Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.Zweite Abtheilung. 1.Rath. Ich kann kaum mehr hören, so lärmet das Gesindel draußen. -- Nun, Herr Se- kretärs (Der Sekretär kömmt zurück.) Sekretär. Meine Herren Räthe, -- ich bin außer mir, -- so etwas ist hier auf unserm Saal, in diesem Rathhause noch nie erhört worden -- ich dachte erst, es wäre ein Comödienspiel, oder ein allegorischer Aufzug, aber es ist die Wirklichkeit. -- 1.Rath. Was ist es denn? Sekretär. Ich komme hinaus -- und sehe, -- und erstaune -- und weiß mich nicht zu fassen. 2.Rath. Sie wollen ohne Noth unsre Neu- gier spannen. -- Sekretär. Es giebt Augenblicke im Leben, wo sich unser Daseyn und unsre Seele wie zum Traum verflüchtigen, wo wir einen Blick thun in die Räthsel des Universums, und uns die Sylbe schon wie auf der Zungenspitze schwankt, und wir in Ahndung die Auflösung schon heraus kosten und schmecken möchten, die die Charade, die uns hie- nieden ängstigt, in ihrer nackten Blöße darlegen würde -- und diesen Zustand hab' ich jetzt erlebt. 1.Rath. Herr Belletrist, zur Sache! Las- sen Sie die neumodischen Aufstutzungen für Ihre gelehrte Gesellschaft. Sekretär. Sie werden nicht glauben, ja ihren Augen selbst nicht trauen. 2.Rath. Lieber, wir verlieren die Geduld. Sekretär. Ich komme hinaus, und sehe, -- was? halb schwebend, halb wandelnd, halb beklei- det, halb nackt, halb freundlich, halb ernst, auf einer rollenden Kugel, fliegend den Schleier, mit entblößten Schultern und Bein, ein weiblich Ge- Zweite Abtheilung. 1.Rath. Ich kann kaum mehr hoͤren, ſo laͤrmet das Geſindel draußen. — Nun, Herr Se- kretaͤrs (Der Sekretaͤr koͤmmt zuruͤck.) Sekretaͤr. Meine Herren Raͤthe, — ich bin außer mir, — ſo etwas iſt hier auf unſerm Saal, in dieſem Rathhauſe noch nie erhoͤrt worden — ich dachte erſt, es waͤre ein Comoͤdienſpiel, oder ein allegoriſcher Aufzug, aber es iſt die Wirklichkeit. — 1.Rath. Was iſt es denn? Sekretaͤr. Ich komme hinaus — und ſehe, — und erſtaune — und weiß mich nicht zu faſſen. 2.Rath. Sie wollen ohne Noth unſre Neu- gier ſpannen. — Sekretaͤr. Es giebt Augenblicke im Leben, wo ſich unſer Daſeyn und unſre Seele wie zum Traum verfluͤchtigen, wo wir einen Blick thun in die Raͤthſel des Univerſums, und uns die Sylbe ſchon wie auf der Zungenſpitze ſchwankt, und wir in Ahndung die Aufloͤſung ſchon heraus koſten und ſchmecken moͤchten, die die Charade, die uns hie- nieden aͤngſtigt, in ihrer nackten Bloͤße darlegen wuͤrde — und dieſen Zuſtand hab' ich jetzt erlebt. 1.Rath. Herr Belletriſt, zur Sache! Laſ- ſen Sie die neumodiſchen Aufſtutzungen fuͤr Ihre gelehrte Geſellſchaft. Sekretaͤr. Sie werden nicht glauben, ja ihren Augen ſelbſt nicht trauen. 2.Rath. Lieber, wir verlieren die Geduld. Sekretaͤr. Ich komme hinaus, und ſehe, — was? halb ſchwebend, halb wandelnd, halb beklei- det, halb nackt, halb freundlich, halb ernſt, auf einer rollenden Kugel, fliegend den Schleier, mit entbloͤßten Schultern und Bein, ein weiblich Ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0261" n="251"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/> <sp who="#1Rath"> <speaker>1.<hi rendition="#g">Rath</hi>.</speaker> <p>Ich kann kaum mehr hoͤren, ſo<lb/> laͤrmet das Geſindel draußen. — Nun, Herr Se-<lb/> kretaͤrs</p> <stage> <hi rendition="#et">(Der <hi rendition="#g">Sekretaͤr</hi> koͤmmt zuruͤck.)</hi> </stage> </sp><lb/> <sp who="#Sekretaͤr"> <speaker><hi rendition="#g">Sekretaͤr</hi>.</speaker> <p>Meine Herren Raͤthe, — ich bin<lb/> außer mir, — ſo etwas iſt hier auf unſerm Saal,<lb/> in dieſem Rathhauſe noch nie erhoͤrt worden — ich<lb/> dachte erſt, es waͤre ein Comoͤdienſpiel, oder ein<lb/> allegoriſcher Aufzug, aber es iſt die Wirklichkeit. —</p> </sp><lb/> <sp who="#1Rath"> <speaker>1.<hi rendition="#g">Rath</hi>.</speaker> <p>Was iſt es denn?</p> </sp><lb/> <sp who="#Sekretaͤr"> <speaker><hi rendition="#g">Sekretaͤr</hi>.</speaker> <p>Ich komme hinaus — und ſehe,<lb/> — und erſtaune — und weiß mich nicht zu faſſen.</p> </sp><lb/> <sp who="#2Rath"> <speaker>2.<hi rendition="#g">Rath</hi>.</speaker> <p>Sie wollen ohne Noth unſre Neu-<lb/> gier ſpannen. —</p> </sp><lb/> <sp who="#Sekretaͤr"> <speaker><hi rendition="#g">Sekretaͤr</hi>.</speaker> <p>Es giebt Augenblicke im Leben,<lb/> wo ſich unſer Daſeyn und unſre Seele wie zum<lb/> Traum verfluͤchtigen, wo wir einen Blick thun in<lb/> die Raͤthſel des Univerſums, und uns die Sylbe<lb/> ſchon wie auf der Zungenſpitze ſchwankt, und wir<lb/> in Ahndung die Aufloͤſung ſchon heraus koſten und<lb/> ſchmecken moͤchten, die die Charade, die uns hie-<lb/> nieden aͤngſtigt, in ihrer nackten Bloͤße darlegen<lb/> wuͤrde — und dieſen Zuſtand hab' ich jetzt erlebt.</p> </sp><lb/> <sp who="#1Rath"> <speaker>1.<hi rendition="#g">Rath</hi>.</speaker> <p>Herr Belletriſt, zur Sache! 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Zweite Abtheilung.
1.Rath. Ich kann kaum mehr hoͤren, ſo
laͤrmet das Geſindel draußen. — Nun, Herr Se-
kretaͤrs (Der Sekretaͤr koͤmmt zuruͤck.)
Sekretaͤr. Meine Herren Raͤthe, — ich bin
außer mir, — ſo etwas iſt hier auf unſerm Saal,
in dieſem Rathhauſe noch nie erhoͤrt worden — ich
dachte erſt, es waͤre ein Comoͤdienſpiel, oder ein
allegoriſcher Aufzug, aber es iſt die Wirklichkeit. —
1.Rath. Was iſt es denn?
Sekretaͤr. Ich komme hinaus — und ſehe,
— und erſtaune — und weiß mich nicht zu faſſen.
2.Rath. Sie wollen ohne Noth unſre Neu-
gier ſpannen. —
Sekretaͤr. Es giebt Augenblicke im Leben,
wo ſich unſer Daſeyn und unſre Seele wie zum
Traum verfluͤchtigen, wo wir einen Blick thun in
die Raͤthſel des Univerſums, und uns die Sylbe
ſchon wie auf der Zungenſpitze ſchwankt, und wir
in Ahndung die Aufloͤſung ſchon heraus koſten und
ſchmecken moͤchten, die die Charade, die uns hie-
nieden aͤngſtigt, in ihrer nackten Bloͤße darlegen
wuͤrde — und dieſen Zuſtand hab' ich jetzt erlebt.
1.Rath. Herr Belletriſt, zur Sache! Laſ-
ſen Sie die neumodiſchen Aufſtutzungen fuͤr Ihre
gelehrte Geſellſchaft.
Sekretaͤr. Sie werden nicht glauben, ja
ihren Augen ſelbſt nicht trauen.
2.Rath. Lieber, wir verlieren die Geduld.
Sekretaͤr. Ich komme hinaus, und ſehe, —
was? halb ſchwebend, halb wandelnd, halb beklei-
det, halb nackt, halb freundlich, halb ernſt, auf
einer rollenden Kugel, fliegend den Schleier, mit
entbloͤßten Schultern und Bein, ein weiblich Ge-
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