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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.

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Zweite Abtheilung.
unsers Selbst halten, nach Jahren oder Mona-
ten als das Fremdeste entgegentreten kann; so
muß ich fürchten, daß mich meine vorige Lust und
Laune jetzt nur beschämen und demüthigen wird.

Welche tüchtige Unwahrheit, rief Manfred,
hast Du da eben ausgesprochen! Zwar habe ich
dasselbe erlebt, aber nur in leidenschaftlicher
Stimmung, die niemals richten kann, am we-
nigsten uns selbst, weil das, was die Stimme
der Verurtheilung alsdann hören läßt, kein freies
Wesen ist. Was wirklich wir selbst sind, kann
uns niemals fremd werden; in späterer Zeit,
wenn der Rausch verflogen ist, der unser Auge
blendete, erkennen wir um so lieber unsre Eigen-
thümlichkeit in Gesinnungen, die wir verwerfen
wollten. Wahrscheinlich wirst Du erst in Zu-
kunft absondern können, was in Deiner jetzigen
Stimmung Verstimmung ist. Lieber, es ist na-
türlich, und sogar schön, daß wir, wenn wir
wahrhaft erhoben oder tief gerührt sind, eine
kleine Lüge noch hinzu mischen, um nur alles,
was uns geringe dünkt, auf immer von uns ab-
zuweisen; aber daß es nur nicht so weit komme
sich armer Verwandten oder Eltern in sogenann-
ter guter Gesellschaft zu schämen. Die erleuchtet-
sten und andächtigsten Männer haben immer die
körperliche mechanische Arbeit für nothwendig ge-
halten, um nicht zu schwärmen, oder herzensleer
zu werden; das Edle, Begeisterte, verstoße ja Laune,
Lust und Lachen nicht, um sich nicht in sich selbst
zu
Zweite Abtheilung.
unſers Selbſt halten, nach Jahren oder Mona-
ten als das Fremdeſte entgegentreten kann; ſo
muß ich fuͤrchten, daß mich meine vorige Luſt und
Laune jetzt nur beſchaͤmen und demuͤthigen wird.

Welche tuͤchtige Unwahrheit, rief Manfred,
haſt Du da eben ausgeſprochen! Zwar habe ich
daſſelbe erlebt, aber nur in leidenſchaftlicher
Stimmung, die niemals richten kann, am we-
nigſten uns ſelbſt, weil das, was die Stimme
der Verurtheilung alsdann hoͤren laͤßt, kein freies
Weſen iſt. Was wirklich wir ſelbſt ſind, kann
uns niemals fremd werden; in ſpaͤterer Zeit,
wenn der Rauſch verflogen iſt, der unſer Auge
blendete, erkennen wir um ſo lieber unſre Eigen-
thuͤmlichkeit in Geſinnungen, die wir verwerfen
wollten. Wahrſcheinlich wirſt Du erſt in Zu-
kunft abſondern koͤnnen, was in Deiner jetzigen
Stimmung Verſtimmung iſt. Lieber, es iſt na-
tuͤrlich, und ſogar ſchoͤn, daß wir, wenn wir
wahrhaft erhoben oder tief geruͤhrt ſind, eine
kleine Luͤge noch hinzu miſchen, um nur alles,
was uns geringe duͤnkt, auf immer von uns ab-
zuweiſen; aber daß es nur nicht ſo weit komme
ſich armer Verwandten oder Eltern in ſogenann-
ter guter Geſellſchaft zu ſchaͤmen. Die erleuchtet-
ſten und andaͤchtigſten Maͤnner haben immer die
koͤrperliche mechaniſche Arbeit fuͤr nothwendig ge-
halten, um nicht zu ſchwaͤrmen, oder herzensleer
zu werden; das Edle, Begeiſterte, verſtoße ja Laune,
Luſt und Lachen nicht, um ſich nicht in ſich ſelbſt
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[224/0234] Zweite Abtheilung. unſers Selbſt halten, nach Jahren oder Mona- ten als das Fremdeſte entgegentreten kann; ſo muß ich fuͤrchten, daß mich meine vorige Luſt und Laune jetzt nur beſchaͤmen und demuͤthigen wird. Welche tuͤchtige Unwahrheit, rief Manfred, haſt Du da eben ausgeſprochen! Zwar habe ich daſſelbe erlebt, aber nur in leidenſchaftlicher Stimmung, die niemals richten kann, am we- nigſten uns ſelbſt, weil das, was die Stimme der Verurtheilung alsdann hoͤren laͤßt, kein freies Weſen iſt. Was wirklich wir ſelbſt ſind, kann uns niemals fremd werden; in ſpaͤterer Zeit, wenn der Rauſch verflogen iſt, der unſer Auge blendete, erkennen wir um ſo lieber unſre Eigen- thuͤmlichkeit in Geſinnungen, die wir verwerfen wollten. Wahrſcheinlich wirſt Du erſt in Zu- kunft abſondern koͤnnen, was in Deiner jetzigen Stimmung Verſtimmung iſt. Lieber, es iſt na- tuͤrlich, und ſogar ſchoͤn, daß wir, wenn wir wahrhaft erhoben oder tief geruͤhrt ſind, eine kleine Luͤge noch hinzu miſchen, um nur alles, was uns geringe duͤnkt, auf immer von uns ab- zuweiſen; aber daß es nur nicht ſo weit komme ſich armer Verwandten oder Eltern in ſogenann- ter guter Geſellſchaft zu ſchaͤmen. Die erleuchtet- ſten und andaͤchtigſten Maͤnner haben immer die koͤrperliche mechaniſche Arbeit fuͤr nothwendig ge- halten, um nicht zu ſchwaͤrmen, oder herzensleer zu werden; das Edle, Begeiſterte, verſtoße ja Laune, Luſt und Lachen nicht, um ſich nicht in ſich ſelbſt zu

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/234>, abgerufen am 21.11.2024.