Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Elfen.

Am Abend war die Kleine sehr still und küßte
weinend die Rose, Marien war ängstlich zu Sinne,
Andres sprach wenig. Es wurde Nacht. Plötzlich
rauschten die Bäume, Vögel flogen mit ängstli-
chem Geschrei umher, man hörte den Donner rol-
len, die Erde zitterte und Klagetöne winselten in
der Luft. Marie und Andres hatten nicht den
Muth aufzustehn; sie hüllten sich in die Decken
und erwarteten mit Furcht und Zittern den Tag.
Gegen Morgen ward es ruhiger, und alles war
still, als die Sonne mit ihrem heitern Lichte über
den Wald hervor drang.

Andres kleidete sich an, und Marie bemerkte,
daß der Stein des Ringes an ihrem Finger ver-
blaßt war. Als sie die Thür öffneten, schien ihnen
die Sonne klar entgegen, aber die Landschaft um-
her kannten sie kaum wieder. Die Frische des Wal-
des war verschwunden, die Hügel hatten sich ge-
senkt, die Bäche flossen matt mit wenigem Wasser,
der Himmel schien grau, und als man den Blick
nach den Tannen hinüber wandte, standen sie nicht
finstrer oder trauriger da, als die übrigen Bäume;
die Hütten hinter ihnen hatten nichts Abschrecken-
des, und mehrere Einwohner des Dorfes kamen
und erzählten von der seltsamen Nacht, und daß
sie über den Hof gegangen seyen, wo die Zigeuner
gewohnt, die wohl fortgegangen seyn müßten, weil
die Hütten leer ständen, und im Innern ganz ge-
wöhnlich wie die Wohnungen andrer armen Leute
aussähen; einiges vom Hausrath wäre zurück ge-
blieben. Elfriede sagte zu ihrer Mutter heimlich:

Die Elfen.

Am Abend war die Kleine ſehr ſtill und kuͤßte
weinend die Roſe, Marien war aͤngſtlich zu Sinne,
Andres ſprach wenig. Es wurde Nacht. Ploͤtzlich
rauſchten die Baͤume, Voͤgel flogen mit aͤngſtli-
chem Geſchrei umher, man hoͤrte den Donner rol-
len, die Erde zitterte und Klagetoͤne winſelten in
der Luft. Marie und Andres hatten nicht den
Muth aufzuſtehn; ſie huͤllten ſich in die Decken
und erwarteten mit Furcht und Zittern den Tag.
Gegen Morgen ward es ruhiger, und alles war
ſtill, als die Sonne mit ihrem heitern Lichte uͤber
den Wald hervor drang.

Andres kleidete ſich an, und Marie bemerkte,
daß der Stein des Ringes an ihrem Finger ver-
blaßt war. Als ſie die Thuͤr oͤffneten, ſchien ihnen
die Sonne klar entgegen, aber die Landſchaft um-
her kannten ſie kaum wieder. Die Friſche des Wal-
des war verſchwunden, die Huͤgel hatten ſich ge-
ſenkt, die Baͤche floſſen matt mit wenigem Waſſer,
der Himmel ſchien grau, und als man den Blick
nach den Tannen hinuͤber wandte, ſtanden ſie nicht
finſtrer oder trauriger da, als die uͤbrigen Baͤume;
die Huͤtten hinter ihnen hatten nichts Abſchrecken-
des, und mehrere Einwohner des Dorfes kamen
und erzaͤhlten von der ſeltſamen Nacht, und daß
ſie uͤber den Hof gegangen ſeyen, wo die Zigeuner
gewohnt, die wohl fortgegangen ſeyn muͤßten, weil
die Huͤtten leer ſtaͤnden, und im Innern ganz ge-
woͤhnlich wie die Wohnungen andrer armen Leute
ausſaͤhen; einiges vom Hausrath waͤre zuruͤck ge-
blieben. Elfriede ſagte zu ihrer Mutter heimlich:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0438" n="427"/>
          <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Die Elfen</hi>.</fw><lb/>
          <p>Am Abend war die Kleine &#x017F;ehr &#x017F;till und ku&#x0364;ßte<lb/>
weinend die Ro&#x017F;e, Marien war a&#x0364;ng&#x017F;tlich zu Sinne,<lb/>
Andres &#x017F;prach wenig. Es wurde Nacht. Plo&#x0364;tzlich<lb/>
rau&#x017F;chten die Ba&#x0364;ume, Vo&#x0364;gel flogen mit a&#x0364;ng&#x017F;tli-<lb/>
chem Ge&#x017F;chrei umher, man ho&#x0364;rte den Donner rol-<lb/>
len, die Erde zitterte und Klageto&#x0364;ne win&#x017F;elten in<lb/>
der Luft. Marie und Andres hatten nicht den<lb/>
Muth aufzu&#x017F;tehn; &#x017F;ie hu&#x0364;llten &#x017F;ich in die Decken<lb/>
und erwarteten mit Furcht und Zittern den Tag.<lb/>
Gegen Morgen ward es ruhiger, und alles war<lb/>
&#x017F;till, als die Sonne mit ihrem heitern Lichte u&#x0364;ber<lb/>
den Wald hervor drang.</p><lb/>
          <p>Andres kleidete &#x017F;ich an, und Marie bemerkte,<lb/>
daß der Stein des Ringes an ihrem Finger ver-<lb/>
blaßt war. Als &#x017F;ie die Thu&#x0364;r o&#x0364;ffneten, &#x017F;chien ihnen<lb/>
die Sonne klar entgegen, aber die Land&#x017F;chaft um-<lb/>
her kannten &#x017F;ie kaum wieder. Die Fri&#x017F;che des Wal-<lb/>
des war ver&#x017F;chwunden, die Hu&#x0364;gel hatten &#x017F;ich ge-<lb/>
&#x017F;enkt, die Ba&#x0364;che flo&#x017F;&#x017F;en matt mit wenigem Wa&#x017F;&#x017F;er,<lb/>
der Himmel &#x017F;chien grau, und als man den Blick<lb/>
nach den Tannen hinu&#x0364;ber wandte, &#x017F;tanden &#x017F;ie nicht<lb/>
fin&#x017F;trer oder trauriger da, als die u&#x0364;brigen Ba&#x0364;ume;<lb/>
die Hu&#x0364;tten hinter ihnen hatten nichts Ab&#x017F;chrecken-<lb/>
des, und mehrere Einwohner des Dorfes kamen<lb/>
und erza&#x0364;hlten von der &#x017F;elt&#x017F;amen Nacht, und daß<lb/>
&#x017F;ie u&#x0364;ber den Hof gegangen &#x017F;eyen, wo die Zigeuner<lb/>
gewohnt, die wohl fortgegangen &#x017F;eyn mu&#x0364;ßten, weil<lb/>
die Hu&#x0364;tten leer &#x017F;ta&#x0364;nden, und im Innern ganz ge-<lb/>
wo&#x0364;hnlich wie die Wohnungen andrer armen Leute<lb/>
aus&#x017F;a&#x0364;hen; einiges vom Hausrath wa&#x0364;re zuru&#x0364;ck ge-<lb/>
blieben. Elfriede &#x017F;agte zu ihrer Mutter heimlich:<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[427/0438] Die Elfen. Am Abend war die Kleine ſehr ſtill und kuͤßte weinend die Roſe, Marien war aͤngſtlich zu Sinne, Andres ſprach wenig. Es wurde Nacht. Ploͤtzlich rauſchten die Baͤume, Voͤgel flogen mit aͤngſtli- chem Geſchrei umher, man hoͤrte den Donner rol- len, die Erde zitterte und Klagetoͤne winſelten in der Luft. Marie und Andres hatten nicht den Muth aufzuſtehn; ſie huͤllten ſich in die Decken und erwarteten mit Furcht und Zittern den Tag. Gegen Morgen ward es ruhiger, und alles war ſtill, als die Sonne mit ihrem heitern Lichte uͤber den Wald hervor drang. Andres kleidete ſich an, und Marie bemerkte, daß der Stein des Ringes an ihrem Finger ver- blaßt war. Als ſie die Thuͤr oͤffneten, ſchien ihnen die Sonne klar entgegen, aber die Landſchaft um- her kannten ſie kaum wieder. Die Friſche des Wal- des war verſchwunden, die Huͤgel hatten ſich ge- ſenkt, die Baͤche floſſen matt mit wenigem Waſſer, der Himmel ſchien grau, und als man den Blick nach den Tannen hinuͤber wandte, ſtanden ſie nicht finſtrer oder trauriger da, als die uͤbrigen Baͤume; die Huͤtten hinter ihnen hatten nichts Abſchrecken- des, und mehrere Einwohner des Dorfes kamen und erzaͤhlten von der ſeltſamen Nacht, und daß ſie uͤber den Hof gegangen ſeyen, wo die Zigeuner gewohnt, die wohl fortgegangen ſeyn muͤßten, weil die Huͤtten leer ſtaͤnden, und im Innern ganz ge- woͤhnlich wie die Wohnungen andrer armen Leute ausſaͤhen; einiges vom Hausrath waͤre zuruͤck ge- blieben. Elfriede ſagte zu ihrer Mutter heimlich:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/438
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/438>, abgerufen am 22.11.2024.