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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
grämliche Mine und dein suchender umschauen-
der Blick sagen mir nichts geringeres. Nun,
wer ist denn deine Schöne? Klara? oder die
junge anmuthige Gattinn? oder Manfreds Schwe-
ster, Auguste? oder die liebenswürdige Schwie-
germutter, die ihr alle lieber Emilie nennt, und
die auch freundlich diesem Taufnamen entgegen
horcht? oder liebst du sie gar alle?

Du bleibst ein Thor, fuhr Wilibald halb
lachend auf, und ihr alle seid so seltsame liebe
und unausstehliche Menschen, daß man eben so
wenig ohne euch, als mit euch leben kann. In
der Ferne sehn' ich mich nach euch allen und bin
ungemuth, und in der Nähe ärgre ich mich über
alle eure mannigfaltigen Thorheiten.

Nun, fragte Theodor, was hast du denn
Großes an uns auszusetzen?

Du solltest mich nicht zu solchen Klagelie-
dern auffordern, antwortete Wilibald: daß ihr
alle immer nur so sehr vernünftig und geistreich
seid, wo es nicht hin gehört, und niemals da,
wo ihr Vernunft zeigen müßtet! da ist der Man-
fred, der sich für einen Heros der Männlichkeit
hält, welcher meint, sich und seine Empfindun-
gen so ganz in der Gewalt zu haben, und sich
heraus nimmt, jeden zu verachten, den irgend
ein Kummer quält, und der doch selbst ohne alle
Veranlassung so unerträglich melankolisch sein
kann, daß er über die ganze Welt die Schul-
tern zuckt, weil sie eben schwach genug ist, nur

Einleitung.
graͤmliche Mine und dein ſuchender umſchauen-
der Blick ſagen mir nichts geringeres. Nun,
wer iſt denn deine Schoͤne? Klara? oder die
junge anmuthige Gattinn? oder Manfreds Schwe-
ſter, Auguſte? oder die liebenswuͤrdige Schwie-
germutter, die ihr alle lieber Emilie nennt, und
die auch freundlich dieſem Taufnamen entgegen
horcht? oder liebſt du ſie gar alle?

Du bleibſt ein Thor, fuhr Wilibald halb
lachend auf, und ihr alle ſeid ſo ſeltſame liebe
und unausſtehliche Menſchen, daß man eben ſo
wenig ohne euch, als mit euch leben kann. In
der Ferne ſehn' ich mich nach euch allen und bin
ungemuth, und in der Naͤhe aͤrgre ich mich uͤber
alle eure mannigfaltigen Thorheiten.

Nun, fragte Theodor, was haſt du denn
Großes an uns auszuſetzen?

Du ſollteſt mich nicht zu ſolchen Klagelie-
dern auffordern, antwortete Wilibald: daß ihr
alle immer nur ſo ſehr vernuͤnftig und geiſtreich
ſeid, wo es nicht hin gehoͤrt, und niemals da,
wo ihr Vernunft zeigen muͤßtet! da iſt der Man-
fred, der ſich fuͤr einen Heros der Maͤnnlichkeit
haͤlt, welcher meint, ſich und ſeine Empfindun-
gen ſo ganz in der Gewalt zu haben, und ſich
heraus nimmt, jeden zu verachten, den irgend
ein Kummer quaͤlt, und der doch ſelbſt ohne alle
Veranlaſſung ſo unertraͤglich melankoliſch ſein
kann, daß er uͤber die ganze Welt die Schul-
tern zuckt, weil ſie eben ſchwach genug iſt, nur

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[52/0063] Einleitung. graͤmliche Mine und dein ſuchender umſchauen- der Blick ſagen mir nichts geringeres. Nun, wer iſt denn deine Schoͤne? Klara? oder die junge anmuthige Gattinn? oder Manfreds Schwe- ſter, Auguſte? oder die liebenswuͤrdige Schwie- germutter, die ihr alle lieber Emilie nennt, und die auch freundlich dieſem Taufnamen entgegen horcht? oder liebſt du ſie gar alle? Du bleibſt ein Thor, fuhr Wilibald halb lachend auf, und ihr alle ſeid ſo ſeltſame liebe und unausſtehliche Menſchen, daß man eben ſo wenig ohne euch, als mit euch leben kann. In der Ferne ſehn' ich mich nach euch allen und bin ungemuth, und in der Naͤhe aͤrgre ich mich uͤber alle eure mannigfaltigen Thorheiten. Nun, fragte Theodor, was haſt du denn Großes an uns auszuſetzen? Du ſollteſt mich nicht zu ſolchen Klagelie- dern auffordern, antwortete Wilibald: daß ihr alle immer nur ſo ſehr vernuͤnftig und geiſtreich ſeid, wo es nicht hin gehoͤrt, und niemals da, wo ihr Vernunft zeigen muͤßtet! da iſt der Man- fred, der ſich fuͤr einen Heros der Maͤnnlichkeit haͤlt, welcher meint, ſich und ſeine Empfindun- gen ſo ganz in der Gewalt zu haben, und ſich heraus nimmt, jeden zu verachten, den irgend ein Kummer quaͤlt, und der doch ſelbſt ohne alle Veranlaſſung ſo unertraͤglich melankoliſch ſein kann, daß er uͤber die ganze Welt die Schul- tern zuckt, weil ſie eben ſchwach genug iſt, nur

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/63>, abgerufen am 21.11.2024.