je lauter wir in uns aufjauch- zen in jenen ſeltenen Minuten, die uns nur ſparſam ein geizendes Schickſal goͤnnt, um ſo freigebiger und reicher ſollen wir uns auch in dieſen Sekunden fuͤhlen; warum alſo in die- ſen ſchoͤnſten Lebensmomenten unſre ehemaligen Freunde und ihre Liebe von uns weiſen? Hat der Tod ſie denn zu unſern Feinden gemacht? Oder iſt ihr Zuſtand nach unſrer Meinung ſo durchaus bejammernswerth, daß ihr Bild unſre Luſt zerſtoͤren muß? In jenen ſeligen Stimmun-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/117>, abgerufen am 10.11.2024.