den in der Verzweiflung unachtsam und saumse- lig; er suchte sich zu zerstreuen, und trank häufi- gen und starken Wein, der ihn verdrießlich und jähzornig machte, so daß oft Elisabeth mit heißen Zähren ihr Elend beweinte. So wie ihr Glück wich, zogen sich auch die Freunde im Dorfe von ihnen zurück, so daß sie sich nach einigen Jahren ganz verlassen sahn, und sich nur mit Mühe von einer Woche zur andern hinüber fristeten.
Es waren ihnen nur wenige Schafe und eine Kuh übrig geblieben, welche Elisabeth oft selber mit den Kindern hütete. So saß sie einst mit ihrer Arbeit auf dem Anger, Leonore zu ihrer Seite und ein säugendes Kind an der Brust, als sie von ferne herauf eine wunderbare Gestalt kom- men sahen. Es war ein Mann in einem ganz zerrissenen Rocke, baarfüßig, sein Gesicht schwarz- braun von der Sonne verbrannt, von einem lan- gen struppigen Bart noch mehr entstellt; er trug keine Bedeckung auf dem Kopf, hatte aber von grünem Laube einen Kranz durch sein Haar ge- flochten, welcher sein wildes Ansehn noch seltsa- mer und unbegreiflicher machte. Auf dem Rücken trug er in einem fest geschnürten Sack eine schwere Ladung, im Gehen stützte er sich auf eine junge Fichte.
Als er näher kam, setzte er seine Last nieder, und holte schwer Athem. Er bot der Frau guten Tag, die sich vor seinem Anblick entsetzte, das Mädchen schmiegte sich an ihre Mutter. Als er ein wenig geruht hatte, sagte er: nun komme ich
Erſte Abtheilung.
den in der Verzweiflung unachtſam und ſaumſe- lig; er ſuchte ſich zu zerſtreuen, und trank haͤufi- gen und ſtarken Wein, der ihn verdrießlich und jaͤhzornig machte, ſo daß oft Eliſabeth mit heißen Zaͤhren ihr Elend beweinte. So wie ihr Gluͤck wich, zogen ſich auch die Freunde im Dorfe von ihnen zuruͤck, ſo daß ſie ſich nach einigen Jahren ganz verlaſſen ſahn, und ſich nur mit Muͤhe von einer Woche zur andern hinuͤber friſteten.
Es waren ihnen nur wenige Schafe und eine Kuh uͤbrig geblieben, welche Eliſabeth oft ſelber mit den Kindern huͤtete. So ſaß ſie einſt mit ihrer Arbeit auf dem Anger, Leonore zu ihrer Seite und ein ſaͤugendes Kind an der Bruſt, als ſie von ferne herauf eine wunderbare Geſtalt kom- men ſahen. Es war ein Mann in einem ganz zerriſſenen Rocke, baarfuͤßig, ſein Geſicht ſchwarz- braun von der Sonne verbrannt, von einem lan- gen ſtruppigen Bart noch mehr entſtellt; er trug keine Bedeckung auf dem Kopf, hatte aber von gruͤnem Laube einen Kranz durch ſein Haar ge- flochten, welcher ſein wildes Anſehn noch ſeltſa- mer und unbegreiflicher machte. Auf dem Ruͤcken trug er in einem feſt geſchnuͤrten Sack eine ſchwere Ladung, im Gehen ſtuͤtzte er ſich auf eine junge Fichte.
Als er naͤher kam, ſetzte er ſeine Laſt nieder, und holte ſchwer Athem. Er bot der Frau guten Tag, die ſich vor ſeinem Anblick entſetzte, das Maͤdchen ſchmiegte ſich an ihre Mutter. Als er ein wenig geruht hatte, ſagte er: nun komme ich
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Erſte Abtheilung.
den in der Verzweiflung unachtſam und ſaumſe-
lig; er ſuchte ſich zu zerſtreuen, und trank haͤufi-
gen und ſtarken Wein, der ihn verdrießlich und
jaͤhzornig machte, ſo daß oft Eliſabeth mit heißen
Zaͤhren ihr Elend beweinte. So wie ihr Gluͤck
wich, zogen ſich auch die Freunde im Dorfe von
ihnen zuruͤck, ſo daß ſie ſich nach einigen Jahren
ganz verlaſſen ſahn, und ſich nur mit Muͤhe von
einer Woche zur andern hinuͤber friſteten.
Es waren ihnen nur wenige Schafe und eine
Kuh uͤbrig geblieben, welche Eliſabeth oft ſelber
mit den Kindern huͤtete. So ſaß ſie einſt mit
ihrer Arbeit auf dem Anger, Leonore zu ihrer
Seite und ein ſaͤugendes Kind an der Bruſt, als
ſie von ferne herauf eine wunderbare Geſtalt kom-
men ſahen. Es war ein Mann in einem ganz
zerriſſenen Rocke, baarfuͤßig, ſein Geſicht ſchwarz-
braun von der Sonne verbrannt, von einem lan-
gen ſtruppigen Bart noch mehr entſtellt; er trug
keine Bedeckung auf dem Kopf, hatte aber von
gruͤnem Laube einen Kranz durch ſein Haar ge-
flochten, welcher ſein wildes Anſehn noch ſeltſa-
mer und unbegreiflicher machte. Auf dem Ruͤcken
trug er in einem feſt geſchnuͤrten Sack eine ſchwere
Ladung, im Gehen ſtuͤtzte er ſich auf eine junge
Fichte.
Als er naͤher kam, ſetzte er ſeine Laſt nieder,
und holte ſchwer Athem. Er bot der Frau guten
Tag, die ſich vor ſeinem Anblick entſetzte, das
Maͤdchen ſchmiegte ſich an ihre Mutter. Als er
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/281>, abgerufen am 22.11.2024.
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