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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
und in den Symphonien vernehmen wir aus
dem tiefsten Grunde heraus das unersättliche,
aus sich verirrende und in sich zurück kehrende
Sehnen, jenes unaussprechliche Verlangen, das
nirgend Erfüllung findet und in verzehrender
Leidenschaft sich in den Strom des Wahnsinns
wirft, nun mit allen Tönen kämpft, bald über-
wältigt bald siegend aus den Wogen ruft, und
Rettung suchend tiefer und tiefer versinkt. Und
wie es dem Menschen allenthalben geschieht,
wenn er alle Schranken überfliegen und das
Letzte und Höchste erringen will, daß die Leiden-
schaft in sich selbst zerbricht und zersplittert, das
Gegentheil ihrer ursprünglichen Größe, so ge-
schieht es auch wohl in dieser Kunst großen
Talenten. Wenn wir Mozart wahnsinnig nen-
nen dürfen, so ist der genialische Beethoven oft
nicht vom Rasenden zu unterscheiden, der selten
einen musikalischen Gedanken verfolgt und sich
in ihm beruhigt, sondern durch die gewaltthä-
tigsten Uebergänge springt und der Phantasie
gleichsam selbst im rastlosen Kampfe zu entflie-
hen sucht.

Alle diese neuen tiefsinnigen Bestrebungen,
sagte Anton, sind meinem Gemüthe nicht fremd,
sie tönen wie das Rauschen des Lebensstromes
zwischen Felsenufern, der über Klippen und
hemmendem Gestein in romantischer Wildniß
musikalisch braust; nur das ist mir unbegreiflich
geblieben, wie die Schöpfung und die Tages-

Erſte Abtheilung.
und in den Symphonien vernehmen wir aus
dem tiefſten Grunde heraus das unerſaͤttliche,
aus ſich verirrende und in ſich zuruͤck kehrende
Sehnen, jenes unausſprechliche Verlangen, das
nirgend Erfuͤllung findet und in verzehrender
Leidenſchaft ſich in den Strom des Wahnſinns
wirft, nun mit allen Toͤnen kaͤmpft, bald uͤber-
waͤltigt bald ſiegend aus den Wogen ruft, und
Rettung ſuchend tiefer und tiefer verſinkt. Und
wie es dem Menſchen allenthalben geſchieht,
wenn er alle Schranken uͤberfliegen und das
Letzte und Hoͤchſte erringen will, daß die Leiden-
ſchaft in ſich ſelbſt zerbricht und zerſplittert, das
Gegentheil ihrer urſpruͤnglichen Groͤße, ſo ge-
ſchieht es auch wohl in dieſer Kunſt großen
Talenten. Wenn wir Mozart wahnſinnig nen-
nen duͤrfen, ſo iſt der genialiſche Beethoven oft
nicht vom Raſenden zu unterſcheiden, der ſelten
einen muſikaliſchen Gedanken verfolgt und ſich
in ihm beruhigt, ſondern durch die gewaltthaͤ-
tigſten Uebergaͤnge ſpringt und der Phantaſie
gleichſam ſelbſt im raſtloſen Kampfe zu entflie-
hen ſucht.

Alle dieſe neuen tiefſinnigen Beſtrebungen,
ſagte Anton, ſind meinem Gemuͤthe nicht fremd,
ſie toͤnen wie das Rauſchen des Lebensſtromes
zwiſchen Felſenufern, der uͤber Klippen und
hemmendem Geſtein in romantiſcher Wildniß
muſikaliſch brauſt; nur das iſt mir unbegreiflich
geblieben, wie die Schoͤpfung und die Tages-

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[470/0481] Erſte Abtheilung. und in den Symphonien vernehmen wir aus dem tiefſten Grunde heraus das unerſaͤttliche, aus ſich verirrende und in ſich zuruͤck kehrende Sehnen, jenes unausſprechliche Verlangen, das nirgend Erfuͤllung findet und in verzehrender Leidenſchaft ſich in den Strom des Wahnſinns wirft, nun mit allen Toͤnen kaͤmpft, bald uͤber- waͤltigt bald ſiegend aus den Wogen ruft, und Rettung ſuchend tiefer und tiefer verſinkt. Und wie es dem Menſchen allenthalben geſchieht, wenn er alle Schranken uͤberfliegen und das Letzte und Hoͤchſte erringen will, daß die Leiden- ſchaft in ſich ſelbſt zerbricht und zerſplittert, das Gegentheil ihrer urſpruͤnglichen Groͤße, ſo ge- ſchieht es auch wohl in dieſer Kunſt großen Talenten. Wenn wir Mozart wahnſinnig nen- nen duͤrfen, ſo iſt der genialiſche Beethoven oft nicht vom Raſenden zu unterſcheiden, der ſelten einen muſikaliſchen Gedanken verfolgt und ſich in ihm beruhigt, ſondern durch die gewaltthaͤ- tigſten Uebergaͤnge ſpringt und der Phantaſie gleichſam ſelbſt im raſtloſen Kampfe zu entflie- hen ſucht. Alle dieſe neuen tiefſinnigen Beſtrebungen, ſagte Anton, ſind meinem Gemuͤthe nicht fremd, ſie toͤnen wie das Rauſchen des Lebensſtromes zwiſchen Felſenufern, der uͤber Klippen und hemmendem Geſtein in romantiſcher Wildniß muſikaliſch brauſt; nur das iſt mir unbegreiflich geblieben, wie die Schoͤpfung und die Tages-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/481>, abgerufen am 22.11.2024.