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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
um dergleichen allerliebste Seltsamkeiten vorzu-
tragen: alle seine Nachahmer, selbst der Ban-
dello nicht ausgenommen -- gar des ganz verun-
glückten La Fontaine oder des neueren Casti zu
geschweigen -- bleiben weit hinter ihm zurück,
sei nun von Styl, Erfindung, oder Schmuck
des Gegenstandes die Rede. Doch abgesehn da-
von, muß ich bezweifeln, daß der Dekameron
gebildeten und freundlichen Gemüthern wirklich
anstößig sein könnte.

Diesen Zweifel verstehe ich nicht, sagte An-
ton, da er das zartere Gemüth und die höhere
Stimmung doch nur zu oft verletzt.

Wie man es eben nimmt, antwortete Man-
fred. Wir stehn hier auf der Stelle, auf wel-
cher sich der Dualismus unserer Natur und
Empfindung am wunderbarsten, reichhaltigsten
und grellsten offenbart. Sich den Witz und die
Schalkheit der Natur im Heiligsten und Lieb-
lichsten verschweigen wollen, ist vielleicht nur mög-
lich, wenn man geradezu Karthäuser wird, und
vom Schweigen und Verschweigen Profession
macht. Wenn der Frühling sich mit allen sei-
nen Schätzen aufthut, und die Blumen gedrängt
um dich lachen, so kannst du dich in deiner rüh-
renden Freude nicht erwehren, ihre Gestalten zu
beobachten und manche Erinnerungen an diese
zu knüpfen, ja selbst die holdselige Rose ruft dir
erröthend die räthselhaften Reime alter Dichter
entgegen, und sie wird dir darum nicht unlieber,

Einleitung.
um dergleichen allerliebſte Seltſamkeiten vorzu-
tragen: alle ſeine Nachahmer, ſelbſt der Ban-
dello nicht ausgenommen — gar des ganz verun-
gluͤckten La Fontaine oder des neueren Caſti zu
geſchweigen — bleiben weit hinter ihm zuruͤck,
ſei nun von Styl, Erfindung, oder Schmuck
des Gegenſtandes die Rede. Doch abgeſehn da-
von, muß ich bezweifeln, daß der Dekameron
gebildeten und freundlichen Gemuͤthern wirklich
anſtoͤßig ſein koͤnnte.

Dieſen Zweifel verſtehe ich nicht, ſagte An-
ton, da er das zartere Gemuͤth und die hoͤhere
Stimmung doch nur zu oft verletzt.

Wie man es eben nimmt, antwortete Man-
fred. Wir ſtehn hier auf der Stelle, auf wel-
cher ſich der Dualismus unſerer Natur und
Empfindung am wunderbarſten, reichhaltigſten
und grellſten offenbart. Sich den Witz und die
Schalkheit der Natur im Heiligſten und Lieb-
lichſten verſchweigen wollen, iſt vielleicht nur moͤg-
lich, wenn man geradezu Karthaͤuſer wird, und
vom Schweigen und Verſchweigen Profeſſion
macht. Wenn der Fruͤhling ſich mit allen ſei-
nen Schaͤtzen aufthut, und die Blumen gedraͤngt
um dich lachen, ſo kannſt du dich in deiner ruͤh-
renden Freude nicht erwehren, ihre Geſtalten zu
beobachten und manche Erinnerungen an dieſe
zu knuͤpfen, ja ſelbſt die holdſelige Roſe ruft dir
erroͤthend die raͤthſelhaften Reime alter Dichter
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[122/0133] Einleitung. um dergleichen allerliebſte Seltſamkeiten vorzu- tragen: alle ſeine Nachahmer, ſelbſt der Ban- dello nicht ausgenommen — gar des ganz verun- gluͤckten La Fontaine oder des neueren Caſti zu geſchweigen — bleiben weit hinter ihm zuruͤck, ſei nun von Styl, Erfindung, oder Schmuck des Gegenſtandes die Rede. Doch abgeſehn da- von, muß ich bezweifeln, daß der Dekameron gebildeten und freundlichen Gemuͤthern wirklich anſtoͤßig ſein koͤnnte. Dieſen Zweifel verſtehe ich nicht, ſagte An- ton, da er das zartere Gemuͤth und die hoͤhere Stimmung doch nur zu oft verletzt. Wie man es eben nimmt, antwortete Man- fred. Wir ſtehn hier auf der Stelle, auf wel- cher ſich der Dualismus unſerer Natur und Empfindung am wunderbarſten, reichhaltigſten und grellſten offenbart. Sich den Witz und die Schalkheit der Natur im Heiligſten und Lieb- lichſten verſchweigen wollen, iſt vielleicht nur moͤg- lich, wenn man geradezu Karthaͤuſer wird, und vom Schweigen und Verſchweigen Profeſſion macht. Wenn der Fruͤhling ſich mit allen ſei- nen Schaͤtzen aufthut, und die Blumen gedraͤngt um dich lachen, ſo kannſt du dich in deiner ruͤh- renden Freude nicht erwehren, ihre Geſtalten zu beobachten und manche Erinnerungen an dieſe zu knuͤpfen, ja ſelbſt die holdſelige Roſe ruft dir erroͤthend die raͤthſelhaften Reime alter Dichter entgegen, und ſie wird dir darum nicht unlieber,

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/133>, abgerufen am 21.11.2024.