Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.
Zweite Abtheilung. also in der jetzigen Gestalt erst gegen das Endedes funfzehnten Jahrhunderts geschrieben seyn. Damit stimmt aber der Umstand nicht, daß Con- stantinopel noch als eine christliche Residenz an- genommen wird. Man wird der Entstehung von dergleichen Geschichten nie ganz auf den Grund kommen können, auch ist eine zu weit gehende Kritik nicht angewandt, weil von den meisten Mährchen sich die Grundvorstellungen bei allen Völkern zu verschiedenen Zeiten finden. Der Erzähler meines Volksbuchs zeigt sich als ein ge- bildeter Schriftsteller, so daß sein Gedicht nicht, wie so viele Volksbücher, nur ein verstümmeln- der Auszug aus einem ältern, größern Werke seyn kann. Das Wenige von Nachweisung auf Historie muß zufällig hinein gekommen sein. Darüber können wir uns nicht täuschen, daß das Ganze einen heitern modernen Anstrich hat. Die Bearbeitung dieses ersten Theiles, sagte Wilibald, dünkt meinem Gehör gleich einem musikalischen Stücke mit seinen Variationen. Derselbe Satz, dieselbe Aufgabe kehrt wieder, und wird am Ende ziemlich willkührlich aufge- löst. Darum sehen sich die komischen Nebenfi- guren ähnlich, und wenn nicht zuletzt die Eltern wieder aufträten, und den Schluß mit dem An- fang verknüpften, so bestände das Stück fast nur aus sechs oder sieben dialogirten Anekdoten. Freilich hat in unserer Welt ein durchgefallener Autor nicht das Recht, denjenigen, der nicht ge- Zweite Abtheilung. alſo in der jetzigen Geſtalt erſt gegen das Endedes funfzehnten Jahrhunderts geſchrieben ſeyn. Damit ſtimmt aber der Umſtand nicht, daß Con- ſtantinopel noch als eine chriſtliche Reſidenz an- genommen wird. Man wird der Entſtehung von dergleichen Geſchichten nie ganz auf den Grund kommen koͤnnen, auch iſt eine zu weit gehende Kritik nicht angewandt, weil von den meiſten Maͤhrchen ſich die Grundvorſtellungen bei allen Voͤlkern zu verſchiedenen Zeiten finden. Der Erzaͤhler meines Volksbuchs zeigt ſich als ein ge- bildeter Schriftſteller, ſo daß ſein Gedicht nicht, wie ſo viele Volksbuͤcher, nur ein verſtuͤmmeln- der Auszug aus einem aͤltern, groͤßern Werke ſeyn kann. Das Wenige von Nachweiſung auf Hiſtorie muß zufaͤllig hinein gekommen ſein. Daruͤber koͤnnen wir uns nicht taͤuſchen, daß das Ganze einen heitern modernen Anſtrich hat. Die Bearbeitung dieſes erſten Theiles, ſagte Wilibald, duͤnkt meinem Gehoͤr gleich einem muſikaliſchen Stuͤcke mit ſeinen Variationen. Derſelbe Satz, dieſelbe Aufgabe kehrt wieder, und wird am Ende ziemlich willkuͤhrlich aufge- loͤſt. Darum ſehen ſich die komiſchen Nebenfi- guren aͤhnlich, und wenn nicht zuletzt die Eltern wieder auftraͤten, und den Schluß mit dem An- fang verknuͤpften, ſo beſtaͤnde das Stuͤck faſt nur aus ſechs oder ſieben dialogirten Anekdoten. Freilich hat in unſerer Welt ein durchgefallener Autor nicht das Recht, denjenigen, der nicht ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <sp who="#VAL"> <p><pb facs="#f0236" n="226"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/> alſo in der jetzigen Geſtalt erſt gegen das Ende<lb/> des funfzehnten Jahrhunderts geſchrieben ſeyn.<lb/> Damit ſtimmt aber der Umſtand nicht, daß Con-<lb/> ſtantinopel noch als eine chriſtliche Reſidenz an-<lb/> genommen wird. Man wird der Entſtehung von<lb/> dergleichen Geſchichten nie ganz auf den Grund<lb/> kommen koͤnnen, auch iſt eine zu weit gehende<lb/> Kritik nicht angewandt, weil von den meiſten<lb/> Maͤhrchen ſich die Grundvorſtellungen bei allen<lb/> Voͤlkern zu verſchiedenen Zeiten finden. Der<lb/> Erzaͤhler meines Volksbuchs zeigt ſich als ein ge-<lb/> bildeter Schriftſteller, ſo daß ſein Gedicht nicht,<lb/> wie ſo viele Volksbuͤcher, nur ein verſtuͤmmeln-<lb/> der Auszug aus einem aͤltern, groͤßern Werke<lb/> ſeyn kann. Das Wenige von Nachweiſung auf<lb/> Hiſtorie muß zufaͤllig hinein gekommen ſein.<lb/> Daruͤber koͤnnen wir uns nicht taͤuſchen, daß das<lb/> Ganze einen heitern modernen Anſtrich hat.</p><lb/> <p>Die Bearbeitung dieſes erſten Theiles, ſagte<lb/> Wilibald, duͤnkt meinem Gehoͤr gleich einem<lb/> muſikaliſchen Stuͤcke mit ſeinen Variationen.<lb/> Derſelbe Satz, dieſelbe Aufgabe kehrt wieder,<lb/> und wird am Ende ziemlich willkuͤhrlich aufge-<lb/> loͤſt. Darum ſehen ſich die komiſchen Nebenfi-<lb/> guren aͤhnlich, und wenn nicht zuletzt die Eltern<lb/> wieder auftraͤten, und den Schluß mit dem An-<lb/> fang verknuͤpften, ſo beſtaͤnde das Stuͤck faſt<lb/> nur aus ſechs oder ſieben dialogirten Anekdoten.<lb/> Freilich hat in unſerer Welt ein durchgefallener<lb/> Autor nicht das Recht, denjenigen, der nicht ge-<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [226/0236]
Zweite Abtheilung.
alſo in der jetzigen Geſtalt erſt gegen das Ende
des funfzehnten Jahrhunderts geſchrieben ſeyn.
Damit ſtimmt aber der Umſtand nicht, daß Con-
ſtantinopel noch als eine chriſtliche Reſidenz an-
genommen wird. Man wird der Entſtehung von
dergleichen Geſchichten nie ganz auf den Grund
kommen koͤnnen, auch iſt eine zu weit gehende
Kritik nicht angewandt, weil von den meiſten
Maͤhrchen ſich die Grundvorſtellungen bei allen
Voͤlkern zu verſchiedenen Zeiten finden. Der
Erzaͤhler meines Volksbuchs zeigt ſich als ein ge-
bildeter Schriftſteller, ſo daß ſein Gedicht nicht,
wie ſo viele Volksbuͤcher, nur ein verſtuͤmmeln-
der Auszug aus einem aͤltern, groͤßern Werke
ſeyn kann. Das Wenige von Nachweiſung auf
Hiſtorie muß zufaͤllig hinein gekommen ſein.
Daruͤber koͤnnen wir uns nicht taͤuſchen, daß das
Ganze einen heitern modernen Anſtrich hat.
Die Bearbeitung dieſes erſten Theiles, ſagte
Wilibald, duͤnkt meinem Gehoͤr gleich einem
muſikaliſchen Stuͤcke mit ſeinen Variationen.
Derſelbe Satz, dieſelbe Aufgabe kehrt wieder,
und wird am Ende ziemlich willkuͤhrlich aufge-
loͤſt. Darum ſehen ſich die komiſchen Nebenfi-
guren aͤhnlich, und wenn nicht zuletzt die Eltern
wieder auftraͤten, und den Schluß mit dem An-
fang verknuͤpften, ſo beſtaͤnde das Stuͤck faſt
nur aus ſechs oder ſieben dialogirten Anekdoten.
Freilich hat in unſerer Welt ein durchgefallener
Autor nicht das Recht, denjenigen, der nicht ge-
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| Zitationshilfe: | Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/236>, abgerufen am 21.11.2024. |
