ich dachte daran, daß er wahrscheinlich ohne meine Hülfe verhungern müsse, im Walde glaubt' ich oft die Alte würde mir plötzlich entgegen treten. So legte ich unter Thränen und Seufzern den Weg zurück; so oft ich ruhte, und den Käfig auf den Boden stellte, sang der Vogel sein wunderliches Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des schönen verlassenen Aufenthalts. Wie die mensch- liche Natur vergeßlich ist, so glaubt' ich jetzt, meine vormalige Reise in der Kindheit sey nicht so trüb- selig gewesen als meine jetzige; ich wünschte mich wieder in derselben Lage zu sein.
Ich hatte einige Edelsteine verkauft, und kam nun nach einer Wanderschaft von vielen Tagen in einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir wundersam zu Muthe, ich erschrack und wuste nicht worüber; aber bald erkannt' ich mich, denn es war dasselbe Dorf, in welchem ich geboren war. Wie ward ich überrascht! Wie liefen mir vor Freuden, wegen tausend seltsamer Erinnerun- gen, die Thränen von den Wangen! Vieles war verändert, es waren neue Häuser entstanden, an- dre die man damals erst errichtet hatte, waren jetzt verfallen, ich traf auch Brandstellen; alles war weit kleiner, gedrängter als ich erwartet hatte. Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun nach so manchen Jahren wieder zu sehn; ich fand das kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der Griff der Thür war noch ganz so wie damals, es war mir, als hätte ich sie nur gestern erst ange- lehnt; mein Herz klopfte ungestüm, ich öffnete sie
Erſte Abtheilung.
ich dachte daran, daß er wahrſcheinlich ohne meine Huͤlfe verhungern muͤſſe, im Walde glaubt' ich oft die Alte wuͤrde mir ploͤtzlich entgegen treten. So legte ich unter Thraͤnen und Seufzern den Weg zuruͤck; ſo oft ich ruhte, und den Kaͤfig auf den Boden ſtellte, ſang der Vogel ſein wunderliches Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des ſchoͤnen verlaſſenen Aufenthalts. Wie die menſch- liche Natur vergeßlich iſt, ſo glaubt' ich jetzt, meine vormalige Reiſe in der Kindheit ſey nicht ſo truͤb- ſelig geweſen als meine jetzige; ich wuͤnſchte mich wieder in derſelben Lage zu ſein.
Ich hatte einige Edelſteine verkauft, und kam nun nach einer Wanderſchaft von vielen Tagen in einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir wunderſam zu Muthe, ich erſchrack und wuſte nicht woruͤber; aber bald erkannt' ich mich, denn es war daſſelbe Dorf, in welchem ich geboren war. Wie ward ich uͤberraſcht! Wie liefen mir vor Freuden, wegen tauſend ſeltſamer Erinnerun- gen, die Thraͤnen von den Wangen! Vieles war veraͤndert, es waren neue Haͤuſer entſtanden, an- dre die man damals erſt errichtet hatte, waren jetzt verfallen, ich traf auch Brandſtellen; alles war weit kleiner, gedraͤngter als ich erwartet hatte. Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun nach ſo manchen Jahren wieder zu ſehn; ich fand das kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der Griff der Thuͤr war noch ganz ſo wie damals, es war mir, als haͤtte ich ſie nur geſtern erſt ange- lehnt; mein Herz klopfte ungeſtuͤm, ich oͤffnete ſie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0193"n="182"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
ich dachte daran, daß er wahrſcheinlich ohne meine<lb/>
Huͤlfe verhungern muͤſſe, im Walde glaubt' ich oft<lb/>
die Alte wuͤrde mir ploͤtzlich entgegen treten. So<lb/>
legte ich unter Thraͤnen und Seufzern den Weg<lb/>
zuruͤck; ſo oft ich ruhte, und den Kaͤfig auf den<lb/>
Boden ſtellte, ſang der Vogel ſein wunderliches<lb/>
Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des<lb/>ſchoͤnen verlaſſenen Aufenthalts. Wie die menſch-<lb/>
liche Natur vergeßlich iſt, ſo glaubt' ich jetzt, meine<lb/>
vormalige Reiſe in der Kindheit ſey nicht ſo truͤb-<lb/>ſelig geweſen als meine jetzige; ich wuͤnſchte mich<lb/>
wieder in derſelben Lage zu ſein.</p><lb/><p>Ich hatte einige Edelſteine verkauft, und kam<lb/>
nun nach einer Wanderſchaft von vielen Tagen in<lb/>
einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir<lb/>
wunderſam zu Muthe, ich erſchrack und wuſte<lb/>
nicht woruͤber; aber bald erkannt' ich mich, denn<lb/>
es war daſſelbe Dorf, in welchem ich geboren<lb/>
war. Wie ward ich uͤberraſcht! Wie liefen mir<lb/>
vor Freuden, wegen tauſend ſeltſamer Erinnerun-<lb/>
gen, die Thraͤnen von den Wangen! Vieles war<lb/>
veraͤndert, es waren neue Haͤuſer entſtanden, an-<lb/>
dre die man damals erſt errichtet hatte, waren<lb/>
jetzt verfallen, ich traf auch Brandſtellen; alles<lb/>
war weit kleiner, gedraͤngter als ich erwartet hatte.<lb/>
Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun<lb/>
nach ſo manchen Jahren wieder zu ſehn; ich fand<lb/>
das kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der<lb/>
Griff der Thuͤr war noch ganz ſo wie damals, es<lb/>
war mir, als haͤtte ich ſie nur geſtern erſt ange-<lb/>
lehnt; mein Herz klopfte ungeſtuͤm, ich oͤffnete ſie<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[182/0193]
Erſte Abtheilung.
ich dachte daran, daß er wahrſcheinlich ohne meine
Huͤlfe verhungern muͤſſe, im Walde glaubt' ich oft
die Alte wuͤrde mir ploͤtzlich entgegen treten. So
legte ich unter Thraͤnen und Seufzern den Weg
zuruͤck; ſo oft ich ruhte, und den Kaͤfig auf den
Boden ſtellte, ſang der Vogel ſein wunderliches
Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des
ſchoͤnen verlaſſenen Aufenthalts. Wie die menſch-
liche Natur vergeßlich iſt, ſo glaubt' ich jetzt, meine
vormalige Reiſe in der Kindheit ſey nicht ſo truͤb-
ſelig geweſen als meine jetzige; ich wuͤnſchte mich
wieder in derſelben Lage zu ſein.
Ich hatte einige Edelſteine verkauft, und kam
nun nach einer Wanderſchaft von vielen Tagen in
einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir
wunderſam zu Muthe, ich erſchrack und wuſte
nicht woruͤber; aber bald erkannt' ich mich, denn
es war daſſelbe Dorf, in welchem ich geboren
war. Wie ward ich uͤberraſcht! Wie liefen mir
vor Freuden, wegen tauſend ſeltſamer Erinnerun-
gen, die Thraͤnen von den Wangen! Vieles war
veraͤndert, es waren neue Haͤuſer entſtanden, an-
dre die man damals erſt errichtet hatte, waren
jetzt verfallen, ich traf auch Brandſtellen; alles
war weit kleiner, gedraͤngter als ich erwartet hatte.
Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun
nach ſo manchen Jahren wieder zu ſehn; ich fand
das kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der
Griff der Thuͤr war noch ganz ſo wie damals, es
war mir, als haͤtte ich ſie nur geſtern erſt ange-
lehnt; mein Herz klopfte ungeſtuͤm, ich oͤffnete ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/193>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.